Welche Bedeutung hatte der Bau der Versöhnungskirche 1967?

Mensing: Der Bau einer evangelischen Gedenkkirche war von Anfang an verbunden mit der Idee, an alle NS-Verfolgte zu erinnern, gleich welcher Konfession, Gruppenzugehörigkeit oder Herkunft. Das war 1967 ein Meilenstein. In den ersten Jahren nach 1945 war es üblich, dass Organisationen nur an die eigenen Opfer erinnerten. Aber ein separates Gedenken führt dazu, dass Abgrenzungen verstärkt werden. Erst wenn man im Erinnern die Grenzen überschreitet, kann man Feindbilder überwinden. Ein zweiter Punkt war, dass durch den Bau der Versöhnungskirche die Auseinandersetzung mit den kirchlichen Verstrickungen in der NS-Zeit erst begann. Diese selbstkritische Sicht war 1967 im deutschen und bayerischen Protestantismus nicht mehrheitsfähig. Die Versöhnungskirche war da ein Stachel im Fleisch.

 

Welche Aufgabe hat die Versöhnungskirche 50 Jahre nach ihrer Gründung?

Mensing: Es ist immer noch unser theologischer Auftrag, an die bis heute vergessenen NS-Opfer zu erinnern. Zum Beispiel an die als sogenannte Asoziale oder Berufsverbrecher stigmatisierten Menschen, die mit dem schwarzen oder dem grünen Winkel gekennzeichnet waren. Das Matthäusevangelium nennt Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Fremde beherbergen, Kranke und Gefangene besuchen. Aber das ist keine abschließende Aufzählung. An Menschen zu erinnern, denen Unrecht geschah und die vergessen wurden, gehört für mich auch dazu. Auch die Versöhnungarbeit ist immer noch Aufgabe der Versöhnungskirche. Nur können wir Versöhnung nicht als festen Programmpunkt ankündigen – das wäre anmaßend. Wir können lediglich Orte und Gelegenheiten schaffen, damit sich Versöhnung ereignen kann. Und das geschieht bis heute.

 

Wie aktuell ist Erinnerungsarbeit?

Mensing: Indem wir an die Menschen erinnern, die damals ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurden, richten wir automatisch den Blick auf die Ausgegrenzten, Diskriminierten und Verfolgten der Gegenwart. Das gehört unmittelbar zusammen im Sinne des "Nie wieder!", das uns die überlebenden Häftlinge als Vermächtnis hinterlassen haben. Der Zusammenhang ist so klar: Das Asylrecht ist ins Grundgesetz gelangt aus der historischen Erfahrung, dass Nazi-Verfolgte in anderen Ländern kein Asyl gefunden haben und nach Deutschland abgeschoben wurden. Hier kamen sie oft direkt ins Konzentrationslager – gekennzeichnet mit dem blauen Winkel für Emigranten. Deshalb hat unser Asylrecht Verfassungsrang! Dass es derzeit immer stärker eingeschränkt wird, ist bedenklich.