Warum fällt der Eintritt ins Rentenalter manchen Menschen schwer?

Wunibald Müller: Weil es tatsächlich eine Zäsur ist, in der vieles von dem wegfällt, was unser Leben bisher ausgemacht hat, von unserer Bedeutung und worüber wir uns definiert haben. Dazu kommt, dass mit dem Ruhestand ein wichtiges Beziehungsnetz wegfällt, was auch schon ein großer Verlust ist.

Wie sollte man am besten damit umgehen?

Müller: Dass man sich bewusst macht: Es geht etwas zu Ende, aber es beginnt auch etwas Neues. Denn das Leben geht jetzt nicht zu Ende, sondern weiter, gegebenenfalls sogar mit mehr Möglichkeiten, das zu tun, was wir tun wollten, aber ein Leben lang nicht tun konnten.

Welche Chancen sind das, die sich da bieten?

Müller: Die Chance, Beziehungen noch einmal neu zu gestalten. Zu schauen, welche Beziehungen aufrechterhalten werden sollen und auf welche verzichtet werden kann. Die Chance der größeren Auseinandersetzung mit sich selbst, unabhängig vom Beruf:

Wer bin ich, und was macht meinen Wert aus?

Möglicherweise mit der schmerzvollen Auseinandersetzung, dass in bestimmten Fällen der Beruf auch für ein geringes Selbstwertgefühl herhalten musste. Dieser Wechsel ermöglicht es, der inneren Person des Selbst mehr Raum zu geben. Das kann heißen, zu meditieren, beten, Imaginations- und Traumarbeit zu leisten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Jetzt kommen die Menschen aber aus der Rushhour des Lebens und sollen auf Knopfdruck Innenschau betreiben. Kann das gut gehen?

Müller: Ja, wenn ich mir Zeit lasse. Aber es ist jetzt einfach dran: nach innen zu schauen. Mich mit meiner Endlichkeit auseinanderzusetzen. In dem Moment, wo ich erkannt habe, dass diese Auseinandersetzung mir hilft, mit meiner Innenseite in Berührung zu kommen, wo Dinge wie Reichtum, Erfolg und Gesundheit relativiert werden, ist das eine gute Vorbereitung für das Loslassen. Dann kann ich mich darauf einstellen, dass die Sonne in meinem Leben am Sinken ist, ich mich am Abend meines Lebens befinde und das gut so ist. Bis dahin, dass ich es sogar genießen kann.

Was bedeutet das, sein "Passwort" im Leben zu finden?

Müller: Romano Guardini, von dem das Bild stammt, sagt, dass in diesem Passwort unsere Berufung oder auch Bestimmung zum Ausdruck kommt. Es ist wichtig, immer mehr die zu werden, die wir werden sollten. Der Mystiker Thomas Merton geht sogar so weit zu sagen: Heiligkeit bedeutet: 'Derjenige zu werden, der zu werden du berufen und bestimmt bist. Und wer nicht er selber wird, hat nicht gelebt.' Zunächst einmal sollte immer klarer werden, wer ich bin und was ich will. Es ist der Aufruf im Alter, wo ich nicht mehr gezwungen bin, aus wirtschaftlichen Gründen etwas zu tun, was ich gar nicht will und was auch gar nicht meinem Passwort entspricht, das jetzt zu tun. Sich mit Seiten von sich zu versöhnen und zu verwirklichen, zum Beispiel mit seiner künstlerischen Seite. Damit wird, was werden soll, wir ganz werden.

Fehlen Vorbilder in der Gesellschaft für ein Älterwerden in Würde?

Müller: Angesichts einer Anti-Aging-Kultur befürchte ich, ja. Doch wenn man sucht, findet man sie. Zum Beispiel bei den Mönchen, die treu bis zum Schluss ihrem gewohnten Rhythmus gemäß leben. Mir fallen auch ganz bestimmte Personen ein: der Schriftsteller Heinrich Böll, wie er an einem Feldweg entlanggeht. Davon geht für mich etwas Schönes und Sehnsuchtsvolles aus. Oder der Tiefenpsychologe C. G. Jung mit über 70 Jahren, der ein altes, nachdenkliches Gesicht hat und klare helle Augen. Da habe ich überhaupt keine Angst, alt zu werden.

Vorbilder können auch alte Menschen sein, die gar nichts Besonderes sein müssen, die eine Zufriedenheit ausstrahlen, von denen etwas Schönes ausgeht.

Bei denen man den Eindruck hat, dass sie tatsächlich wieder wie Kinder sind, die gelassen und zuversichtlich der Zukunft, dem Ende entgegenhüpfen.

Warum besteht überhaupt eine Spaltung zwischen leistungsfähiger Berufstätigkeit und Zurückgezogenheit im Alter?

Müller: Das ist leider oft so, muss es aber nicht sein. Deshalb gefällt mir C. G. Jungs Bild von der Person Nummer eins, mit der wir in der Welt stehen, und der Person Nummer zwei, die ich in meinem Inneren bin. Solange ich auf der Welt bin, ist die Person Nummer eins wichtig: Ich muss meinen Mann, meine Frau stehen, mich politisch engagieren, entsprechend meinen Möglichkeiten etwas leisten. Das steht zunächst im Vordergrund. Je älter ich werde, desto wichtiger ist es aber auch, sich mehr Zeit dafür zu nehmen, sich zurückzuziehen und nach innen zu gehen, sich auf seine Träume zu konzentrieren. Da eine gute Balance zwischen den Bedürfnissen von Person Nummer eins und Person Nummer zwei zu finden, darin liegt die Kunst.