Seit 1. Juni ist Thorsten Nolting Vorstand der Inneren Mission München. Der 56-jährige Theologe hat 18 Jahre lang die Diakonie Düsseldorf geleitet und dort in seinen letzten Arbeitswochen noch unter Hochdruck die Corona-Hilfe für Bedürftige organisiert.

Erst einen Tag vor Dienstbeginn kam der kunstaffine Diakoniepfarrer in der bayerischen Landeshauptstadt an – und nähert sich der Stadt nun auf seinen täglichen Joggingrunden. Wenn das Schuljahr in Nordrhein-Westfalen beendet ist, folgt Noltings Frau mit den 14 und 16 Jahre alten Kinder vom Rhein an die Isar.

Herr Nolting, Sie sind erst seit zwei Wochen in München. Wie erschließen Sie sich die Stadt?

Nolting: Jeden Morgen gehe ich etwa 10 Kilometer laufen, um ein Gespür für die Stadt zu bekommen. Ich versuche, etwas durch den Vorhang zu schauen: Ist hier wirklich alles so stattlich? Wenn man zum Beispiel in Hamburg joggt, sieht man in den Grünanlagen viele osteuropäische Wanderarbeiter zelten. Hier sieht man vielleicht mal einen. München wirkt auf mich sehr aufgeräumt. Bei der Inneren Mission haben wir große Arbeitsbereiche für Geflüchtete und für Obdachlose. Ich möchte verstehen, was wir wie tun und bei meinen Erkundungsläufen herausfinden, wo und wie sich das in der Stadt zeigt.

Wie hat es sich denn in Düsseldorf gezeigt?

Nolting: Düsseldorf ist eine ganz normale Stadt mit zwei oder drei herausgehobenen, sogenannten besseren Vierteln, dazwischen ist rheinischer Ruhrpott. Dort in den sozialen Brennpunktvierteln hat der Edeka zu, die Bücherei hat zu, die Kirche hat zu. Die Institutionen verlassen den Ort und es geht immer weiter abwärts. Mittlerweile tut die Stadtregierung auch etwas dagegen. Gibt es solche Viertel in München? Ich habe bislang nicht den Eindruck.

Es sieht so aus, als würde hier eine kluge Sozialpolitik gemacht, die für eine starke soziale Infrastruktur sorgt.

Wenn das in einer 1,5 Millionen-Einwohnerstadt gelingt, zeigt das eine gute Haltung gegenüber sozialen Fragen. Das heißt aber nicht, dass es die allgemeinen sozialen Problemlagen, Benachteiligungen und Ausgrenzungen in der Stadt nicht gibt.

Sie waren 18 Jahre lang Diakoniepfarrer und Vorstand der Diakonie Düsseldorf. Was ist für Sie das Wesen von Diakonie?

Nolting: Diakonie unterstützt den Einzelnen, damit er die Chancen ergreifen kann, die er für sich selber sucht und will. Auf die Gemeinschaft bezogen stärkt Diakonie das Miteinander, denn in ihr erlebt sich das Individuum als soziales Wesen und holt sich im besten Fall neue Energie. Diakonie bringt mit der Nächstenliebe als Gestaltungskraft etwas ein, das von der Ortsgemeinde bis hin zur offenen Gemeinwesenarbeit wirkt.

 

 

Thorsten Nolting
"Menschen brauchen ein offenes Ohr für ihre seelischen Belastungen": Thorsten Nolting wünscht sich ein gutes Zusammenspiel von Kirche und Diakonie.

In Ihrer Abschiedspredigt in Düsseldorf haben Sie gesagt: „Beten ist nicht der Ersatz für eigenes Handeln.“ Wie muss das Verhältnis von Kirche und Diakonie sein?

Nolting: Wer sich nach dem Gebot der Nächstenliebe ausrichtet, für den ist Diakonie in den eigenen Handlungsmustern permanent präsent. Auch Seelsorge ist diakonisches Handeln. Es liegt Menschen auf der Seele, wenn sie hohe Schulden haben. Sie brauchen dann eine Beratung, wie sie die Schulden wieder loswerden. Und sie brauchen ein offenes Ohr für ihre seelische Belastung. Diakonie und Kirche haben sich zwar funktional ausdifferenziert, spielen aber ineinander. Im besten Fall gibt es im Erleben der Menschen ein Zusammenwirken und Verweisen von Kirche und Diakonie.

Sie haben in Düsseldorf oft mit Künstlern zusammengearbeitet. Was kann Diakonie von Kunst lernen?

Nolting: Seit den 1960er-Jahren haben sich Künstler das Soziale als Material ausgewählt. Sie können mit ihren Ideen frei in ein Themenfeld reingehen. Das kann soziale Arbeit nicht, denn sie muss verlässliche Angebote auf fachlich höchstem Niveau machen, für die Menschen, die sich mit einer Not an uns wenden. Aber:

Kunst kann Diakonie als Institution befragen,

und uns dazu bringen, uns zu vergewissern, welche Dinge wirklich wichtig sind für uns. Beuys hat gesagt: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Damit hat er nicht gemeint, dass wir alle zu Leinwand und Pinsel greifen sollen. Sondern dass wir alle die Gesellschaft als soziale Plastik mitgestalten.

Was reizt Sie an München und der Inneren Mission?

Nolting: München ist neben Berlin, Hamburg und Köln eine der Großstädte, die die Öffentlichkeit und das Bild von Deutschland prägen. Vieles entscheidet sich hier, auch die Bedeutung und die Form des Christentums. Ich hoffe in der Stadt und bei der Inneren Mission auf Innovations- und Experimentierfreude in Kooperationen im Digitalen, mit der Kultur, den Hochschulen und der Wirtschaft.

 

Thorsten Nolting
"Man muss auch mal krachend verlieren können": IM-Chef Nolting ist Fußballfan und Mitglied von Fortuna Düsseldorf.

Zu den größten sozialen Fragen in München gehören derzeit die Wohnungsnot und die Schere zwischen Arm und Reich. Kann die Innere Mission sich in alle Themen einspreizen?

Nolting: Grundsätzlich übernimmt Diakonie eine hohe Verantwortung für das Gemeinwesen, wir sind für alle Notlagen ansprechbar. Im konkreten Fall halte ich Kooperationen mit den anderen Wohlfahrtsverbänden sowie Aushandlungsprozesse mit den Fachstellen der Stadt, vor allem mit der Stadtplanung für enorm wichtig.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie lassen sich derzeit nur erahnen. Worauf stellen Sie sich ein mit Blick auf die Angebote von Diakonie?

Nolting: Ich gehe davon aus, dass es in den EU-Ländern einen starken Anstieg von Arbeitslosigkeit geben wird. Als stärkste Volkswirtschaft könnte Deutschland dann das Ziel vieler Arbeitssuchenden sein. So eine europäische Migrationsbewegung wird uns sehr anstrengen, zumal es auch bei uns Unternehmen geben wird, die Corona zum Anlass nehmen oder nehmen müssen, um Personal abzubauen. Das kann einen gewissen Unfrieden bringen, und es kann bestehende Themen wie die Wohnungsnot in den Großstädten noch verstärken. Auch der Digitalisierungsschub wirft soziale Fragen auf.

Die Entkörperlichung ist weit fortgeschritten, gerade in der Jugendhilfe merken wir das.

Dort haben wir mittlerweile „Raufen“ als pädagogische Maßnahme, weil die Kinder das in ihrem Alltag nicht mehr erleben. Für sie ist das Virtuelle real geworden. Das Problem ist die fehlende Körperlichkeit von Begegnungen.

Sie sind Mitglied bei Fortuna Düsseldorf, der Verein kämpft gerade um den Klassenerhalt in der 1. Bundesliga. Jetzt leben Sie in der Stadt des Rekordmeisters, der Fortuna zuletzt 5:0 besiegt hat. Wie geht es Ihrer Fußballfan-Seele?

Nolting: Als ich vor vielen Jahren nach Saarbrücken gezogen bin, ist Saarbrücken abgestiegen. Und bei meinem Umzug nach Düsseldorf ist die Fortuna abgestiegen. Ich würde sagen: Der FC Bayern muss aufpassen. Im Ernst: Als Fortuna-Fan ist es für mich unvorstellbar zu meinen, man müsse immer gewinnen. Zum leidenschaftlichen Mitfiebern gehört es dazu, auch mal krachend zu verlieren.