Gebärdensprache, wie sie vor allem von hörbehinderten Menschen verwendet wird, setzt Begriffe in Gesten um. Die sind weltweit gleich, könnte man meinen. Weit gefehlt: "Auf der Welt gibt es schätzungsweise 200 bis 400 verschiedene Gebärdensprachen", sagt der promovierte Stuttgarter Linguist Fabian Bross. Ganz genau wisse man die Zahl nicht, weil zu wenig darüber geforscht werde. Die Sprachen unterscheiden sich in den Gesten, die sie verwenden - und in ihrer Grammatik.

Die Universität Stuttgart ist nach eigenen Angaben im süddeutschen Raum die einzige, die linguistische Forschung zu Gebärdensprachen betreibt. Bross ist der Experte dafür. Ihn interessiert, welche Denkmuster die Grammatik von Sprachen antreiben. Dabei hat er vor allem die süddeutsche Variante der Deutschen Gebärdensprache im Blick, wie sie in Bayern und Baden-Württemberg verwendet wird. In Zukunft würde er aber auch gern die Jugendvariation der Gebärdensprache untersuchen.

Gebärdensprache weltweit

Zum Teil sei es durchaus so, dass jemand, der die Deutsche Gebärdensprache verwendet, auch jemanden verstehen könne, der etwa die Japanische Gebärdensprache verwendet. Das gelte beispielsweise für die Gebärde für "trinken" - das ist eine Bewegung, die das zum-Mund-führen einer Tasse mit Henkel imitiert. "Aber eine komplexe Unterhaltung über abstrakte Themen können diese beiden Personen trotzdem nicht führen", sagt Bross.

Die Verständigungsgrenzen seien schon innerhalb Deutschlands spürbar, erläutert er. Das betreffe beispielsweise die Gebärden selbst: "In den eher katholisch geprägten Teilen Deutschlands wird die Gebärde für Sonntag mit zwei aneinandergelegten Gebetshänden gebildet, und in den eher protestantisch geprägten Gebieten streift man vom Hals an über die Brust, was an das Beffchen evangelischer Geistlicher erinnert."

Es gebe aber auch für Laien unauffälligere Unterschiede, nämlich in der Grammatik, etwa in der Wortstellung oder in der Art, wie eine Verneinung ausgedrückt wird.

"Gebärdensprachen sind visuelle, eigenständige Sprachen mit einer komplexen Grammatik, die sich häufig stark von der sie umgebenden Lautsprache unterscheiden", sagt der Wissenschaftler.

Als Beispiel nennt er, dass die Deutsche Gebärdensprache keine Zeiten kennt. Zu "sprechen" etwa gibt es kein "sprach" oder "wird sprechen". Stattdessen wird es mit "gestern" oder "morgen" kombiniert. "So verfahren übrigens auch manche gesprochenen Sprachen, etwa das Chinesische", erklärt der Linguist.

Eine harte Nuss zu knacken war für Sprachwissenschaftler ein Phänomen der Deutschen Gebärdensprache, das sie "differenzielle Objektmarkierung" nennen. Die gibt es zwar etwa im Spanischen, Türkischen oder in afrikanischen Sprachen, im gesprochenen Deutsch aber kaum.

"Differenzielle Objektmarkierung" bedeutet, dass es im Satzbau einen Unterschied macht, ob das Objekt "belebt" ist oder nicht, und ob es ein bestimmtes oder unbestimmtes Objekt ist. In der Deutschen Gebärdensprache hängt diese Objektmarkierung zusammen mit einer Geste, die von den Linguisten als "AUF" benannt wird, aber nicht zwangsläufig mit dem gesprochenen "auf" übersetzt werden kann, sondern einen Bezug darstellt.

Unterschiede in der Gebärdensprache

So wird die Gestenkombination "Paul - AUF - Maria - sauer" übersetzt, wie Lautsprachler es als logisch empfinden: "Paul ist auf Maria sauer". Aber "Maria AUF Paul kennen" muss übersetzt werden als "Paul kennt Maria". Denn in dem Fall ist AUF kein Hilfsverb, sondern beschreibt den Bezug Pauls zu einem konkreten und belebten Wesen - nämlich Maria. "Will man sagen, dass Paul Stuttgart kennt, kann man AUF nicht verwenden", erklärt der Wissenschaftler.

Alles deute darauf hin, dass es sich bei AUF um eine Gebärde handle, deren einzige Funktion es ist, belebte Objekte zu markieren. "Das bedeutet, dass die Deutsche Gebärdensprache vollkommen unabhängig von der deutschen Lautsprache ein System entwickelt hat, das wir aus vielen anderen, für uns teilweise sehr exotischen Sprachen, kennen", schlussfolgert Fabian Bross.