Inge Rosenberger aus Kleinkahl bei Aschaffenburg spricht von einem einfach unlösbaren Dilemma. Eigentlich sehnt sie sich sehr nach Entlastung. Weshalb sie die Notbetreuung gern in Anspruch nehmen würde. Doch die Angst, dass ihre Tochter Annika an Covid-19 erkranken könnte, ist riesig. Denn das Virus hätte fatale Folgen für die 36-Jährige.

Annika versteht nicht, dass es derzeit wichtig ist, einen Sicherheitsabstand zu anderen Menschen einzuhalten. Sie kann auch keinen Mundschutz tragen. Rett-Syndrom nennt sich die Entwicklungsstörung, an der die junge Frau leidet. Durch die Krankheit ist Annika schwer mehrfachbehindert. Deshalb gehört sie zur Risikogruppe. Obwohl sie seit Wochen, wie sie sagt, keine ruhige Minute mehr hat, kümmert sich Inge Rosenberger weiter um ihre Tochter. Den ganzen Tag. Und oft auch nachts.

Notbetreuung für Menschen mit Behinderung in Corona-Zeiten

Einmal war Annika bisher in der Notbetreuung der Aschaffenburger Tagesförderstätte, die sie normalerweise besucht. Für Ende Mai hat die Familie einen zweiten Notbetreuungstermin erhalten. Das Team der Tagesförderstätte ruft jede Woche an, um sich zu erkundigen, wie es Inge und Annika Rosenberger geht.

Für Eltern, die gar keine physischen und psychischen Reserven mehr haben, bieten Tagesförderstätten und Heilpädagogische Tagesstätten überall in Bayern seit Anfang April Notbetreuungen an. Dies geschieht auch im oberbayerischen Behandlungszentrum Aschau GmbH. Das Zentrum trägt drei Tagesstätten in Aschau, Piding und Ruhpolding. An jedem Standort werden regulär rund 100 Kinder im Anschluss an den Schulunterricht betreut. Jetzt sind es durchschnittlich 15.

Etliche Eltern schicken ihre Kinder noch nicht, weil sie große Angst haben, dass sie sich anstecken könnten, berichtet Günther Mayer vom Behandlungszentrum. Kinder unter Corona-Bedingungen zu betreuen, ist vergleichsweise schwierig, gibt Mayer unumwunden zu. Zwar ist es sein Team gewohnt, mit herausfordernden Situationen umzugehen. Doch nun sollen Hygienevorschriften eingehalten werden, die unmöglich einzuhalten sind.

Kinder, die ein schweres geistiges und oft auch noch körperliches Handicap haben, sabbern zum Beispiel öfter: Manchmal kommt es auch dazu, dass sie spucken. Viele tolerieren keinen Mundschutz: Mitunter wird der Mundschutz der Mitarbeiter beim Spielen heruntergezogen. Alle Eltern, deren Kinder in Dreiergruppen in einer der Tagesstätten notbetreut werden, wissen darum. Und akzeptieren das.

Mayer ist froh, dass die Quote der Kinder, die notbetreut werden, noch niedrig ist. Doch das könnte sich nach den Pfingstferien ändern. Dann soll die Schule für jeweils die Hälfte der Kinder wieder losgehen. Wir achten genau darauf, dass wirklich nur die drei oder höchstens vier Kinder einer Gruppe in unseren Tagesstätten mit festen Mitarbeitern zusammen sind. Das Konzept würde zunichtegemacht, würden die Kinder ab Juni in einer anderen Konstellation mit dem Bus geholt.

Tagesstätten kämpfen mit Hygiene-Vorschriften zu Corona

Auf welche Weise man größtmögliche Hygiene in Tagesstätten erreichen kann, dazu gibt es derzeit Tausende Hinweise, Regeln und Vorschriften. Bernhard Germer von der Lebenshilfe Aschaffenburg braucht täglich fast drei Stunden, um alles zu sichten. Was wir erleben, ist keine Informationsflut mehr, sondern ein Informations-Tsunami, sagt er. Eben erhielt er eine zehnseitige Datei der Landesunfallkasse Bayern. Sie beinhaltete 14 Links: Ein Link führte zu einem Pandemieplan, der seinerseits 98 Seiten umfasst. Letztlich, sagt er, sei es absolut unmöglich geworden, sich hundertprozentig korrekt zu verhalten: Man läuft Gefahr, die Orientierung zu verlieren.

Dass gerade behinderte Kinder gut geschützt werden müssen, daran ist nicht zu zweifeln, meint Gerhard Seitz, Leiter des Bereichs Kinder und Jugendliche bei der Lebenshilfe im oberpfälzischen Neumarkt. Doch der Infektionsschutz müsse immer auch gegen individuelle Entwicklungsrisiken abgewogen werden. Für einige Kinder, so Seitz, kann es sehr negative Folgen auf die Entwicklung haben, wenn sie viele Wochen lang nicht mehr in die Heilpädagogische Tagesstätte gehen und also nicht mehr gefördert werden.

Was bayerische Eltern, die sich in WhatsApp-Gruppen austauschen, bestätigen. Sie beschreiben etwa, wie sich das Verhalten ihrer Kinder allmählich negativ verändert. Ein offenes Ohr finden Eltern bei den Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungen, die es überall in Bayern gibt.

Im unterfränkischen Gemünden berät Sylvia Glassen. Die momentane Situation bringt Eltern mit behinderten Kindern an ihre psychischen und körperlichen Grenzen, sagt sie. Besonders überlastet seien Eltern mit behinderten Kindern, die selbst eine Behinderung oder chronische Erkrankung haben. Die Pflege sei nun noch aufwendiger.

Die Energie für die Betreuung der Kinder ist auch dann schnell aufgebraucht, wenn die Lebensumstände prekär sind, schildert Thomas Reinsdorf, der die Heilpädagogische Tagesstätte des Vereins Kinderschutz München leitet. Hier werden regulär rund 30 von seelischer Behinderung bedrohte Kinder betreut. Fast alle Eltern haben sich entschieden, ihr Kind in der Krise weiterbetreuen zu lassen. Ein Teil der Kinder stammt aus Familien mit Suchtproblematik, einige Familien leben unter beengten Wohnverhältnissen, auch Arbeitslosigkeit oder Gewalt zählen zu den Belastungsfaktoren. Was sie in der Krise bisher erlebt haben, ist für manche Eltern sehr niederdrückend gewesen, heißt es von der Initiative Offene Behindertenarbeit - evangelisch in der Region München (OBA).

Viele Familien hofften nun, dass ihre Situation nach Abklingen der Pandemie besser wird, als sie bisher war, so Mitarbeiterin Elisabeth Krauss: Sie wünschen sich künftig flexiblere Betreuungsmöglichkeiten und weniger Stress in der Schule.