Die Corona-Krise und der Klimawandel sind eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit. Welche Antworten bietet hier die Religion? Der Nürnberger Pfarrer Thomas Zeitler ist der Überzeugung, dass die Befreiungstheologie wichtige Impulse für einen Wandel liefern kann. Denn diese Bewegung verbindet Solidarität mit spirituellem Widerstand.

Warum sich heute mit Befreiungstheologie beschäftigen?

Zeitler: Diese Bewegung linker Theologie gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert. Damals wollten religiöse Sozialisten ein Reich Gottes auf Erden bilden, also ein Optimum an Friede, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ermöglichen. In den 1960er Jahren in Lateinamerika sah sich die Kirche mit Militärdiktaturen konfrontiert. In diesem Konflikt positionierte sie sich gegen die Machthaber und stellte sich auf die Seite der armen, unterdrückten und indigenen Bevölkerung.

Allerdings war sie starken Angriffen ausgesetzt, weil sie Gemeinsamkeiten mit marxistischen Theorien und sozialistischen Parteien hatte. Vor allem Joseph Ratzinger als damaliger Präfekt der Glaubenskongregation versuchte, die Befreiungstheologie auszuschalten. Durch die Solidaritätsbewegungen gegen die Militärdiktaturen in Argentinien, Nicaragua und anderswo kam der Gedanke der Befreiungstheologie auch nach Europa. Man versuchte, eine aktive Kirche "von unten" zu sein.

Was hat die Befreiungstheologie mit uns heute zu tun?

Zeitler: Im Europa des 21. Jahrhunderts müssen wir uns die Frage stellen: Wer sind hier die Unterdrückten, wer braucht Befreiung? Da sind die aus der Gesellschaft ausgegrenzten: prekär beschäftigte Lohnabhängige, MigrantInnen, Menschen mit psychischer Erkrankung, die nicht der "Norm" entsprechen. In unserer kirchlichen Lebenswelt treffen wir hingegen die Mittelschicht in unseren Kirchen an. Da ist es wichtig, sich von Privilegien zu befreien und beständige Selbstkritik zu üben: Wo schränkt mein Lebensstil jemand anderen regional oder global ein?

Fehlt es an Gerechtigkeit?

Zeitler: Eine Kontinuität sehe ich in der Frage nach einem gerechten Wirtschaftssystem. Der Neoliberalismus, der mit der Pinochet-Diktatur in Chile und den sogenannten "Chicago Boys" seinen Anfang nahm, beherrscht unser ökonomisches Denken bis heute. Die Finanzkrise von 2008 hat an der Anbetung der freien Märkte nichts geändert. Wird dieses neoliberale System auch nach der Corona-Krise weiterbestehen?

Dass sich die Wirtschaft nach der Politik zu richten hat, konnte man am kompletten Herunterfahren des Systems durch den Lockdown sehen. Es gibt alternative Wirtschaftsmodelle. Aber ich sehe keine Durchsetzungskraft in Politik oder Kirche, kein energisches einfordern. Die oberflächlichen Korrekturen, die seitens der Politik gemacht worden sind, verdanken wir vielmehr dem Engagement von Fridays for Future und Co. im vergangenen Jahr.

Neu ist aus befreiungstheologischer Sicht die ökologische Krise. Mit dem verschwenderischen Konsum unserer Wegwerfgesellschaft gefährden wir das Überleben aller Lebewesen auf dem Planeten. Leonardo Boff, ein katholischer Befreiungstheologe, spricht deswegen auch von der "Befreiung der Schöpfung", der wir uns verpflichten müssen. Er ist auch Co-Autor der Umwelt-Enzyklika "Laudato si’" von Papst Franziskus. Er prägte die katholische Sicht auf Klimaschutz und soziale Ungleichheit. Ein wichtiges Thema für die evangelische Kirche wird sein, wie sich Befreiung und Klimabewegung in Kontakt bringen lassen.

Was hängt unser Wirtschaftssystem mit Corona zusammen?

Zeitler: Die Globalisierung mit ihren weltweiten Verkehrs- und Warenströmen hat die Ausbreitung von Corona ja erst ermöglicht. Die Viren reisten mit Flugzeug-Airlines um den Globus und verteilten sich so in der ganzen Welt. In vielen Ländern trafen sie auf ein kaputt gespartes Gesundheitssystem. Krankenhäuser müssen im neoliberalen Denken Gewinne abwerfen oder werden aus Kostengründen geschlossen. Aber auch die ökologische Frage spielt hier wieder rein. Wenn der Mensch die geschützten Habitate der Tiere vernichtet und so in früher unberührte Lebensräume einbricht, ist eine Virusübertragung vom Tier auf den Menschen viel wahrscheinlicher.

Welche Gegenentwürfe gibt es für die Zeit nach Corona?

Der Jesuit Jörg Alt hat in seinem Buch "Handelt! Ein Appell an Christen und Kirchen, die Zukunft zu retten" drei Ebenen dargestellt. Zum einen das individuelle Handeln, also wie ich durch meinen Konsum und mein Mobilitätsverhalten mit Ressourcen umgehe. Im globalen Maßstab gibt es die Art des Wirtschaftens, ob ausbeuterisch und profitorientiert oder nachhaltig. Dazwischen jedoch liegt die Schnittstelle, die er mit "Demokratie" bezeichnet. Das ist ein gesellschaftlicher Steuerungsprozess, der alle Beteiligten mitnehmen soll, indem er ihnen das Gefühl vermittelt: "Ich bin aktiver Teil einer wichtigen Veränderung".

In Deutschland hat diese aktive Selbstverantwortung während der Ausgangsbeschränkungen sehr gut funktioniert. Allerdings bedeutet dieser Veränderungsprozess auch, Lebensräume zu schaffen, in denen Spielräume für Viele geschaffen werden. Eine Gesellschaft, in der sich alle einbringen und verwirklichen können.

Und wie soll das konkret aussehen?

Ein wichtiger Teil dieser neuen Gesellschaft ist meiner Ansicht nach der Verzicht. Die Menschen werden erkennen, dass grenzenloser Konsum nicht Freiheit bedeutet. Durch saisonales Gemüse vor Ort mache ich mich von internationalen Agrarmärkten unabhängig und stärke den Bio-Bauernhof aus der Region.

Diese kooperative Einsicht als Graswurzelbewegung von unten ist der Nährboden, auf dem ein nachhaltiges und umweltverträgliches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem aufgebaut werden muss.

 

Der Beitrag entstand im Rahmen eines Seminars mit dem Titel: "Online-Journalismus in der Praxis: Wie Religionen in Zeiten von Corona den digitalen Raum nutzen & innovative Ideen entwickeln" im Rahmen des Masterstudiengangs "Medien - Ethik - Religion" an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen.