+ Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist ein alternatives Wirtschaftsmodell, das statt Gewinnmaximierung ethische Faktoren wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Solidarität in den Vordergrund unternehmerischen Handelns rückt. Ziel ist eine "ethische Marktwirtschaft". Im Idealfall könnten laut GWÖ Unternehmen mit Gemeinwohl-Bilanz Steuererleichterungen bekommen oder bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt werden. Die Bewegung beruft sich auf bestehendes Recht, etwa auf Artikel 14 im Grundgesetz. Dort heißt es: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen."

+ Christian Felber, österreichischer Attac-Aktivist und Buchautor, hat der Gemeinwohl-Ökonomie mit seinem gleichnamigen Buch vor zehn Jahren einen Schub gegeben. Am 6. Oktober 2010 gründete eine Gruppe interessierter Unternehmer die GWÖ-Bewegung. Mittlerweile ist das Konzept nach eigenen Angaben mit Regionalgruppen nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Skandinavien, Großbritannien, Spanien, Italien sowie in den USA, Lateinamerika und Afrika vertreten.

+ Eine Gemeinwohl-Bilanz haben in den letzten zehn Jahren über 500 Unternehmen erstellen und von externen Auditoren prüfen lassen. Rund 2.200 Unternehmen und Organisationen unterstützen die Bewegung. Zu den größeren Pionierunternehmen zählen die Sparda-Bank München, der Outdoor-Ausrüster Vaude, der Kräuterspezialist "Sonnentor" und die Diakonie Herzogsägmühle. Als Gemeinwohl-Kommunen dürfen sich unter anderem die Gemeinden Postbauer-Heng und Kirchanschöring in Bayern, Steinheim in Nordrhein-Westfalen und Klixbüll in Schleswig-Holstein bezeichnen.

+ Die Gemeinwohl-Matrix, die als Grundlage für die Bilanz gilt, ist in 20 Bereichsfelder gegliedert. Mit ihrer Hilfe überprüfen die Unternehmen, inwieweit sie die Themen Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und demokratische Mitbestimmung bei Lieferwegen, in der eigenen Belegschaft, gegenüber Kunden sowie mit Blick auf Finanzgebaren und das gesellschaftliche Umfeld umsetzen. Die Matrix wird von den Mitgliedern der Bewegung in einem demokratischen Prozess weiterentwickelt, derzeit gilt die Version 5.0.

+ Die Höchstpunktzahl einer Gemeinwohl-Bilanz beträgt 1.000 Punkte. Minuspunkte gibt es für gemeinwohlschädliches Verhalten, zum Beispiel Preisdumping durch Ausnutzen der Marktmacht, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in der Lieferkette oder Verhinderung eines Betriebsrats. Die Bilanz muss regelmäßig neu erstellt werden. Ziel ist, sich in möglichst vielen Bereichen ständig fortzuentwickeln.

+ Erste politische Erfolge verzeichnet die GWÖ auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene : Die Landesregierung Baden-Württemberg hat ein Pilotprojekt zur Gemeinwohl-Ökonomie im letzten Koalitionsvertrag verankert. Im Bundestag trifft sich regelmäßig eine fraktionsübergreifende Kontaktgruppe zur GWÖ. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat 2015 eine Stellungnahme zur GWÖ als nachhaltiges Wirtschaftsmodell mit großer Mehrheit angenommen. "Der EWSA erachtet die GWÖ als geeignet, in den Rechtsrahmen der Union und ihrer Mitgliedstaaten integriert zu werden, und fordert die Europäische Kommission auf, Maßnahmen zu setzen, um Unternehmen zu belohnen, die eine höhere ethische Leistung vorweisen können", heißt es auf der Internetseite der Bewegung.

+ Kritik an der GWÖ kommt von Wissenschaftlern und Unternehmern, die dem Modell Bevormundung, mangelnden Wettbewerb und fehlende unternehmerische Anreize durch Begrenzung von Privatvermögen und Verdienst vorwerfen. Der Leiter des Zentrums für humane Marktwirtschaft in Salzburg, René Schmidpeter, hat die GWÖ als "Ethik-Regime" bezeichnet, das die Marktwirtschaft abschaffen und dem Individuum die persönliche Freiheit rauben würde. Randolf Rosenstock, Unternehmer und Leiter des Roman-Herzog-Instituts für Zukunftsfragen der Wirtschaft, hat das Modell als "New-Age-Version einer zentralistischen Planwirtschaft" kritisiert, bei dem unklar sei, wer den Begriff "Gemeinwohl" definieren und ausgestalten dürfe. Professor Ulrike Reisach von der Hochschule Neu-Ulm wirft der GWÖ in einem Beitrag für das Frankfurter "Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt" vor, dass die Konsequenzen für den technologischen Fortschritt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft unklar seien. Zudem sei das Modell auf die Bedürfnisse europäischer Gesellschaften geprägt und eigne sich nicht für Staaten, "die großen Nachholbedarf bei der Deckung der Grundbedürfnisse haben".