Herr Knaus, ein Narrativ, dass Sie in ihrem Buch auf den Prüfstand stellen: Angela Merkel habe 2015 einfach die deutschen Grenzen geöffnet, und sei damit schuld an der sogenannten "Flüchtlingskrise". Die AfD wirft der Bundeskanzlerin gar Rechtsbruch vor… 

Gerald Knaus: Die Vorstellung, es gab da einen Knopf, man hätte ihn nur drücken müssen, dann wäre die irreguläre Migration abgebrochen, verschließt die Augen vor der Realität. Wer sagt, Kanzlerin Merkel hätte einfach einen fertigen Plan aus der Schublade holen müssen, und dann hätte die Bundespolizei mal eben schnell die deutsch-österreichische Grenze geschlossen, soll mir erklären, wie das praktisch funktioniert hätte. Und wie das in Einklang gebracht werden hätte können mit allem geltenden Recht. Kein deutsches Verwaltungsgericht hätte brutale Praktiken wie am ungarischen Grenzzaun gutgeheißen. Große politische Mehrheiten hätten das zu Recht verurteilt.

Der Vorwurf ist wirklichkeitsfremde Polemik, die die tatsächlichen Optionen außer Acht lässt. Entweder greift man zu brutalen Methoden, wie es der ungarische Premierminister Viktor Orbán damals getan hat, schreckt die Menschen ab durch menschenunwürdige Behandlung. Oder man legt Stacheldraht in Europa, sperrt die Wege in den Norden der EU ab. Das geht nicht von heute auf morgen. Sogar Orbán gelang es vier Monate lang nicht, die ungarische Grenze zu schließen. Zu beiden diesen Optionen waren weder die Kanzlerin und ihre Regierung noch die deutsche Öffentlichkeit bereit. Das Schließen der Grenze Deutschland-Österreich ist so gesehen nicht mehr als eine Floskel. Von Leuten, die Prozesse in anderen Staaten blind auf die deutsche Situation übertragen, ohne viel darüber nachzudenken.

2020 sind die desaströsen Lebensbedingungen im griechischen Flüchtlingslager Moria ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Wo verorten Sie die Verantwortung für die menschenunwürdigen Bedingungen auf den ägäischen Inseln? Wird hier vorsätzlich Politik zu Lasten von Schutzsuchenden gemacht?

Gerald Knaus: Die Frage ist, könnte man die Probleme lösen? Dafür sorgen, dass die Menschen auf den griechischen Inseln im Einklang mit dem europäischen und dem internationalen Recht behandelt werden? Dass sie menschenwürdig untergebracht werden? Natürlich könnte man. Sehr schnell sogar. Es handelt sich um eine überschaubare Zahl von Menschen, ungefähr 19.000. Im Schnitt sind in den vergangenen Monaten gerade einmal 200 pro Monat dazugekommen. Es fehlt nicht an Geld, und es fehlt nicht an möglichen Unterkünften. Wegen der Corona-Pandemie blieben hunderttausende Touristen aus, Platz ist genug. Es ist also kein Unglück, dass die Situation ist, wie sie ist, sondern eine politische Entscheidung. Das Problem ist nicht neu, und es ist nicht nur eine Entscheidung der griechischen Regierung. Es sind, weil es eben eine EU-Außengrenze ist, auch viele europäische Beamte vor Ort. Die Finanzierung liegt fast vollständig in Händen der EU. Wir sehen hier ein kollektives Versagen, das leicht überwunden werden könnte. Aber das ist politisch nicht gewollt.

Auch aus dem als Alternative zu Moria errichteten neuen Lager "Kara Tepe" erreichen uns erschreckende Berichte…

Gerald Knaus: Das neue Lager, das auf Lesbos aufgebaut wurde, ist noch schlimmer, noch menschenunwürdiger als Moria. Menschenrechtsorganisationen und Journalisten berichten außerdem immer wieder davon, dass sogar sogenannte Push-Backs von den griechischen Inseln aus stattfinden. Menschen, die an den Küsten ankommen, werden von Polizeibeamten aufgegriffen, auf kleine Boote gesetzt und zurück aufs Meer getrieben. Jeder in der EU weiß, was hier passiert. Und die EU-Kommission hält sich zurück. Es gibt bislang kein Vertragsverletzungsverfahren. Auch die Mitgliedsstaaten könnten damit diesen Bruch von EU-Recht ahnden, oder wenigstens untersuchen. Das ist bislang nicht passiert.

"Unsere Grenzen sind […] Visitenkarten unserer Gesellschaft und ihrer Werte", heißt es in ihrem Buch. "Sie zeigen, wer wir sein wollen. Vor allem aber zeigen Sie, wer wir sind." Nun herrschen auch an der EU-Außengrenze von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina für Geflüchtete unmenschliche Bedingungen. Im bosnischen Bihać zum Beispiel – das ist näher an München als Hamburg. Beobachter sprechen dort von einer humanitären Katastrophe. Haben sich Politik und Gesellschaft damit abgefunden, dass mitten in Europa Menschenrechtsverletzungen stattfinden? Gibt es die viel zitierten "europäischen Werte" noch?

Gerald Knaus: Wir gewöhnen uns an Misshandlungen von Migranten mitten in Europa. An Vermummte, die in Kroatien Asylsuchende aufgreifen, brutal zusammenschlagen und im Nicht-EU-Land Bosnien aussetzen. Die dann verletzt in Bihać ins Krankenhaus kommen. Aus politischem Kalkül. Menschen gewöhnen sich an die schlimmsten Dinge, wenn sie das Gefühl haben, sie können nichts daran ändern. Wenn das Leid uns nicht direkt betrifft, ist es leicht, sich einfach abzuwenden. Wir alle machen das, täglich. Dieser Fatalismus ist eine große Gefahr für jeden von uns. Denn an unseren Außengrenzen zeigt sich, was wir hinzunehmen bereit sind.

Es ist kein Zufall, dass ein Rechtspopulist wie Viktor Orbán, der eine illiberale Demokratie anstrebt, das Thema Migration sehr geschickt verwendet, um die Standards der Rechtsstaatlichkeit immer weiter aufzuweichen. Europäische Gerichte sollen ihm nicht mehr reinreden. Grundrechte werden, mit einer fatalistischen Zustimmung der Mehrheiten, die nicht mehr daran glauben, dass es anders ginge, regelmäßig verletzt. Das sollte uns alle alarmieren. Wir müssen Vorschläge machen, wie man einen Zustand der Rechtssicherheit so schnell wie möglich wiederherstellt. Es braucht pragmatische Lösungen, die die Menschenrechte achten. Sonst laufen wir Gefahr, dass Menschenrechte schöne Dokumente sind in irgendwelchen Archiven, die für den Grenzbeamten in Europa kaum noch eine Rolle spielen.

Die Genfer Flüchtlingskonvention wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. Wie geht es diesem wichtigen Dokument für den internationalen Flüchtlingsschutz? Ist die GFK altersschwach geworden?

Gerald Knaus: Ironischerweise sind wir in Europa kurz davor, dass die Genfer Flüchtlingskonvention, Jubiläum hin oder her, de-facto außer Kraft gesetzt wird. Und wir damit ihre Glaubwürdigkeit zerstören. Es geht hier nicht mehr um abstrakte Werte, sondern um die Frage, ob Europäisches Recht an den Außengrenzen der EU überhaupt noch eine Rolle spielt. Oder ob dort jeder machen kann was er will, weil keiner mehr genau hinsieht, oder man denkt, es gäbe keine andere Möglichkeit mehr, Migration zu stoppen. Wir brauchen eine Politik, die zeigt, dass es nicht nur moralisch geboten, sondern auch möglich ist, Kontrolle und Humanität an den Grenzen zu verbinden. Wenn wir hier nicht überzeugen können, Menschenrechte und Pragmatismus nicht zusammenbringen können, dann ist die GFK tot.

In Deutschland sah die AfD in den Bränden in Moria eine "konzertierte Erpressungsaktion", "die sich gezielt gegen Deutschland, unseren Sozialstaat und unsere Innere Sicherheit richtet". Stephan Brandner, stellvertretender Bundessprecher der Partei, forderte eine "Obergrenze Null". Das "Einfliegen von Migranten" schaffe "weitere Anreize, Flüchtlingslager weltweit in Brand zu stecken und so ein Ticket nach Deutschland zu erpressen". Die Geflüchteten unter Generalverdacht, Migranten als Sündenböcke… Ist eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit der AfD überhaupt möglich?

Gerald Knaus: Wir brauchen die AfD nicht für die Lösung der Probleme. Die, die bloß Angst machen wollen, damit sich die Leute unsicher fühlen, mit Mythen und Märchen von einer Massenmigration. Es geht ihnen nicht um Sicherheit. Denn je unsicherer wir uns fühlen, desto besser ist es für solche Populisten. Die AfD können und müssen wir gar nicht überzeugen. Sie würde auch vor Gefahren warnen, wenn es gar keine irregulären Migranten mehr gäbe. Dann wären wohl die Nachkommen derer das Ziel, die wir vor einigen Jahrzehnten ins Land gebeten haben, deutsche Bürger, die nur irgendwie anders aussehen oder eine andere Religion haben.

Die wirkliche Debatte ist in der Mitte der Gesellschaft. Es geht darum, der Mehrheit Vorschläge zu machen. Den vielen, die sich für Flüchtlinge engagieren wollen, und trotzdem glauben, dass es Kontrollen geben muss. Der Wunsch nach funktionierenden Grenzen und die Überzeugung, dass Menschen in Gefahr nicht abgewiesen werden dürfen, schließen sich nicht aus. Kontrolle und Empathie – in den meisten Menschen wohnen diese beiden Seelen. Wir brauchen eine Politik, die verhindert, dass wieder 150.000 Menschen in Libyen in die Boote steigen und nach Italien fahren, und sich gleichzeitig abgrenzt von den Ansichten der Populisten und extremen Rechten, die bereit sind, für Abschreckung alles zu tun – selbst Menschen in Not nicht vor dem Ertrinken zu retten.

Die EU-Kommission will mit ihrem neuen "Migrations- und Asyl-Paket" Schwung in die verfahrenen Debatten bringen. Ist eine "europäische Lösung", bei der sich alle Mitgliedsstaaten beteiligen, noch realistisch?

Gerald Knaus: Es muss keine "europäischen Lösung" aller 27 Mitgliedsstaaten geben. Eine Lösung der 27 wäre eine auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners. Wenn ich etwas mit Null multipliziere, kommt immer Null heraus. Jemand wie Viktor Orbán hat in dieser Frage keinen Grund, sich zu bewegen. Wenn wir seine Zustimmung und die einiger anderer Länder zur Bedingung machen, landen wir am Ende wieder bei einer Politik der Abschreckung, wenn nötig gar unter offensichtlicher Verletzung der Konventionen, die in Europa gelten.

Wir sollten uns in der Debatte darauf konzentrieren, welches Problem wir lösen wollen. Und wen wir wirklich dazu brauchen. Wenn wir humane Grenzen schaffen wollen in der EU, dann ist klar, dass wir die Ankunftsstaaten dazu brauchen. Griechenland, Italien, Spanien, Malta...

Natürlich sind auch die Staaten wichtig, die als Zielländer für Flüchtlinge und irreguläre Migranten besonders attraktiv sind. In Deutschland, Frankreich und Schweden gibt es noch eine Öffentlichkeit, der an bestimmten Werten etwas liegt – der Genfer Flüchtlingskonvention und den Menschenrechten. Wenn diese zwei Gruppen zusammenarbeiten, sind Lösungen möglich.

Wichtig dabei, das beschreiben sie in ihrem Buch, sei "Abschiebungsrealismus". Was meinen Sie damit?

Gerald Knaus: Wir müssen weg von der Illusion, es sei möglich, große Zahlen von Menschen in bestimmte Länder abzuschieben, wenn man nur will. Denn ohne Kooperation mit Partnerländern ist das nicht umsetzbar. Abschiebungen sind nicht nur menschlich sehr schwierig, sondern auch politisch extrem aufwändig. Viele Staaten in Europa haben diese Erfahrung in den vergangenen Jahren gemacht. Trotzdem, das muss uns bewusst sein, brauchen wir Abschiebungen. Wenn es keine Abschiebungen mehr gibt, brauchen wir kein Asylsystem. Jeder der kommt, bleibt – dann hat es keine Konsequenzen mehr, ob jemand Schutz braucht oder nicht. Die Frage, die wir uns also stellen müssen: Welche Art von Abschiebungen ist umsetzbar und zielführend und moralisch zu rechtfertigen?

Ich halte zwei Formen für sinnvoll: Abschiebungen von Nicht-Schutzbedürftigen ab einem festgelegten Stichtag. Das sorgt dafür, dass sich die, die keinen Schutz brauchen, dann nicht mehr auf lebensgefährliche Reisen machen (aus Senegal, Gambia, Nigeria oder Marokko). Wir signalisieren: "Macht euch nicht auf den Weg. Ihr werdet innerhalb von wenigen Wochen zurückgeschickt, wenn ihr keinen Schutz braucht, es gibt nun Einigungen mit den Herkunftsländern." Da könnte eine relativ geringe Zahl an Abschiebungen dazu führen, dass weniger Menschen auf dem Weg nach Europa sterben. Auch die Abschiebung nicht-schutzbedürftiger Straftäter ist moralisch zu rechtfertigen. Das steht eigentlich nicht in Frage. Gleichzeitig ist es aber sinnvoll, denen, die schon viele Jahre hier sind, eine Perspektive zu bieten, auch wenn sie nicht schutzbedürftig sind. Es ergibt keinen Sinn, Menschen die bereits mit einem Fuß in einem neuen Leben stehen, den Boden unter den Füßen zu entziehen. Selbst wenn es gesetzlich möglich wäre. Nicht willkürlich abschieben, aber abschieben. Gezielt, geregelt, wer nach einem Stichtag kommt und nicht schutzbedürftig ist. Das ist für mich Abschiebungsrealismus. Dafür muss man sich nicht schämen.

Kann die europäische Migrationspolitik damit also doch noch auf einen grünen Zweig kommen? Was sind die wichtigsten Schritte?

Gerald Knaus: Für die Zustände auf Samos und Lesbos, und auch an anderen Außengrenzen der EU, zwischen Serbien und Ungarn, Kroatien und Bosnien, tragen wir alle Verantwortung. Seit März letzten Jahres scheinen jegliche Standards in Fragen der irregulären Migration ausgesetzt – mit Unterstützung vieler europäischer Regierungen. Wir müssen die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen, und dafür Mehrheiten überzeugen. Sicherstellen, dass jeder, der die EU erreicht, zunächst einmal nicht zurückgestoßen wird, dass es menschenwürdige Unterbringung gibt und faire Asylverfahren. Und dass wir gleichzeitig in der Lage sind, die, die keinen Schutz bei uns brauchen, geregelt und gesetzeskonform zurückzuschicken. Dazu braucht es aus meiner Sicht eine Verlängerung einer Einigung mit der Türkei, die die Situation der Flüchtlinge dort weiterhin mit EU-Geld weiterhin verbessert, und Kontrolle gewährleistet. Denn wenn Kontrollverlust als einzige Alternative zur völligen Abschottung erscheint, werden sich Mehrheiten immer für Abschottung entscheiden. Was wir brauchen, sind humane Grenzen.