Altkanzler Helmut Schmidt hat sich nur widerwillig und äußerst selten zu seinem persönlichen Glauben geäußert. Bei einer Kanzelrede in der Hamburger Katharinenkirche verriet er jedoch einmal, was ihm für seinen protestantischen Glauben wichtig ist: "Ich brauche das Vaterunser, die Zehn Gebote, die Kirchenmusik und den Choral." Und als er einmal gefragt wurde, was er der heranwachsenden Jugend empfehlen würde, hat er geantwortet: "Die Zehn Gebote." Und er ergänzte: "Wem das nicht langt, die Verordnung der Freien und Hansestadt Hamburg."

Schmidt ist so etwas wie eine moralische Ikone im Politikbetrieb, sein Wort hat mehr Gewicht, als das aller amtierender Politiker. Auch der Protestant Günther Beckstein hat sich dafür entschieden, nach seiner Politikerkarriere etwas zu den Zehn Geboten zu sagen, er hat gleich ein ganzes Buch darüber geschrieben. "Ich bin überzeugt, dass die Zehn Gebote eine wunderbare Ordnung der Welt sind.", bekennt Beckstein.

Mit 86 Worten das Wichtigste gesagt

Mit seinem Buch will er "bewusst machen, dass alle Entscheidungen sich an den Zehn Geboten messen lassen müssen." Er habe immer versucht, als evangelischer Christ nach dieser Richtlinie zu leben. In seinem Buch schreibt er auch, wo ihm das nicht so gut gelungen ist. Mit Blick auf das achte Gebot "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten" gesteht er ein, nicht immer die volle Wahrheit gesagt zu haben, ergänzt jedoch: "Aber ich habe mich bemüht, nie Leute bewusst anzulügen, auszutricksen. Das würde gegen mein Verständnis unseres Glaubens verstoßen. Bewusst Leute anzulügen, ist meines Erachtens ein massiver Verstoß gegen das achte Gebot."

Beckstein schätzt die Zehn Gebote, weil hier mit 86 Wörtern das Wichtigste gesagt ist. Die Unabhängigkeitserklärung der 13 nordamerikanischen Staaten von 1776 zählt 300 Wörter, die EU-Verordnung über den Import von Karamell-Bonbons aus dem Jahr 1981 besteht aus 25.911 Wörtern.

Von der Theologie wurden die Zehn Gebote nicht immer so hoch geschätzt. Die feministische Theologin Elga Sorge wollte die Zehn Gebote durch "zehn Erlaubnisse" ersetzen. Die Zehn Gebote verwarf sie als "Menschenwerk", das allein der gegenseitigen Unterdrückung und Kontrolle dienen sollte. Gott habe die Gebote nicht nötig, sondern befreie den Menschen durch Erlaubnisse, sagte sie. Die vierte Erlaubnis: "Du darfst Vater und Mutter ehren, lieben und verlassen, so wie sie dich." Oder die sechste Erlaubnis: "Du darfst ehebrechen, du kannst ja nicht anders. Du darfst aber auch treu sein." Die achte Erlaubnis: "Du darfst immer die Wahrheit sagen, es wird dir gut tun." Sorge konnte in Talkshow und auf Podiumsdiskussionen ihre Idee vortragen, gemeinsam schimpfte man dann auf die Kirche als autoritären und patriarchalischen Machtapparat, der die Menschen daran hindert, seine Bedürfnisse auszuleben.

Die Kritik hatte sicher auch deshalb Erfolg, weil viele Menschen das Gefühl haben, dass immer wieder Gebote missbraucht wurden - auch von der Kirche. Wozu sind die Gebote da? Haben die Gebote tatsächlich den Sinn, die bürgerliche Gesellschaft zu ordnen? Lässt sich moralisches Verhalten überhaupt verordnen? Sicher nicht. Was sind die Gebote dann? Richtschnur? Kompass? Leitplanken?

Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant hat vor über 200 Jahren die Zehn Gebote und den Gott am Sinai für eine Beleidigung der Vernunft des Menschen erklärt. Kant war überzeugt, dass die Zehn Gebote den Menschen nicht besser oder moralischer machen, schon gar nicht verbunden mit Gewalt und der Androhung von Strafe. Kant war überzeugt, dass das Moralgesetz kraft eigener Vernunft den Menschen in die Herzen geschrieben ist. Das zu entdecken und freizusetzen, dafür frei zu werden benannte er als Ziel der Religion.

Wie Jesus die Zehn Gebote sah

Einen Anhaltspunkt dafür gibt das Alte Testament selbst: "Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist nicht zu wunderbar für dich und ist dir nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer wird für uns in den Himmel hinaufsteigen und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun? Und es ist nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer wird für uns auf die andere Seite des Meeres hinüberfahren und es uns holen und es uns hören lassen, dass wir es tun? Sondern ganz nahe ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, um es zu tun." (5. Mose 11-14) Der Dekalog wird hier zum inneren Gesetz des Herzens, so wie es auch Jeremia im 31. Kapitel formuliert hat: Nicht in Tafeln aus Stein schreibt Gott seine Gesetze, sondern ins Herz der Menschen. Jeremia nennt dies den "neuen Bund", den Gott mit den Menschen schließen wird. Jesus lebte dies vor. Als er seine Jünger fragte "Was halten die Menschen von mir, dem Menschensohn?" antworteten sie in Bezug darauf: "Sie denken, du bist Jeremia oder einer der Propheten." (Matthäus 16, 14) Jesus verschärfte in der Bergpredigt die Zehn Gebote (ab Matthäus 5, 17) durch die Formel "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist… ich aber sage euch…" Er verdeutlicht seinen Zuhörern, dass er nicht gekommen ist, die Gebote aufzulösen. Durch die Verschärfung macht er aber auch deutlich, dass man den Geboten im Grunde nicht gerecht werden kann. Er reduziert das Gesetz auf das Doppelgebot der Liebe: Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst (Markus 12, 30f). Jesus mach deutlich, dass dies das ganze Gesetz ist, alles weitere ist eine Erklärung oder ein Kommentar dazu.

Jesus sah in den Zehn Geboten nicht das Mittel zur Herstellung einer kollektiven Ordnung. Ihm ging es um das Heilwerden des Lebens eines jeden Einzelnen. Er hielt der Ehebrecherin nicht die Gebote vor, sondern fragte in Richtung derjenigen, die sie verurteilen und töten wollten: Wer von euch ist ohne Sünde? Der werfe den ersten Stein. Jesus machte damit deutlich, dass die Gebote der Liebe untergeordnet sind.

Dem christlichen Glauben geht es nicht um Tugend, sondern um Glauben und Vertrauen auf Gott (Römer 14, 3). Paulus nennt sogar all das Sünde, was nicht aus dem Glauben, das heißt aus der Einheit mit Gott kommt.

"Ich bin dein Herr, dein Gott"

Im Grunde besagt dies auch das erste Gebot. Wer sich an dieses Gebot hält, entgeht der Gefahr, statt des lebendigen Gottes etwas in den Mittelpunkt zu stellen, das nicht Leben und Freiheit gibt, sondern den Menschen versklavt und unterdrückt. Die nächstliegende und darum größte Gefahr, vor der das erste Gebot schützen will, ist dies: sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, alle Dinge nur auf sich zu beziehen, alle Menschen und die Beziehungen zu ihnen nur als Instrument für die eigene Befriedigung zu gebrauchen. Gott, der alles Leben geschaffen hat und der uns die Freiheit schenkt, er ist Mittelpunkt und Bezugsrahmen unseres ganzen Lebens, wenn wir mit Ernst Christen und Menschen sein wollen.

Alle anderen Gebote sind Folgen, Ableitungen aus diesem einen Gebot. Gott darf nicht für die eigenen Interessen benutzt, darf nicht zum Instrument gemacht werden. Das geschieht überall da, wo andere Menschen "im Namen Gottes" unterdrückt, bekämpft, gefangen gehalten oder gar getötet werden. Das ist der "Missbrauch" des Namens Gottes, den das zweite Gebot verbietet, nicht ein unbedachter Fluch oder ein Schimpfwort.

Für Martin Luther bilden die Zehn Gebote das erste "Hauptstück" in seinem Kleinen Katechismus; sie sind die Grundlage für das Zusammenleben in Familie, Kirche und Staat. Auch für Luther war das erste Gebot Überschrift und Grundlage aller anderen. So legt er das erste Gebot aus: "Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Luther legt Wert darauf, dass die Gebote, wenn sie auch in der Mehrzahl als Verbote formuliert sind, zu einer ganzen umfassenden Lebenshaltung anleiten wollen: Wir sollen unseren Mitmenschen "helfen und beistehen in allen Nöten".

Es geht bei den Geboten also nicht darum, bestimmte Handlungen zu unterbinden. Es geht vielmehr darum, das ganze Leben an Gott auszurichten - dass alle Menschen gut, in Freiheit und Frieden leben können. In diesem Sinn sind die Gebote nicht überholt. Und trotzdem: Was uns als erstes zu hören Not tut, ist das wichtigste und zentrale Anliegen aller Gebote - dass wir Gott Gott sein lassen und ihn mit unserem Leben, unserem Verhalten, mit unseren Worten und Handlungen ehren. Ihn, den Gott, der alles Leben geschaffen hat und der die Freiheit aller Menschen von allen Zwängen will.

Die Zehn Gebote

1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.

3. Du sollst den Feiertag heiligen.

4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

5. Du sollst nicht töten.

6. Du sollst nicht ehebrechen.

7. Du sollst nicht stehlen.

8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat.

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