In der Oberkirche von Assisi ist er in einem Glassarg aufgebahrt: der unversehrte präparierte Leichnam des Carlo Acutis – ein fünfzehnjähriger, von einer aggressiven Leukämie aus dem Leben gerissener Jugendlicher in Jeans und mit Nike-Turnschuhen an den Füßen.

Ein kurz vor seinem Tod aufgenommenes Foto zeigt Carlo mit dunkel-lockigem Wuschelkopf und einem roten Sweatshirt bei einer Wanderung irgendwo im Apennin. Vielleicht entstand das Foto in der Nähe von Monza, wo er am 12. Oktober 2006 starb, nur 72 Stunden nachdem er plötzlich hohes Fieber bekommen hatte und ins Krankenhaus eingeliefert worden war.

Vielleicht ist das Foto auch bei Assisi entstanden, wo er, wie er es sich immer gewünscht hatte, in der Nähe des heiligen Franziskus begraben wurde. Seine Familie berichtet, Carlo habe als schon als kleines Kind gesagt, er hätte nichts dagegen, ein Heiliger zu sein: "Aber nicht wie der heilige Franziskus, der ein viel zu unbequemes Leben hatte! Er scherzte gerne", erzählte seine Mutter Antonia Salzano italienischen Zeitungen.

Der erste katholische Selige, der zu Lebzeiten ein Facebook-Profil hatte

In Assisi wurde Carlo Acutis am vergangenen Wochenende seliggesprochen. Für seine Fans soll es dabei nicht bleiben: Sie wünschen sich, dass Carlo möglichst bald zum katholischen Schutzheiligen des Internets und aller Nerds aufsteigt. Immerhin ist Carlo Acutis der erste Selige der katholischen Kirche, der zu Lebzeiten ein Facebook-Profil hatte.

Dabei war Carlo eine Heiligkeitskarriere nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Seine Eltern gehören dem wohlhabenden Mailänder Großbürgertum an. Carlo wurde in London geboren, weil sein Vater Andrea damals dort arbeitete; er ist Vorstand und Mehrheitseigner der börsennotierten Versicherungsgesellschaft Vittoria Assicurazioni.

Dreimal im Leben sei sie vor Carlos Taufe zur Kirche gegangen, bekannte die Mutter des neuen Seligen im Interview mit der Zeitung La Repubblica: "Zur Kommunion, zur Firmung und zur Hochzeit." Doch Carlo bestand schon als Kind bockig darauf, zum Gottesdienst zu gehen, und habe sie "gerettet", so Antonia Salzano: "Dank ihm ist mein Glaube gewachsen."

 

Vom Ferienfoto zum Heiligenschein: Gottesdienst zur Seligsprechung von Carlo Acutis im Oktober 2020 in Assisi.
Vom Ferienfoto zum Heiligenschein: Gottesdienst zur Seligsprechung von Carlo Acutis im Oktober 2020 in Assisi.

Schuld war Beata, das polnische Kindermädchen

Schuld war Beata ("die Selige"), das polnische Kindermädchen der Familie. Als fromme Katholikin und große Verehrerin des polnischen Papsts Johannes Paul II. nahm sie den Knaben mit in die Messe. Der kleine Carlo bestand schnell darauf, vorzeitig zur Erstkommunion zugelassen zu werden.

Die Darstellung Carlos ist etwas widersprüchlich. Genau wie auch die Familie betont der Vatikan, Carlo sei "ein ganz normaler Junge" gewesen; andererseits bezeichnet er ihn mit einer gewissen Übertreibung als "Computergenie". Carlo Acutis bastelte jedenfalls schon mit zehn Jahren seine ersten Websites für Priester. Später baute er eine Datenbank über "Die Eucharistischen Wunder in der Welt" auf.

In der Jugendarbeit seiner Pfarrei engagierte er sich für Obdachlose und Geflüchtete. Fußballfan des AC Mailand war er auch. Abgesehen von seiner für seine Generation eher unüblichen Leidenschaft für die Eucharistie, die er täglich zu sich nahm, war Carlo auch nach dem Zeugnis seiner Mitschüler ziemlich normal. "Ich glaube, dass viele Leute den Wert der heiligen Messe nicht wirklich bis ins Letzte verstehen", soll Carlo gesagt haben.

"Denn wenn sie den großen Reichtum erkennen würden, den der Herr uns geschenkt hat, indem er sich uns als Speise und Trank hingeschenkt hat in der heiligen Hostie, würden sie jeden Tag in die Kirche gehen, um an den Früchten des Opfers, das dort gefeiert wird, teilzuhaben, und auf viele überflüssige Dinge verzichten."

Moderne Inflation der Heiligen

Die Zahl der Heilig- und Seligsprechungen ist erst im 19. und 20. Jahrhundert so richtig explodiert. Man könnte sagen: Je mehr die katholische Kirche mit den Zumutungen der Moderne rang, die immer weniger Platz lässt für das Geheimnis der Heiligkeit und des Wunders, desto mehr Wunder und Heilige stellte Rom in Geschichte und Gegenwart fest. Wunder spielen bekanntlich eine entscheidende Rolle im Prozess der Selig- und Heiligsprechung.

Nicht weniger als 483 neue Heilige gab es unter Polen-Papst Wojtyla (Johannes Paul II.), womit er die Zahl der neuzeitlichen Heiligsprechungen mal eben verdoppelte. Unter Benedikt XVI. aus Bayern kamen karge 45 dazu. Papst Franziskus, im Amt seit 2013, steht dagegen schon jetzt bei rund 900! Und weitere dürften dazukommen.

Die jüngste Inflation der Heiligen verdankt die Christenheit neben Franziskus aber vor allem den Muslimen: Im Sommer 1480 fielen die Osmanen unter Gedik Ahmed Pascha in Apulien ein. Sie eroberten Otranto. Es war ein wenig wie bis vor Kurzem im IS-Kalifat in Syrien und Irak: 800 Bürger der süditalienischen Stadt, unter ihnen der glaubensstarke Schneider Antonio Primaldo, die sich weigerten zum Islam zu konvertieren, wurden hingemetzelt, damals von den Türken.

Weil all die tapferen Otrantiner seit 2013 Heilige sind, trug das dem amtierenden Papst auf einen Schlag den Titel des Rekordhalters als Heiligsprecher ein.

Die genaue Zahl der Heiligen kennt nicht mal der Vatikan

So ganz genau weiß es keiner, nicht mal der Vatikan, aber seit Franziskus dürfte die Zahl der Heiligen und Seligen bei rund 7500 liegen. Schon 2004 verzeichnete das Martyrologium Romanum mehr als 6600 Heilige und Selige.

Andere Zählungen, die die Heiligen der orthodoxen Kirche dazunehmen, kommen auf mehr als 10.000. Dass auch Protestanten einen Heiligenkalender führen, weiß jeder, der schon mal einen Blick in den Pfarramtskalender geworfen hat, der zum Handwerkszeug evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer gehört. Der Kalender soll Protestanten allerdings nur zum Gedenken dienen, nicht zum Heilige-um-himmlischen-Beistand-Bitten.

Das römische Verfahren zur Selig- und Heiligsprechung ähnelt heute einem komplexen juristischen Verfahren, aber das war nicht immer so. Heilig spricht nur der Papst, aber zuvor wird viel untersucht, Stellung genommen und wissenschaftlich geprüft. Sogar der Teufel spielt in diesem Prozess eine Rolle: Ein "Advocatus Diaboli" soll gezielt Argumente und Beweise gegen eine Selig- oder Heiligsprechung zusammentragen.

Auch ein Wunder braucht es, das von einem Arzt als solches bestätigt werden muss. Bei Carlo Acutis war es die Heilung eines brasilianischen Kinds mit einer Bauchspeicheldrüsenfehlbildung im Jahr 2013. Der junge Patient und seine Eltern sollen ihre Gebete auch an Carlo Acutis gerichtet haben.

"Santo subito!" – das geht heute nicht mehr

"Santo subito!" – die sofortige Heiligsprechung forderte das Kirchenvolk nach dem Tod von Johannes Paul II. 2005. In den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte ging das noch, dass Heilige per Akklamation "zur Ehre der Altäre" ausgerufen wurden. Seit Ende des 16. Jahrhunderts kollidiert es mit dem katholischen Kirchenrecht.

Martin Luther kritisierte die Heiligenverehrung zwar mit der Bibel: "Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat zur Erlösung für alle", heißt es im 1. Timotheusbrief (2, 5-6a).

Für Luther und seine Mitstreiter standen auch Heilige als erlösungsbedürftige Menschen unter der Sünde; sie anzubeten bedeutet zudem, sich in Gefahr zu begeben, den Blick fürs Wesentliche – Jesus Christus – zu verlieren.

Gute Geschäfte mit den Heiligen

Doch eine Rolle bei der Heiligen-Skepsis der Reformatoren spielte auch, dass diese schon immer gute Geschäfte versprachen. Pilger strömen bis heute an die Wirkungsorte von Heiligen oder vermeintlichen Heiligen, erhoffen sich Wunder und Erhörung, von Assisi bis Lourdes, von Fátima bis Konnersreuth.

Schon immer wurde mit Heiligen viel Geld umgesetzt. Ende des 10. Jahrhunderts zogen die Päpste das Geschäft der Heiligsprechung nach und nach an sich – um Auswüchse zu stoppen, aber auch um die Sache nach Rom zu kanalisieren.

Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Reformation und ihrer Kritik an der Ökonomisierung der Frömmigkeit reglementierte die Kirche das Verfahren der Heiligsprechung dann 1588 formal und ziemlich streng.

Auf Zeit zu spielen hat sich bewährt. Lange mahlten die Heiligsprechungsmühlen langsam. Die Idee dahinter: Wenn eine Heiligenverehrung durchs Kirchenvolk Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte andauert, ist das ein Hinweis, dass was dran ist an dem oder der Heiligen. Nur 285 Menschen sprach die katholische Kirche in den ersten 450 Jahren seit der Reformation heilig.

"San Carlo", der Protestantenfresser von Mailand

Ein paar zweifelhafte Heilige hat zwar das II. Vatikanische Konzil in den 60er-Jahren geräuschlos getilgt; doch in der Regel lässt sich eine Heiligsprechung nur schwer rückgängig machen. Es gibt nur die Möglichkeit, dass sie in Vergessenheit geraten oder an einem bestimmten Ort von neuen Heiligen "überschrieben" werden.

Wer weiß beispielsweise, dass ein gewisser Onophrios aus Ägypten der erste Schutzpatron Münchens war, bevor als Folge der Reformation der heute deutlich bekanntere Benno von Meißen in die bayerische Landeshauptstadt einwanderte?

Vielleicht passiert in Zukunft in Mailand etwas Ähnliches. Dort gibt es nämlich bereits einen "San Carlo": den Protestantenfresser Karl Borromäus (1538-1584), der evangelische Frauen in Graubünden als Hexen verbrennen ließ.

Da wäre ein jugendlicher "San Carlo", wenn Carlo Acutis es denn wird, als Mailänder Heiliger schon deutlich sympathischer – und zudem ökumenisch anschlussfähiger!

Von Martin Luther stammt der schöne Satz: "Die wahre Kirche ist unsichtbar, die Heiligen sind verborgen." Vielleicht hätte dem auch der selige Carlo Acutis zugestimmt. Die Heiligen, sie sind mitten unter uns.

 

CARLO ACUTIS

INTERNET: Die von Carlo Acutis begonnene Datenbank der »Eucharistischen Wunder« ist inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche: www.miracolieucaristici.org. Mehr zu Carlo Acutis auch unter carloacutis.com und facebook.com/carlo.servodidio (italienisch).