Stehen wir vor einem Zeitalter des Geistes? Kommt nach dem ersten Äon des Schöpfergottes und dem zweiten Äon des Erlösers Jesus Christus nun der dritte Äon des Versöhners, des Geistes Gottes? Vor einem Jahrtausendwechsel werden derartige Spekulationen gerne angestellt, nicht nur im Bereich der Esoterik. Auch für Christen aller Couleur ist es seit jeher faszinierend, die Weltgeschichte als eine phasenweise Heilsgeschichte zu verstehen. Wie geht es weiter im Plan Gottes, was hat er mit seiner Kirche vor?

Konkretes wissen wir nicht, aber eines sollte für Christen gewiss sein: Der Schöpfer hat nach dem siebenten Tag nicht abgedankt, Gottes schöpferisches Wirken dauert an; auch die Erlösung ist nicht nur als historisch-punktuelles Ereignis vor 2000 Jahren zu verstehen, sondern ist ein übergeschichtliches Geschehen, das dann eintritt, wenn es "für uns" eine Bedeutung bekommt. Und das Wirken des Geistes? Der Geist war schon bei der Schöpfung gegenwärtig, er schwebte über den Wassern, wie es im 1. Buch Mose heißt. Als verbindendes Element zwischen dem Menschen Jesus und Gott dem Vater war er auch beim Erlösungswerk Christi gegenwärtig. Zeitalter des Geistes?

Die freikirchliche Gemeinde im "Charismatischen Zentrum" in München-Thalkirchen hat sich in besonderer Weise dem Wirken des Geistes geöffnet. "Heiliger Geist komm", betet der Gemeindeälteste Rudi Deschner den rund 200 versammelten Christen vor, und die Gemeinde antwortet mit denselben Worten. Dabei werden Lieder gesungen, bis der Gastprediger Pastor Paul Schmidgall in den Gemeindegesang hinein zur Entscheidung ruft. Wer jetzt vom Geist ergriffen sei, solle nach vorne kommen und sein Leben Jesus in die Hand geben. Während der Chor - in Thalkirchen nennt er sich "Lobpreisgruppe" - die Worte des Pastors mit einfühlsamen Melodien begleitet, werden die Gebete der wie in Trance versunkenen Gottesdienstbesucher immer lauter, aber doch nicht so, dass man etwas davon verstehen könnte. Ist das die Zungenrede, die Rede in anderen Sprachen, wie sie vom Apostel Paulus als "Charisma" beschrieben wurde?

Charismatische Gottesdienste sprechen auch das Gefühl an, nicht nur die Vernunft

Nein, sagt Rudi Deschner, der Gemeindeälteste. In der Bibel ist die Zungenrede nur dann ein Charisma, wenn der geistbeseelte Beter für die Gemeinde eine Auslegung parat hat. Sonst "frommt es nicht", wie Paulus sagt. Ob Zungenrede oder nicht, der Besucher ist seltsam berührt vom steigenden Geräuschpegel. Nun erheben sich immer mehr Besucher und richten ihre Hände zum blumengeschmückten, vergoldeten Kreuz, das oben auf der Bühne an der Längsseite des Raumes hängt. Die Instrumentalgruppe lässt mit weichen Akkorden den "Anbetungsteil" ausklingen, und nun findet Paul Schmidgall, dass die vorne stehenden einen kräftigen Applaus verdient hätten.

Charismatische Gottesdienste sprechen nicht nur die Vernunft an, sondern auch den Bauch, das Gefühl, unsere Emotionen, eben die Bereiche, die in der wortgeprägten evangelischen Kirche gemeinhin zu kurz kommen. Wohl deshalb verzeichnen die charismatischen Gemeinden, auch diejenigen in der Landeskirche, wie zum Beispiel die ELIA-Gemeinschaft in Erlangen, einen starken Zustrom von Gottesdienstbesuchern.

Die Zungenrede ist wohl nur die spektakulärste Form der Geistesgaben, die im Neuen Testament genannt werden. In den Paulusbriefen bedeutet das Wort Charisma einfach Geschenk oder auch Gnadengabe, wie zum Beispiel in Römer 6,23, wo es dem Sold eines Soldaten gegenübergestellt wird. Inhalt dieses Geschenkes ist das ewige Leben. Und in Römer 11,29 schreibt Paulus davon, dass dieses Geschenk unwiderruflich ist. Damit ist bereits das Wichtigste über die Charismen gesagt.

Charisma betrifft die ganze christliche Existenz, des Einzelnen und der Gemeinde

In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth hat sich Paulus ausgiebig mit den Geistesgaben befasst. Aus Kapitel 14 seines Briefes kann geschlossen werden, dass in der korinthischen Gemeinde einige Geistesgaben höher als andere geschätzt wurden. Seine Aufzählung der Charismen ist bemerkenswert vielfältig: Weisheitsrede, Erkenntnisrede, Glaube. Dass auch der Glaube, der eigentlich kaum auffällig erscheinen sollte, als Charisma aufgeführt wird, erklärt sich aus Kapitel 12, Vers 11 her: Weil alle Charismen aus dem einen Geist kommen, den jeder Christ empfangen hat, hat auch jeder ein Charisma empfangen. Sind wir also alle Charismatiker?

Im Anschluss folgt ein spektakulärer Charismenkatalog: Heilungskraft, Wunderkraft, Prophetie, Unterscheidung der Geister, Zungenrede und deren Übersetzung. Paulus stellt klar: Die Geistesgaben müssen mit der Liebe einhergehen (1. Kor. 13), und müssen der Erbauung der Gemeinde dienen. Sie taugen nicht zur Exponierung einzelner Christen, sondern nur als Gaben für die ganze Gemeinde. Mit dem Ziel der Erbauung wehrt Paulus jedem individualistischen, aber auch jedem gruppenegoistischen Enthusiasmus in der Kirche.

Deshalb erscheint es auch hilfreich, die Charismen nicht auf die charismatische Bewegung zu reduzieren, auch wenn deren Vorreiterrolle nicht geschmälert werden soll. Charisma betrifft die ganze christliche Existenz, des Einzelnen und der Gemeinde. Die Charismenkataloge des Paulus taugen deshalb auch nicht als Anforderungslisten, was eine Gemeinde haben und können muss. Es lohnt sich kritisch zu fragen: Was davon ist Ausdruck menschlicher Sehnsüchte, und wo wirkt tatsächlich der Heilige Geist? Wo wirkt der Geist und wo beginnt die selbstverliebte Ekstase? Immer neue und immer noch tollere Erfahrungen machen abhängig. Eine erlebnisfixierte Frömmigkeit entspricht - dem Zeitgeist folgend - der Erlebnis-Gesellschaft. Dennoch sollten wir uns nicht dagegen wehren, wenn der Geist Gottes in unser Leben einziehen will, in unsere Gemeinden und in unsere Kirchen. Dafür braucht es kein neues Zeitalter, denn Gott gibt bereits jetzt den Geist ohne Maß (Johannes 3,34).