Als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse kürzlich anregte, in den Schulen sollten doch wieder mehr die Klassiker der Literatur gelesen werden, da erwähnte er neben den Werken Goethes ausdrücklich auch die Bibel. Wenn die Menschen in Deutschland nichts mehr vom Alten und Neuen Testament wüssten, verstünden sie drei Viertel des kulturellen Erbes nicht mehr, befürchtet der SPD-Politiker.

Um es anders zu sagen: Wer in der Bibel liest, versteht die Welt besser. Deshalb könnte man wohl viel über die Bibel schreiben, allemal besser ist es, in ihr zu lesen. Vom evangelischen Theologen Karl Barth (1886-1968) stammt das Wort: "Wir haben die Bibel und die Zeitung nötig. Die Zeitung gibt uns den täglichen Bericht darüber, was in der Menschheit vorgeht. Die Bibel lehrt uns, was diese Menschheit ist, die von Gott so geliebt wird."

Die Geschichte Gottes mit dem Menschen - von nichts anderem handelt die Bibel

Was diese Menschheit ist, davon ist bereits auf den ersten Seiten der Bibel ausführlich die Rede. Wer die Bibel erstmals lesen will, den sollte man deshalb nicht davon abhalten, sie wie jedes andere Buch von vorne nach hinten zu lesen. Denn die Bibel kommt sofort zur Sache: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: es werde Licht! Und es ward Licht."

Schon im ersten Kapitel der Bibel geht es also um Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Anfang und Ende, den Geist, das Chaos und die gewaltige Kraft, die ordnet und strukturiert. Bereits hier ist das Szenario beschrieben, in dem die Geschichte Gottes mit dem Menschen spielt. Und am Ende der Bibel, in den letzten beiden Kapiteln der Apokalypse, lesen wir in der letzten Vision des Sehers Johannes von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, in der kein Tod mehr sein wird, kein Leid und Schmerz, wenn diese erste Schöpfung vergangen sein wird.

Hier der Bericht von der ersten Schöpfung, dort die Vision von der neuen Welt, und dazwischen spielt in über 1.100 Kapiteln die Geschichte Gottes mit dem Menschen. Von nichts anderem handelt die Bibel. Zunächst lesen wir in den ersten elf Kapiteln der Genesis die zeitlos gültigen Erzähl-Mythen von der Erschaffung der Welt, des Menschen, seiner Vertreibung aus dem Paradies, dem Um-sich-greifen und Wachsen der Sünde im ersten Brudermord Kains, im Turmbau von Babel, der Sintflut.

Auch die menschlichen Katastrophen werden thematisiert - das unterscheidet die Bibel von anderen Religionsbüchern

Das ist keine Urgeschichte im Sinne längst vergangener Geschichte, sondern handelt von Dingen, die immer noch und immer wieder geschehen. Im Krieg zwischen Moslems, Serben und Kroaten auf dem Balkan spiegelt sich die Geschichte Kains und Abels wider, die gewaltsame Erhebung des einen Bruders über den anderen. Der Turmbau von Babel bleibt das Synonym für das Streben nach göttlicher Macht, sei es durch den Eingriff in die letzten Geheimnisse des Lebens durch die Gentechnik oder durch die technische Möglichkeit, die ganze Schöpfung mit Atomwaffen in eine Wüste zu verwandeln.

Die Bibel handelt von der Geschichte Gottes mit dem Menschen, und es ist grandios, dass von Beginn an kein Heldenepos geschrieben wird, dass hier nicht ein Volk seine Vorgeschichte verklärt und ins Göttliche erhebt, wie es in anderen Kulturen und Religionen gang und gäbe war - und bis heute ist. Vielleicht macht genau dies die Bibel zum verehrungswürdigen Buch, dass die menschlichen Katastrophen zum Thema gemacht werden, vielleicht ist es genau das, was die Bibel über die Bücher der anderen Religionen weit hinaushebt.

Auch in der Geschichte Israels, beginnend mit der Vätergeschichte ab Genesis 12, hält sich dieser Ansatz durch: Keine Heldengeschichten, keine in den Himmel gehobenen Erfolgsstorys, sondern Geschichten von Menschen, die an ihrem Tiefpunkt noch eine Zukunft haben. In den Abgründen des Lebens, im Scheitern, in Schuld und Versagen ist Gott dem Menschen nahe. Auch wenn alles verquer geht, bei Abraham, bei Moses, natürlich bei Hiob - immer steht am Ende Hoffnung oder Verheißung. Auch diese Linie zieht sich durch die Biographien der Bibel bis zu Jesus, den Gott aus dem absoluten Tiefpunkt, dem gänzlichen Scheitern im Tod, zum Leben erweckt.

Die Bibel ist für "normale" Menschen geschrieben, nicht für die Theologen

Die Bibel ist deshalb kein Lehrbuch, sondern ein Erzählbuch über das Leben. Nicht geschrieben für die Theologen, sondern für jeden Menschen. Nicht vom Himmel gefallen oder von einer göttlichen Macht diktiert wie die Bücher anderer Religionen, sondern ein menschlich-lebendiges Zeugnis der Erfahrung mit Gott.

Wenn die christliche Religion dabei ist, ihr Deutungsmonopol, ihr Sinnstiftungsmonopol zu verlieren, sollte dies für uns Anlass für eine Rückbesinnung auf das "Lebensbuch Bibel" sein. Weil hier menschliche Erfahrung und göttliche Offenbarung zusammenkommen, war die Bibel schon immer das unruhige Element im Christentum, das verkrustete Strukturen aufbrechen kann. In der Kirche und in unserem Lebenslauf.

Die Bibel sollte deshalb unser Begleiter sein und bleiben. Der amerikanische schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King empfahl seinen Anhängern, im Falle ihrer Verhaftung immer eine Zahnbürste dabeizuhaben - und eine Bibel. Was kann uns dann schon passieren, was nicht schon geschrieben steht?