Das Leben ist mir eine einzige Last, schreibt mir ein Mann, den ich hier Heinz nenne, in einer E-Mail. Heinz ist 80 Jahre alt, gar nicht bettlägerig oder schwer krank, aber: Diese Einsamkeit, schreibt er, die bringe ihn um. Dann erzählt er mir von vielen traurigen Erfahrungen mit den Menschen, mit der Welt und mit Gott und sagt unumwunden: "Ich bin schwer suizidgefährdet."

Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland rund 10 000 Menschen das Leben. Noch viel mehr versuchen es. In 90 Prozent der Fälle liegen die Gründe nicht in körperlichen, sondern in psychischen Erkrankungen wie Depressionen. Menschen wie Heinz haben es schwer mit dem, was wir in unserem Glauben so oft für selbstverständlich halten: dass wir das Leben als eine Gabe betrachten, die schützenswert ist.

Ist das Leben ein Geschenk, das man auch ablehnen kann?

Die meisten Menschen empfinden das einfach so. Sie hängen sehr an ihrem Leben und tun alles, um es so lang wie irgend möglich zu erhalten. Ja, natürlich sollen die Verheißungen für das ewige Leben hoffentlich wahr werden, aber das mit dem Sterben hat bitte noch möglichst lange Zeit. Menschen wie Heinz empfinden anders. Das Leben erscheint ihnen wie ein Geschenk, mit dem sie nichts mehr anfangen können, ja im Gegenteil: das ihnen unerträgliche Mühe macht.

Darüber zu reden ist bis heute schwer. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die anderen Menschen, die diese Gefühle nicht kennen. Der Suizid bleibt in der Gesellschaft wie in der Kirche tabuisiert. Und das, obwohl der Suizid die Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt. Das Christentum war sich im Laufe der Geschichte bis auf wenige Ausnahmen in seiner ablehnenden Haltung einig.

Die Bibel sagt wenig zum Suizid

Dabei konnte es sich kaum auf eindeutige Bibelverse gegen den Suizid berufen. Er wird nämlich biblisch kaum thematisiert. Die wenigen Zeugnisse bleiben beschreibend: Saul und sein Waffenträger etwa stürzen sich in ihre Schwerter, um ehrenvoll Angreifern zu entgehen (1. Samuel 31, 1-6). Judas Iskariot hat sich dem Matthäusevangelium zufolge nach dem Verrat an Jesus erhängt (Matthäus 27, 5). Kommentiert oder verurteilt werden die Taten nicht.

Wie hat sich die christliche Ablehnung des Suizids dann begründet? Zum einen ergab sie sich aus der theologischen Hochschätzung des Lebens. Bei aller Hoffnung auf das vollkommene Leben in der Ewigkeit ist theologisch immer klargestellt worden: Auch das irdische ist das von Gott geschaffene und geliebte Leben, das auf dem Weg zur Ewigkeit seine Bedeutung behält. Zum anderen hat sich die christliche Haltung in Abgrenzung zur antiken Umwelt entwickelt. Denn damals war die Vorstellung des möglichst leichten, würdevollen oder schnellen Sterbens durchaus üblich und hat insbesondere bei den Eliten zu einem aus heutiger Sicht liberalen Umgang mit dem Suizid geführt. Dagegen lehnte das Christentum eine solche Eigenmächtigkeit des Menschen ab, weil allein Gott über das Leben verfüge. Paulus’ Theologie hat das unterstützt:

"Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark." (2. Korinther 12, 10)

Leiden und Schmerzen erscheinen fortan vor allem als Prüfungen Gottes: Aushalten statt Aufgeben!

Lange richtete sich der Blick von Theologie und Kirche beim Suizid also vor allem auf die als Sünde verstandene Tat: Es handle sich, neben den seltensten Ausnahmen wie dem Märtyrertod, um eine unstatthafte Flucht vor der eigentlich erwarteten Bewährung in Anfechtungen. Lange wurden Menschen nach einem Suizid darum "Selbstmörder" genannt und nicht kirchlich bestattet, sondern öffentlich verbrannt. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden sie nicht einmal auf dem Friedhof, sondern nur in "ungeweihter Erde" beerdigt.

Sünde an Gottes Geschenk des Lebens

Dem entsprach, dass Suizid auch im weltlichen Recht bis ins 19. Jahrhundert strafbar war. Neben ihrer Trauer und Scham angesichts der öffentlich sichtbaren Schmach mussten sich die Angehörigen dann auch noch Sorgen um das Seelenheil ihrer Verstorbenen machen, denn "Selbstmörder", die sich vermeintlich an Gottes Geschenk des Lebens versündigt hatten, würden nicht in den Himmel kommen, sondern müssten mit ewigen Strafen und Verdammnis rechnen. 

Neben dieser Härte im Urteil hat sich im Christentum im Mittelalter aber auch etwas entwickelt, das in anderer Weise für den jetzigen Umgang mit vom Suizid Betroffenen bedeutsam werden sollte: Mit den Hospizen entstand eine ganz neu organisierte Kultur des Mitleids, der Barmherzigkeit und Pflege für Kranke, Leidende und Sterbende. 

Begleitung und Trost statt Strafe

Die Menschen mit ihrer Not in den Blick zu nehmen – das ist heutzutage der kirchliche und diakonische Weg im Blick auf Suizid. Verurteilung und Bestrafung sind heute seelsorglicher Begleitung, Trost und Prävention gewichen. Im Vordergrund steht die Idee, den Sterbewunsch möglichst durch die Linderung von körperlichen oder seelischen Qualen abzuwenden. Die evangelische und die katholische Kirche gehen diesen Weg gemeinsam, wie die "Ökumenische Woche für das Leben" 2019 zum Thema Suizidprävention zeigt: "Als Christen wollen wir unseren Mitmenschen beistehen in ihrem Nachdenken über das, was sie hält und trägt, und über das, was brüchig und dunkel ist." 

Gesellschaftlich ist beim Suizid immer mehr die Frage nach der Selbstbestimmung in den Blick gekommen. Das Recht ist sehr sensibel dafür geworden, die individuellen Rechte der Menschen und ihre Vorstellungen für ihr Leben zu achten. Rein juristisch ist daher schon längst geklärt: Sich selbst zu töten ist als äußerste und letzte Möglichkeit dieser Selbstbestimmung erlaubt. Für mich als Pfarrerin zieht das Nachdenken über "Selbstbestimmung" am Lebensende allerdings noch deutlich weitere Kreise: Erlebe ich doch jeden Menschen eingebettet in ein ganzes Beziehungsnetzwerk zu anderen Menschen, zur Welt und zu Gott. Und so bestimmt der "selbstbestimmte Suizid" eben über diese Beziehungen mit. Auch wenn Verwandte oder Freunde den Schritt vielleicht nachvollziehen können, fühlen sie sich doch oft getroffen und beeinflusst von der Tat. 

Von Gottes Liebe, die alles umfängt

Und die Beziehung zu Gott? Wird sie durch einen Suizid belastet oder gar zerstört? Die Zeiten, an einen Gott zu glauben, der sich nach einer menschlichen Selbsttötung beleidigt zurückzieht oder erzürnt straft, sind – Gott sei Dank – vorbei. Es ist wohl eher dran, in diesen Fällen von Gottes unendlicher Liebe, wie sie in Jesus Christus aufgeleuchtet ist, zu erzählen. Von der Liebe, die alles umfängt und die den Menschen in die dunkelsten Winkel des Lebens nicht allein gehen lässt. Zu meiner Hoffnung gehört, dass der Mensch, der sich das Leben genommen hat, bei Gott vor allem die Heilung erfährt, die er im Leben in dieser Welt nicht finden konnte. 

Aus dem Recht auf Selbstbestimmung – und somit auch auf einen Suizid – hat sich eine viel diskutierte Folgefrage entwickelt: Sollen oder müssen wir einem Menschen deshalb auch ermöglichen, sich selbst zu töten? Da schon lange klar war, dass Verwandte oder Freunde manchmal zutiefst mitleiden und dann Beihilfe zum Suizid leisten, war das deutsche Strafrecht mit ihnen sehr milde. Die Beihilfe blieb straffrei, sofern sich die Helfenden nicht in der sogenannten Garantenstellung befanden, also z. . Eltern von minderjährigen Kindern oder Ärzte waren. 

Suizid darf kein Geschäft sein

2020 hat das Bundesverfassungsgericht nun den Paragrafen 217 für verfassungswidrig erklärt, wonach geschäftsmäßige, also "auf Wiederholung angelegte" Suizidbeihilfe (wie z. . durch Vereine wie Exit oder Dignitas) verboten war. Das Recht auf Selbstbestimmung wird in dem Urteil fundamental neu ausgelegt: Ausnahmslos jeder Mensch, ob schwer krank oder mit Liebeskummer, leidend oder gesund, hat nun den Rechtsanspruch, ein niedrigschwelliges Angebot zur Selbsttötung zu bekommen. Eine solche juristische Entscheidung fordert den christlichen Glauben zweifach heftig heraus: in seinem Verständnis des schutzwürdigen Lebens und auch der Selbstbestimmung. 

Nun zelebrieren nicht wenige diese Gerichtsentscheidung als einen großen Zugewinn an Freiheit. Aus christlicher Sicht müssen aber die vielen Menschen in den Blick kommen, die dadurch gerade unfreier und fremdbestimmter werden, weil sie emotionalen und sozialen Druck spüren. Nein, das sind nicht jene wenigen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte empfinden, ein Freitod sei ein passender Schlusspunkt hinter ihrem reichen, selbstbestimmten Leben. Die Möglichkeit, sich selbst das Leben zu nehmen, steht nun vielmehr drohend auch bei all jenen im Raum, die in prekären Situationen leben, die ihren Angehörigen nicht zur Last fallen wollen oder deren geistige Kräfte nachlassen. Bei Menschen wie Heinz, die in ihren einsamen Depressionen nun eine leichte "Lösung" bekommen.

Zugewinn an Freiheit oder wachsender Druck zum "Abschied"?

Der christliche Glaube und die Kirche haben gut daran getan, dass sie ihre Haltung gegenüber dem Suizid im seelsorglichen und barmherzigen Sinne verändert haben. Was es nun in den neuen gesellschaftlichen Debatten um die Beihilfe zum Suizid braucht, ist, auf die Bedeutung der Freiheit für die Schwächeren in der Gesellschaft hinzuweisen. Es braucht eine Kultur, in der Selbstbestimmung nicht zuerst als Möglichkeit, den Tod zu wählen, sondern geschützt leben zu dürfen, gedacht wird. 

Wie es Heinz genau geht, weiß ich nicht. Ich habe ihm auf jede seiner Mails geantwortet. Ohne moralischen Zeigefinger, hoffentlich ohne Druck. Noch sind keine Gleise im Haus, schreibt er. Ich bin jedes Mal froh, wenn er wieder, wenn er noch antwortet.

 

VORSCHAU: In der nächsten Ausgabe macht sich Norbert Roth auf die Suche nach Engeln.