Schmackhafte Buchstaben

In jedem Supermarkt gibt es sie, bei den Nudeln. Meist in kleinen Päckchen, kosten auch nicht viel. Essbare Worte – Buchstabensuppe. In der Suppe schwimmen die Nudel-Buchstaben umher und ergeben seltsame Wörter. Man kann sie auch rausfischen und seinen Namen legen, oder ein Spottwort oder irgendwas Lustiges. Und dann isst man die Buchstaben auf. Mit Essen spielt man nicht? Doch, mit Buchstabensuppe muss man spielen, sonst könnte man ja auch ganz normale Suppennudeln essen, wo bleibt denn da der Spaß? Zum Aufessen gern habe ich auch noch eine andere Art Buchstaben: Russisch Brot. Würzig, karamellig und schokoladig, süß und auch ein bisschen bitter, die Oberseite glänzt, als wäre sie lackiert und die Unterseite ist ganz eben vom Backblech. Und die Keks-Buchstaben zum Schulanfang. Die ABC-Schützen – nennt man die Schulanfänger heute noch so? – finden dann das ABC essbar in ihrer Schultüte.

Im Judentum wird der Beginn der Ausbildung und damit natürlich auch das Erlernen der Buchstaben schon früh von einer süßen Tradition begleitet: Auf eine Schiefertafel schreibt der Lehrer die ersten und die letzten Buchstaben des Alphabets –die ersten vier Buchstaben vorwärts, die letzten vier Buchstaben rückwärts, er liest sie vor, einen nach dem anderen, der Schulanfänger spricht sie nach und dann bestreicht man die kleine Schreibtafel mit einem Löffelchen Honig. Der junge Schüler darf dann den Honig von den Buchstaben lecken. So hat er das Alphabet vorwärts und rückwärts, in- und auswendig gelernt. Das Erlernen der Buchstaben ist der verheißungsvolle und süße Weg hin zum Erlernen der Heiligen Schrift und so der Weg hin zu Gott.

Von süßer Schrift ist auch im heutigen Predigttext die Rede. Der Prophet Hesekiel erfährt gerade seine Berufung. Nach einer mächtigen Vision wird er von Gott angesprochen, er erhält seine Aufgabe. Doch es sind bittere Worte, die er sagen muss – viele sehr bittere Worte. Wir hören den Text in der sehr schönen aber auch sehr fremdartigen Übersetzung von Martin Buber:

Er sprach zu mir:

"Menschensohn, steh auf deine Füße, ich will mit dir reden."

Geistbraus kam in mich, sowie er zu mir redete, er stellte mich auf meine Füße, ich hörte den zu mir Redenden. 

Er sprach zu mir:

"Menschensohn, ich schicke dich zu den Söhnen Jissraels, zu den empörerischen Stämmen, die sich gegen mich empörten; sie und ihre Väter waren abtrünnig mir bis auf ebendiesen Tag.  Die Söhne also, – starren Antlitzes, harten Herzens, – ich schicke dich zu ihnen, sprich zu ihnen: So hat mein Herr, ER, gesprochen…!

Sie nun, ob sie hören, ob sies lassen – denn sie sind Haus Widerspann –, erkennen werden sie, daß ein Künder da war in ihrer Mitte.

Du aber, Menschensohn, fürchte dich nimmer vor ihnen, vor ihren Reden fürchte dich nimmer, weil Nesseln und Stachel um dich sind und unter Skorpionen du siedelst, vor ihren Reden fürchte dich nimmer, vor ihrem Antlitz sei nimmer bestürzt, denn sie sind Haus Widerspann.

Du aber, Menschensohn, höre, was ich zu dir rede, sei nimmer widerspenstig wie das Haus Widerspann! Sperre deinen Mund auf und iss, was ich dir gebe!"

Ich sah, da, eine Hand, zu mir ausgeschickt, und da, eine Buchrolle in ihr,  die breitete er vor mich hin, sie war vorn und hinten beschrieben, und geschrieben war drüber: Klagrufe, Seufzen und Weheschrei.

Er aber sprach zu mir:

"Menschensohn, was dir gereicht wird, iß, iß diese Rolle, und geh, rede zum Haus Jissrael!"

Ich öffnete meinen Mund, er aber ließ diese Rolle mich essen. Dann sprach er zu mir:

"Menschensohn, [nähre] deinen Leib, fülle deinen Bauch mit dieser Rolle, die ich dir gebe!"

Ich aß sie, sie ward in meinem Munde wie Honig süß. (Hesekiel 2-3,3)

Haus Widerspann

Eine nahezu hoffnungslose Aufgabe hat der Prophet da: Er soll dem Volk predigen, aber die werden – oder werden nicht zuhören – das ist schon fast egal. Hauptsache sie können hinterher nicht sagen: "Es hat uns  keiner was gesagt!" Der Adressat: Das "Haus Widerspann". Im Text der Bibel ist das Haus Widerspann ja das Haus Israel – klar, aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Text in der Heiligen Schrift des Volkes Israel steht. Im Grunde wendet sich der Text also direkt gegen die Leser. Ja, im Grunde fragt der Text jeden, der diesen Text hört oder liest: Na, gehörst auch du zu diesem widerspenstigen Volk? Kannst Du die Worte schlucken oder würgst Du sie hervor, unverdaut und unverstanden, nur schnell weg damit?

Ja, so lesen wir den Text angemessen, er richtet sich an uns! Auf die Frage, ob auch ich zu diesem Hause gehöre, muss ich wohl bekennen: "Ja, nur all zu oft!" Und dann ist es klar, wo dieses Haus Widerspann seinen Wohnsitz hat: Es ist in uns selbst. Auch der arme Prophet mit seiner schier unmöglichen Aufgabe scheint aus diesem Haus zu stammen, denn er sieht zwar die Schriftrolle, die Gott ihm hinhält, aber er möchte sie nicht schlucken. Nach der zweiten Aufforderung öffnet er erst seinen Mund – wohl zögerlich und mit großem Widerstand. Das soll ich essen? Erst beim dritten Mal nimmt er die Worte dann zu sich. Und die Worte werden in seinem Mund süß wie Honig.

Aber nicht so schnell. Was im Text sehr knapp beschrieben wird, das braucht im echten Leben meist länger. Tage, Wochen, ja Jahre kann es dauern, bis uns das, was uns so bitter vorgesetzt wird, irgendwann süß und nahrhaft wird. Kann ich das annehmen?

Ich hatte Theologie studiert, dann meine Zeit als Vikar abgeschlossen, nun ging es darum, dass mir die Kirche eine erste Stelle zuweisen sollte. Die erste Stelle ist oft anfängertauglich. Jungen Pfarrern mutet man noch nicht die wirklich dicken Brocken zu, sondern man gibt ihnen in den ersten Jahren die Gelegenheit zu wachsen und zu gedeihen. Eines Tages kam dann auch der Anruf vom Direktor des Predigerseminars: Ja, Herr Kley, ich habe eine schöne Stelle für Sie – es ist eine Schulstelle. Wie bitte? Sie machen doch Witze!? Nein, nein, alles ernst, natürlich gäbe es da auch noch eine Alternative…

Die Alternative war sehr weit weg von meinen Vorstellungen, sie anzunehmen war mir unmöglich. Die angebotene Schulstelle aber… naja, ich war schon nicht gerne Schüler gewesen. Als Pfarrer in der Ausbildung ging es mir an der Schule nicht gut. Ich hatte keine Kontrolle über die Klassen, hatte keine Ahnung, was die Kinder verstehen und was nicht, was sie interessiert und was ihnen herzlich egal ist. Ich stand in der Rolle des Religionslehrers in der Klasse und kam mir zumeist einfach sehr, sehr fremd vor. Eine glatte Fehlbesetzung.

Und jetzt die muntere Stimme des Leiters des Predigerseminars am Telefon: Ich habe eine Schulstelle für Sie! Es war furchtbar. Ich war am Boden zerstört. In einer Gemeinde habe ich meine Zukunft gesehen, Gottesdienste, Predigten, Konfirmandenarbeit. Darauf hatte ich mich vorbereitet, darauf hatte ich auch Lust. Und jetzt? Schule? Jeden Morgen?

Es hat fast zwei Jahre gebraucht und es war eine schwere Zeit. Dann, nach und nach, passierte mir, dass der Lehrer in mir, der sich die ganze Zeit so sorgfältig versteckt gehalten hatte, Stück für Stück zum Vorschein kam. Meine Schulstunden waren natürlich nicht perfekt. Was ist schon eine perfekte Schulstunde? Nein. Aber Perfektion habe ich auch nicht mehr angestrebt. Ich habe gelernt, so Lehrer zu sein, wie ich es eben sein kann. Und jetzt? Ich kann mir gut vorstellen, bis zur Rente als Lehrer zu arbeiten. Es ist ein schöner Beruf. Nicht leicht, aber das ist es als Gemeindepfarrer auch nicht. Der Schuldienst hat Vorteile und Nachteile. Tauschen möchte ich jetzt aber nicht mehr. Ja, ich liebe meinen Beruf. Und aus dem bitteren Urteil ist etwas Süßes geworden. Sehr langsam, aber doch.

Kritikfähig?

Eine ganz andere Art, Wörter zu kauen oder sie mal besser, mal schlechter zu verdauen, kennen Sie wahrscheinlich ebenfalls: Das geht so. Man lebt ganz alltäglich vor sich hin, tut, was man eben so zu tun hat, erfüllt alle Pflichten und gibt sich redlich Mühe, auch die Kritik von anderen anzunehmen, denn dass man alles richtig macht, davon braucht man gleich gar nicht ausgehen. In den meisten Berufen muss man sowieso damit rechnen: Kollegen fragen nach, ob das alles wirklich so richtig ist. Oder der Vorgesetzte weist einen darauf hin, dass man doch hier und da noch etwas genauer hinschauen soll. Das alles ist ganz unaufgeregt, wertschätzend, so, wie man das eben heute so macht. Ganz zivilisiert.

Aber dann passiert es, dass unverhofft, aus einer Ecke, aus der man es wirklich nicht erwartet, ganz direkte und harte Kritik kommt. Uff! Und statt diese Kritik wie ein wohl zivilisierter Mensch geschmeidig anzunehmen, liegt sie einem quer. Ja, man kann sich im Augenblick noch zusammenreißen, geht nicht gleich darauf los, bleibt ruhig, aber dann, zuhause oder nachts…

Und je nach Temperament reagiert dann jeder anders: die einen richten ihre Abwehr eher nach außen, denken darüber nach, was der andere alles schon falsch gemacht hat oder hoffen, ihn auch mal so unverhofft zu erwischen. Andere richten ihre Energie eher nach innen, machen sich selbst Vorwürfe, sehen sich darin bestätigt, dass sie sowieso nicht gut genug sind, Loser, Versager. Da sieht man es wieder. Hoffentlich kann ich dem in Zukunft aus dem Weg gehen. Rückzug also oder Angriff – wie gesagt, je nach Temperament. Auch die Selbstrechtfertigung kann einen in so einer Situation gut beschäftigt halten: Er hat Unrecht, ich habe doch alles richtig gemacht und so weiter. Kennen Sie? Wahrscheinlich schon. Irgendwann aber – recht bald oder auch erst eine gute Weile später – kann man sich der unbequemen Wahrheit dann nähern, man schaut sich die vorgebrachte Kritik schön vorsichtig an und nimmt sie Schluck für Schluck zu sich – wie eine bittere Medizin. Dann beginnt man zu verdauen und wenn man Glück hat, lernt man sogar etwas daraus. Wachstum ist möglich, Freiheit, Leben. Der Weg aber ist schwer. Die Speise bitter.

Leib und Seele nähren

Wenn man auf dem Prophetentext eine Weile herumkaut, stellt sich aber noch eine ganz andere Frage: Warum muss der Prophet diese Rolle überhaupt schlucken, warum muss er sie verdauen? Gott sagt ja sehr deutlich: "Menschensohn, [nähre] deinen Leib, fülle deinen Bauch mit dieser Rolle, die ich dir gebe!" Das Wort muss also erst mal im Leib, ja im Bauch aufgenommen sein. Das ist ja schon fast ein wenig wie Abendmahl, wo die Gläubigen im Gottesdienst ihren Herrn Jesus Christus ganz unmittelbar in sich aufnehmen, ihn in sich hinein lassen und letztlich ja sich in diesen Leib Christi auch verwandeln.

Was mindestens befremdlich klingt, auch ein wenig magisch, das hat einen ganz konkreten und wahren Hintergrund: Das, was wir als Körper mit uns herumtragen, besteht auch aus dem, was wir im Lauf unseres Lebens zu uns genommen oder zugeführt bekommen haben. Ich bin Frühstück und Mittagessen, ich bin Kaffee und Tee, Brot und Kuchen, Wasser und Wein.

Und so, wie jeder Körper durch das leibliche Essen aufgebaut werden muss, so ist es auch im geistlichen Bereich. Schon die Kritik kann ich ja gar nicht annehmen, wenn ich sie nicht schlucke und sie in mir selber verwandle, sie verdaue zu etwas, was mich nährt, was mich innerlich aufbaut. Ich kann auch die neue Lebenssituation nicht annehmen – wie wir gesehen haben – wenn ich mich dieser Situation verweigere, wenn ich sie mir nicht zu eigen mache.

Die Schrift-Rolle, die der arme Prophet schlucken muss, ist besonders bitter und sie ist sogar doppelseitig beschrieben. Normalerweise beschreibt man Schriftrollen nur auf einer Seite. Nicht hier: Es gibt mehr "Klagerufen, Seufzen und Wehgeschrei", als auf eine Rolle passt. Als Nahrung würde ich wohl lieber etwas Angenehmeres wählen: "Komplimente, Anerkennung und Wertschätzung" aah, ja, das wäre lecker, davon gerne noch etwas mehr, bitte, aber doch nicht so etwas! Nein!

Das Bittere wird süß wie Honig

Der Prophet muss sich die Anklagen, die er vor seine Volksgenossen bringt, erst mal aneignen. Er muss selbst zum Wort Gottes werden, bevor er vor sein Volk treten kann, um ihnen Gottes Wort auszurichten. Dass die Rolle in seinem Mund süß wird – wie Honig, bedeutet nicht, dass die Klagerufe jetzt irgendwie weniger dringlich klingen. Und aus dem Wehgeschrei ist kein Jubel geworden. Aber Klagerufe und Wehgeschrei, die Klage Gottes gegen sein Volk, werden zumindest vom Propheten selbst jetzt nicht mehr als ungerecht und sinnlos zurückgewiesen. Wenigstens er erkennt in der Anklage auch den guten Willen Gottes.

So ist es ja auch sonst bei den Worten der Propheten, dass unter der Anklage Gottes und unter der Androhung all der bitteren Konsequenzen, die das Fehlverhalten der Menschen nun mal hat, immer die Liebe Gottes durchschimmert. Der Gott der Bibel will, dass sein Volk lebt. Er wünscht nichts so sehr, wie das Gedeihen seiner Kinder und die Fülle des Lebens für die Menschen. Und so klingen "Klagerufen, Seufzen und Wehgeschrei" auch nicht so sehr wie Anklage oder wie Strafgericht, sondern eher nach Leiden. Gott leidet an seinem störrischen Volk und er schickt ihm einen Propheten, was auch immer das Volk macht. Er schickt einen Boten, der die Beziehung aufrecht erhält, nur dass sie’s wissen. So. Fast trotzig klingt Gott. Trotzig in seiner Liebe.

Die Schrift kauen

Auch Martin Luther weiß etwas darüber, dass man das Wort Gottes kauen muss, ja, sogar wiederkäuen. Für ihn ist das Essen des Wortes Gottes ein Teil des geistlichen Lebens. Luther war ja Mönch und kannte die mönchischen Übungen seiner Zeit aus der eigenen Praxis gut. Als Reformator formt er auch die geistliche Praxis neu: Zentraler Teil des christlichen Lebens sei, so regt er an, das Wiederkäuen der Schrift. Dazu soll der Mensch sich betend Gott zuwenden und in dieser Haltung den Text der Bibel immer und immer wieder lesen und in sich aufnehmen.

Neben dem Wiederkäuen spricht Luther auch vom "schwanger gehen", und tatsächlich, die Worte für Leib und Bauch bei Hesekiel stehen auch für den weiblichen Leib. Und auch Luther spricht von Süßigkeit, die sich dann irgendwann einstellt. In einer Weihnachtspredigt beschreibt er diese Art, die Schrift zu lesen, genauer:

Das Evangelium ist so klar, dass es nicht lange ausgelegt werden muss. Es will nur gut betrachtet, angesehen und tief in das Herz hinein genommen werden.

Es wird keiner mehr Nutzen vom Lesen des Evangeliums haben als der, der sein Herz still hält, alle Dinge hinter sich lässt und konzentriert immer wieder in den Text hinein sieht.

Gleich wie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem bewegten, rauschenden Wasser nicht deutlich gesehen werden und kann es auch nicht wärmen. Darum, willst auch du durch das Evangelium erleuchtet werden, göttliche Gnade und Wunder sehen, dass Dein Herz entbrannt, erleuchtet, andächtig und fröhlich wird, so gehe hin, wo du stille sein und das Bild tief ins Herz fassen kannst. Da wirst du finden Wunder über Wunder.⁠

Das klingt wie eine Anleitung zur Meditation. Das ist es auch. Das Hören auf das Wort Gottes ist die Nahrung des Gläubigen. Mich fragen meine Schüler manchmal: Haben Sie eigentlich die Bibel schon mal ganz durchgelesen? Sie gehen davon aus, dass man die Bibel liest, wie Harry Potter – in einem Haps. Aber so wird das nichts. Die Bibel ist eher wie Knäckebrot, das dazu gebacken ist, lange zu halten und gut zu sättigen. Wer eine Packung Knäckebrot auf einmal in sich hineinstopft, bekommt sicher Schwierigkeiten beim Verdauen.

Satz für Satz, oft sogar Wort für Wort will die Bibel gekaut werden, meditiert werden, erst dann gibt sie ihre Süßigkeit preis. Man kann mit so einem Bibelsatz tagelang schwanger gehen. Langweilig wird das nie. Und gerade die Worte, die anfangs quer liegen, die Sätze, die einen nicht immer schon bestätigen in dem, was man eh schon denkt und meint zu wissen, die sind besonders wertvoll. Aus bitter wird süß. Aus dem Dunklen heraus schillert es oft besonders hell.

Evangelische Morgenfeier vom 16.02.2020 mit Pfarrer Hans Christian Kley, Landshut. Thema: Bittere Worte - Süß wie Honig