Heute ist der Sonntag vor Epiphanias, oder, wie man in Bayern sagt, vor "Heilig Drei König". Vielleicht sind die drei Könige mit ihrem Stern schon heute bei Ihnen unterwegs, ziehen in Ihrem Ort, in Ihrem Stadtteil von Haus zu Haus, singen und sammeln und segnen mit Kreide die Tür…

Ich will in Ihnen erzählen von einer anderen Königin, die sich auch aufgemacht hat. Sie kommt von weither. Ich werde sie begleiten, mit ihr den Weg nach Bethlehem suchen. Kommen Sie mit auf den Weg der Königin nach Bethlehem

Eine Königin aus alter Zeit

In alter Zeit gab es südlich der arabischen Halbinsel ein Land mit Namen Saba. Dort wärmte die Sonne am Tag die Erde und bei Nacht befeuchtete sie der Tau. Die Bäume trugen reiche Frucht und der Boden barg kostbare Steine. Die Menschen im Lande verehrten die Sonne als Spenderin allen Lebens. Sie lebten vom Reichtum, den die Erde hervorbrachte und achteten die Königin, die über sie herrschte. Lieblicher als der Mond war sie und ihre Weisheit funkelte wie die Sterne. Sie regierte ihr Reich mit Gerechtigkeit und lebte in Frieden mit allen, die innerhalb und außerhalb seiner Grenzen wohnten.

Manchmal aber überkam die Königin eine seltsame Unruhe. Dann sah sie nicht den Glanz des Lebens, das sie umgab, sondern das Dunkel des Todes, von dem sie wusste. Sie fragte sich: Setzt denn der Tod wirklich jedem Leben ein Ende? Begräbt er jede Hoffnung? Alle Weisen, die sie an ihrem Hof versammelt hatte, konnten diese Unruhe nicht stillen.

Eines Tages erhielt sie die Nachricht, es gäbe fern im Osten einen König mit Namen Salomo, dessen Reichtum, Pracht und Weisheit jedermann rühmte. Da sammelte sie ihren Hofstaat, belud ihre Schiffe mit Gastgeschenken aus Gold, Silber und edlen Hölzern und machte sich auf die Reise übers Meer. Am Ziel angekommen, zog sie in Jerusalem ein und die Stadt erstrahlte im Glanz des hohen Besuchs. Salomo nahm sie bei der Hand und zeigte ihr den Prunk seines Palastes und die Pracht des Tempels. Nachdem die Königin sich sattgesehen hatte an der Schönheit der Stadt, setzten sich beide zu Tisch, aßen und tranken und übertrafen einander in der Klugheit ihrer Rede und dem Tiefsinn der Fragen, die sie sich stellten.

"Sag mir, Salomo", fragte die Königin: "Wie viele Körner wachsen aus einem Saatkorn?" "Unendlich viele", sprach der König. "Die ganze Welt könnte davon satt werden. Doch sag nun du: Was gibt dem Meer lebendige Gestalt?" "Jeder einzelne Tropfen", antwortete sie, ohne lange zu überlegen. "Aber weißt du, ob es ein Wesen gibt, in dem alle gescheiterten Hoffnungen wiedergeboren werden?" Salomo dachte nach. "Ja", sagte er dann, "ja: in jedem neugeborenen Kind." Lange saßen die beiden so, fragten und redeten, redeten und fragten und die Königin bewegte, was sie gehört hatte, in ihrem Herzen. Am Ende lobte sie die Weisheit Salomos und pries Gott, der diesen König zum Herrscher gemacht und Recht und Gerechtigkeit hatte groß werden lassen in Israel. Dann nahm sie Abschied und machte sich auf den Weg zurück in ihr Land.

Ich könnte dieser Geschichte lange zuhören, in ihren Bildern schwelgen, die orientalische Pracht vor mir sehen, mir Gold und Glanz vorstellen. Aber mehr noch beschäftigt mich die Frage der Königin: Werden gescheiterte Hoffnungen irgendwo wiedergeboren? Können sie wieder lebendig werden? Meine Gedanken wandern in das Land, aus dem sie kommt.

Saba und Jemen…

Da alte Königreich Saba, das ist ein Teil des heutigen Jemen. Arabia Felix, glückliches Arabien, nannten die Römer zur Zeit Jesu dieses Gebiet. Heute wird der Jemen von politischen Beobachtern als der zerbrechlichste Staat der Erde eingeschätzt, noch weit vor Ländern wie Libyen oder dem Kongo.

Fragile states, zerbrechliche Staaten ist ein Begriff aus der internationalen Politik. Früher hat man sie "failed states", gescheiterte Staaten, genannt. Wie korrupt oder politisch zerrissen ein Land ist, wie schwach die Wirtschaft, welche Probleme es im Gesundheits- und im Bildungswesen gibt, wie gefährdet Menschenrechte und Pressefreiheit sind, wie viele Flüchtlinge im Land leben oder das Land verlassen… all das fließt ein in eine Rangliste, nach der Staaten in die Kategorien Alarm, Warnung, stabil oder nachhaltig kategorisiert werden.

Der Jemen steht seit Jahren ganz oben auf der Liste der Staaten, die unter Alarm eingeordnet werden. Das Land an der Spitze der arabischen Halbinsel ist in den letzten Jahren zum Inbegriff von gescheiterten Hoffnungen geworden, hin- und hergerissen im Kampf von Stämmen, religiösen Gruppierungen und auswärtigen Mächten, die sich Einfluss versprechen dort unten, am Horn von Afrika. Seit Jahren scheitern hier die Hoffnungen auf Frieden, immer wieder. Die Leidtragenden sind Kinder und ihre verzweifelten Eltern. Die größte jemals verzeichnete Choleraepidemie hat vor drei Jahren das Land erschüttert und Tausende Tote gefordert. Das Elend ist nicht geringer geworden, nur weil es gerade mal aus den Schlagzeilen verschwunden ist.

Staaten scheitern, sie zerbrechen – und mit ihnen die Hoffnungen der Menschen, die dort leben. In den Jahrhunderten, die auf die Herrschaft des weisen Salomo folgten, zerbricht das Großreich Israel in Krieg und Kriegswirren. Nichts ist mehr übrig von der Pracht Jerusalems. Der Tempel ist zerstört, die Paläste der Stadt liegen in Trümmern. Jerusalem ist ein unbedeutendes Landstädtchen geworden, das nicht einmal mehr eine Stadtmauer hat. Als seine früheren Bewohner nach Jahrzehnten zurückkehren, haben die Perser das Sagen im Land. Wer heimkehrt, steht unter ihren Gesetzen und ist der Willkür ihrer Beamten ausgeliefert. Die Männer und Frauen des Volkes Israel, die ein neues Leben beginnen wollten in Jerusalem, leben, als läge die Stadt im Dunkeln.

"Wir tasten an der Wand entlang wie Blinde", sagen sie von sich selbst. "Wir tappen wie die, die keine Augen haben. Wir stoßen uns am Mittag wie in der Dämmerung, wir sind im Düstern wie die Toten. … wir warten auf Recht und es ist nicht da, und auf Heil und es ist so fern." (Jes 59, 10f)

Da tritt mitten unter sie ein Prophet, der etwas ganz anderes sagt. Hören Sie selbst:

Mache dich auf, werde Licht; denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir. Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir geht auf der Herr und seine Herrlichkeit erscheint über dir. Und die Heiden werden zu deinem Licht ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.

Hebe deine Augen auf und sieht umher: Diese alle sind versammelt und kommen zu dir. Deine Söhne werden von ferne kommen und deine Töchter auf dem Arm hergetragen werden. Dann wirst du deine Lust sehen und vor Freude strahlen, und dein Herz wird erbeben und weit werden, wenn sich die Schätze der Völker am Meer zu dir kehren und der Reichtum der Völker zu dir kommt. Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen. (Jes 60, 1-6)

Die Verheißung weckt eine Hoffnung, die unruhig macht, aber auch lebendig. Sie ist keine Illusion und keine Vertröstung. Eine Illusion zerbricht, wenn sie nicht bald genau so eintrifft, wie erhofft; eine Vertröstung will von vornherein nur Zeit gewinnen, sie wird schnell schal, und lässt die Kräfte bald erlahmen.

Hebe deine Augen auf und sieh umher – wenn ich das heute höre, frage ich mich, wo für uns darin die Verheißung liegt – oder ob wir uns zu schnell von schönen Geschichten vertrösten lassen…

Heute die Augen aufheben und hinschauen

Hebe deine Augen auf… Vielleicht heißt das heute erst einmal: Schau hin. Lass dich nicht einlullen in deiner Blase von vertrauten Menschen, die alle das gleiche sagen und denken. Schau sie durch, zum Beispiel die Liste der zerbrechlichen Staaten und lies, was zu dieser Zerbrechlichkeit beiträgt. Gib dich nicht mit schnellen Antworten zufrieden. Erschrick, wenn du die Zeitung aufschlägst und dort zum Beispiel Seite um Seite graue Luftbildaufnahmen findest. Lies die rote Balkenschrift: China Cables, geheime Dokumente der Kommunistischen Partei Chinas.

Erschrick, wenn du erfährst, dass ein ganzes Volk zerbrochen wird, dass Hunderttausende Uiguren, Menschen einer überwiegend muslimischen Volksgruppe, die im Osten Chinas leben, in sogenannten Umerziehungslagern verschwinden und ihre Moscheen zerstört werden. Erschrick, wenn du erfährst, dass in diesen Lagern Zwangsarbeiter für deutsche Firmen schuften. Viele haben doch gehofft, dass das endgültig vorbei ist, dass es das niemals wieder geben wird: dass ein ganzes Volk bedroht und bedrängt wird, dass Zwangsarbeiter in Lagern für deutsche Unternehmen arbeiten müssen. Hebe deine Augen auf und sieh umher…

Mich macht das unruhig. Ich erkenne mich wieder in denen, die sich aufmachen wollen mit all ihren Fragen und suchen, wo sie Antworten finden. Mache dich auf und werde licht, greif hinaus über den engen Horizont, such mit deinen Fragen das Licht, halte sie ins Licht.

Es geht dabei um ganz konkrete Menschen. "Wir haben immer wieder erzählt, was in unserer Heimat geschieht", sagt einer, der aus der uigurischen Hauptstadt nach München geflohen ist und in Deutschland Asyl gefunden hat. "Aber keiner hat zugehört und niemand hat es ernst genommen." Warum eigentlich nicht? So fragt er – und so fragen sich manche, die durch die China Cables nun aufgeschreckt werden. Wir haben sie doch gehört, die Geschichten, die Stimmen, haben die Gesichter der Menschen gesehen, die ihre Familienangehörigen in Lagern haben verschwinden sehen.

Menschen verschwinden… Wo sind sie? Was geschieht mit ihnen? Die junge Frau aus einem afrikanischen Land z.B. Es ist auch eines von denen, die auf der Liste der zerbrechlichen Staaten stehen. Irgendwie ist sie nach Bayern gekommen. Ein Jahr war sie unterwegs, weg aus ihrem Wohnort, weg, weil die Lebenssituation dort für sie unerträglich geworden war. Ihren kleinen Sohn lässt sie bei einer Freundin zurück. Ein Schlepper nimmt sie mit. Als sie kein Geld mehr hat, verkauft sie ihm ihren Körper. Irgendwann ein Boot, irgendwann ein italienischer Hafen, ein Bus, durchgewunken, Glück gehabt.

Als ich ihr begegne, besitzt sie nur das, was sie auf dem Leib trägt. Auf dem Weg zu einer Unterkunft für die Nacht sitzen wir gemeinsam an der Bushaltestelle und erzählen einander von unseren Familien. Einen Moment lang denke ich: sie könnte meine Schwester sein. Für die Nacht bekommt sie ein Bett, kann sich ausruhen, die Augen zumachen. Am nächsten Morgen soll sie zum Sozialamt. Dort will man ihr weiterhelfen. Als ich zwei Tage später frage, was aus ihr geworden ist, sagt man mir: Sie ist nicht gekommen… Seitdem frage ich mich, was aus ihr geworden ist. Ich frage mich, in welcher Situation Frauen sein müssen, dass sie ihre Kinder zurücklassen, weil sie das Leben in ihrem Land nicht ertragen. Ich frage mich, wie viele andere wie sie unterwegs sind. Wo ist der Ort für meine Fragen? Wo suche ich nach Antworten?

"Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen."  Ich stelle mir vor, dass sich rund um das Jahr 0 eine Nachfahrin auf dem Thron jener Herrscherin, die damals Salomo besucht hatte, auf den Weg macht. Auch sie hat die Nachricht vernommen von einem König in einem fernen Land, der mehr als Salomo sein sollte, klüger noch als jener und an Reichtum und Glanz ihn weit übertreffend. Jedenfalls packt sie ihre Schätze und ihre Fragen zusammen und macht sich auf den weiten Weg.

In Jerusalem angekommen, erkundigt sie sich im Gewirr der Straßen nach dem Weg zum Palast, der groß, grau und abweisend über den Häusern thront. Sie hört die Menschen in den Straßen reden und merkt schnell, dass der, der jetzt auf Salomos Thron sitzt, nicht geliebt wird von den Frommen. Brutal und ehrgeizig sei er und im übrigen eine Marionette in den Händen der Römer. Ein König wie Salomo, gar "mehr" als dieser – nein, davon könne in Jerusalem leider keine Rede sein, sagt man ihr hinter vorgehaltener Hand. Da verlässt sie die Stadt und wendet sich nach Süden, enttäuscht und erschöpft. Die alte Geschichte, die sie in sich trägt, hat auf einmal viel von ihrem Glanz verloren. Jerusalem ist nicht der Ort, an dem sie ihre Schätze ausbreiten und ihre Fragen stellen kann.

Es ist dunkel, als sie Bethlehem erreicht. Vielleicht sucht sie ein Unterkommen für die Nacht. Vielleicht stutzt sie beim Anblick des Lichtes am Rand der kleinen Stadt. Das Licht jedenfalls zieht sie magisch an.

Sie kommt zu einem Haus, sie geht zögernd hinein. Andere drängen sich schon in dem kleinen Raum. "Armselige Gestalten", denkt sie, als sie die Männer sieht und ein paar Frauen mit kleinen Kindern an der Hand. Sie machen ihr Platz, als sie näher treten will – aber sie lassen sich nicht stören. Es ist, als ob ihr vornehmes Gewand und die Kostbarkeiten, die sie mit sich trägt, nichts sind gegen das Licht, das in dem Haus leuchtet. Vorsichtig schiebt sie sich durch die, die vor ihr stehen – dann sieht sie das Kind. Ein kleines Bündel, vor kurzem zur Welt gekommen. Es liegt in den Armen seiner Mutter, die es mit vorsichtiger Geste umfängt, als befürchte sie, es könne zerbrechen.

Das Kind finden

Sie kann sich kaum sattsehen an dem Kind und an dem Licht. Sie blickt in die Gesichter derer, die neben ihr stehen. Aller Augen ruhen auf dem Kind. Es ist nicht laut in dem Haus, ein vorsichtiges Flüstern ab und an, das Scharren der Füße auf dem Boden. Nun, als sie mit den anderen auf das Kind blickt, kommt ihr die alte Rätselfrage wieder in den Sinn: "Weißt du, ob es ein Wesen gibt, in dem alle gescheiterten Hoffnungen wieder geboren werden?" – und noch einmal hört sie die Antwort des Salomo: "In jedem neugeborenen Kind." Ja, denkt sie, in diesem Kind, in diesem Licht. Darin ist alle Hoffnung der Welt.

Dieses Kind, dieses Licht…Ich stelle mir vor, dass ich da neben ihr stehe. Was könnte ich erkennen? Liegt hier die Antwort auf meine Fragen? Mit fällt ein Lied ein, ein Weihnachtslied. Die schottische Sängerin Annie Lennox singt es: Universal Child. Auch sie schaut auf ein Kind – und sie sieht in diesem Kind alle Kinder, ja alle Menschen – in ihrer Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit, sie sieht die Herausforderungen und hört all die Fragen, die das Leben an sie stellt. Wie viele Berge wirst Du vor dir sehen, bevor Du lernst, sie zu bezwingen? Wie oft wirst du stolpern, bevor du fliegen kannst?

Ganz nah kommen mir diese Fragen, my Universal child, und auch ich kann nicht anders als mir vorzunehmen, diesem Kind alles zu geben, was ich ihm geben kann. Seine Schutzlosigkeit, seine Verletzlichkeit, seine Tränen, die Schatten, die sich auf das Leben dieses Kindes legen werden… In all dem gleicht dieses Kind allen Kindern, allen Menschen, überall. Es gleicht dem Kind in der Krippe, dem Kind, in dem alle gescheiterten Hoffnungen wieder geboren werden – und in dem ein neuer Anfang gemacht ist, der nicht im Scheitern enden muss.

Wenn wir uns von diesem Kind berühren lassen, dann hat das Folgen dafür, wie wir auf alle anderen Menschenkinder schauen. Dann geht uns ein Licht auf. Ich fühle, dass du überall bist und du strahlst wie die Sonne… Vielleicht liegt eine Antwort auf meine Fragen nicht darin, dass alle anderen sich verändern müssen oder ich ganz genau weiß, was ich tun soll  – sondern darin, dass ich verletzlich und berührbar und unruhig bleibe. Dass ich meine Fragen nicht loswerde mit einer richtigen Antwort, sondern dass ich sie wieder und wieder stelle und weitertrage.

Hinschauen, sich berühren lassen, von diesem Licht, von diesem Kind. Das ist nicht die Antwort auf jede Frage – aber es ist ein Anfang, eine neue Chance in einem neuen Jahr.

Evangelische Morgenfeier vom 05.01.2020 mit Pfarrerin Barbara Hauck, Nürnberg, Thema: "Die Königin in der Krippe"  (Jes 60, 1-6 / 2.Chr 9)