Tanz mit der Schriftrolle

Männer halten die Tora-Rolle im Arm wie ein Kind, wiegen sich mit ihr im schnellen Tanz, andere folgen ihnen, drehen sich im Reigen und singen Lieder. Sie loben Gott und sie preisen die Menschen, denen er ein so ein großes Geschenk gemacht hat. Die Tora-Rolle wird weitergereicht, dann wird sie auf dem Lesepult abgelegt, Männer und Frauen und sogar Kinder stellen sich an die offene Schriftrolle.

Mit großem Ernst rezitieren sie die letzten Abschnitte des fünften Buchs Mose in einem besonderen Singsang, immer wieder, bis jeder einmal gelesen hat. Sofort im Anschluss daran werden die ersten Worte der Tora gelesen, die auch die ersten Worte unserer christlichen Bibel sind: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde...

So eine Tora-Rolle ist ein Schatz: handgeschrieben auf etwa 30 Meter feinstem Pergament, gewickelt um zwei Holzstäbe, die Bäume des Lebens. Ein Schreiber schreibt an so einer Rolle mehr als ein halbes Jahr. Sie enthält die fünf Bücher Mose, die auch wir im Gottesdienst lesen.

Genau heute wird das Geschenk der Tora in den Synagogen weltweit gefeiert. Heute ist das jüdische Freudenfest über das Gesetz, der Dank für die Weisung, die Gott seinem Volk gegeben hat.

Diese Weisung bedenken heute auch evangelische Christinnen und Christen in ihren Gottesdiensten. Wir hören von Mose. Er hat seine Aufgabe, zu der Gott ihm berufen hat, fast erfüllt. Alle Gebote Gottes hat er treu dem Volk übergeben. Abschließend macht er klar:

Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.

Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir's hören und tun?

Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir's hören und tun?

Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

(5. Mose 30,11-14)

Die Gebote sind nicht hoch und nicht fern, sie sind nicht schwer zu verstehen oder kompliziert zu halten, sie sind ganz bei Dir und in Dir, in Deinem Mund, ja sogar im Herzen. Das behauptet Mose, das behauptet die Bibel und wir hören es und sind auch gemeint.

Die Gebote

Ist das so? Ist das Gebot in unseren Herzen? Und was ist da eigentlich gemeint, wenn Mose sagt: "Das Gebot, das ich Dir heute gebiete"? Klar, die Zehn Gebote gehören dazu. Die kennen wir, denn sie gehören zum christlichen Grundwissen. In der Schule lernen die Kinder sie auswendig. Doch über die anderen Gebote habe ich weder im Kindergottesdienst, noch im Studium ausführlich gehört. Und ich kenne auch kaum eine Predigt darüber.

Zu diesen weniger bekannten Geboten gehören etliche Regeln für den Dienst am Tempel – der seit fast 2000 Jahren zerstört ist – und Regelungen zur kultischen Reinheit. Die sind im Christentum tatsächlich nie übernommen worden. Das war eine klare Entscheidung, die am Anfang des Christentums bewusst getroffen wurde. Und auch die Gebote zur Durchführung der jüdischen Festtage spielen im Christentum natürlich keine Rolle.

Doch da gibt es auch Gebote über das Jubeljahr, in dem der Acker ruhen darf und alle Schulden erlassen werden. Ein interessanter Gedanke! Da gibt es Gebote, die den Gerichtsprozess regeln und Gebote, die die Armenfürsorge sichern. Sogar Regeln für eine nachhaltige Nutzung der Natur sind in den fünf Büchern Mose zu finden. Da wartet also noch ein ganzer Schatz von Lebensweisheit auf seine Wiederentdeckung.

Ein Stück weit liegt es auch an Martin Luther, dem Reformator, dass die evangelische Kirche die Gebote nicht so aufmerksam liest wie andere Teile der Bibel. Als Jura-Student hat Luther die juristische Gerechtigkeit kennen gelernt, da geht es um angemessene Rechtsprechung und um Strafvollzug. Als Mönch dann im Kloster musste er sich an außerordentlich strenge Gebote halten und er begann Gott zu fürchten, ja, zu hassen, denn das Geforderte konnte er nicht erfüllen. Dann aber fand er in einem Vers bei Paulus die Gnade Gottes und begann, die Kirche zu erneuern.

Im Streit mit Rom verlor er vollends das Vertrauen in das Gesetz, es war nur ein Mittel zur Macht. Diese vielfältigen Erfahrungen hat Luther auf die Gebote Gottes übertragen. Für Luther waren die Gebote vergiftet. Gesetzesfrömmigkeit wurde so zu einem Schimpfwort, das auch heute noch Verwendung findet.

Wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen

Der Text für den heutigen Sonntag spricht ganz anders über die Gebote. Hier überwiegt die Freude. Die Gebote sind nichts Fremdes, nichts von außen, was man halten muss oder soll, sondern sie kommen aus dem innersten Herzen. Auch die Psalmen sprechen positiv über die Gebote. Wohl denen, die da wandeln. Ein Lied, das auch im Gottesdienst immer wieder gesungen wird, spielt auf Psalm 119 an.

Wohl denen, die ohne Tadel leben,

die im Gesetz des HERRN wandeln!

Wohl denen, die sich an seine Zeugnisse halten,

die ihn von ganzem Herzen suchen,

die auf seinen Wegen wandeln

und kein Unrecht tun.

Du hast geboten, fleißig zu halten

deine Befehle.

O dass mein Leben deine Gebote

 mit ganzem Ernst hielte.

Wenn ich schaue allein auf deine Gebote,

 so werde ich nicht zuschanden.

Ich danke dir mit aufrichtigem Herzen,

dass du mich lehrst die Ordnungen deiner Gerechtigkeit.

Deine Gebote will ich halten;

verlass mich nimmermehr!

Wohl denen... Das heißt so viel wie: Glückwunsch! Gratulation! Der Psalmbeter vertraut auf die Güte der Wegweisung Gottes, er ist dankbar und er wünscht, ja, er gelobt, dass er selbst sich an die Gebote halten will. Die Gebote: Weg des Lebens, Rechtleitung, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit; auch "Rechtleitung" wirden sie genannt. Wenn Menschen den Willen Gottes tun, so leben sie.

Noch weiter geht der erste Psalm, also der Psalm, der diese Sammlung geistiger Lieder und Gebete eröffnet. Dort wird versichert: Wer mit Lust, also mit innerer Begeisterung die Gebote und Weisungen Gottes stets bedenkt und sie Tag und Nacht in seinem Herzen bewegt, der wird gedeihen, wie ein Baum, der ans Wasser gepflanzt ist. Wer sich bemüht, Gottes Weisung zu ergründen, dessen Leben wird reiche Früchte tragen. Hier spürt man etwas von der biblischen Freude am Gesetz.

Ganz konkret: Schule

Gebote begegnen uns auch im Alltag, als Vorschriften, als Straßenverkehrsordnung, als Hygieneverordnung und so weiter. Sind uns diese Gebote fern? Stehen sie uns fremd gegenüber, lehnen wir uns gegen sie auf? Oder sind sie uns ganz selbstverständlich, befolgen wir sie so, wie Wasser bergab fließt? Ob die Gebote innerlich und vertraut sind oder ob sie äußerlich und fremd, ja, sogar feindlich auf uns wirken, liegt oft nicht nur an den Geboten selbst, sondern an etwas anderem.

Als ich ein junger Lehrer war, musste ich folgende Frage für mich klären: Welche Regeln soll, ja, kann ich aufstellen, dass der Unterricht gelingt? Vollständig beantworten lässt sich diese Frage eh nicht, aber heute weiß ich wenigstens ungefähr die Richtung. Damals war ich blutiger Anfänger.

Ich stehe also vor einer Klasse in der Wirtschaftsschule, alles geht drunter und drüber und zwei junge Damen sind besonders auffällig. Sie sprechen laut und gestikulieren wild herum, andere aus der Klasse scharen sich um sie und lachen. Ich steh vorne am Pult und möchte gerne mit dem Unterricht anfangen. Ich denke: Ah, diese beiden muss ich in den Griff kriegen, dann kann ich hier arbeiten. Ich nehme also den Kampf auf. Sie nehmen die Herausforderung an, nur haben sie die Klasse auf ihrer Seite. Tja. Pech für den jungen Lehrer.

Ich muss also strenger werden. Und noch strenger. Bald setze ich Noten zur Strafe ein und versuche mit unangesagten Proben so viel Angst zu verbreiten, dass die Klasse klein bei gibt. Irgendwie werde ich meine Regeln doch durchsetzen können, denke ich bei mir. Irrtum. Das einzige Ergebnis ist, dass die Klasse immer noch feindseliger, noch verschlossener wird. Ich will eigentlich Religion unterrichten. Aber... in dieser Atmosphäre?... Ohne Offenheit und Vertrauen ist das völlig sinnlos. Meine Gebote, also meine hilflosen Versuche, Ordnung in das Chaos zu bringen, waren tatsächlich kein Weg zum Leben, sondern nur ein Weg der Feindschaft.

Eines Tages dann sitzt eine der beiden jungen Damen, die den Aufstand der Klasse gegen den jungen Lehrer so meisterhaft lenken, verheult in ihrer Bank. Die andere versucht sie zu trösten aber es hilft nichts. Das eine weinende Mädchen blockiert den Unterricht fast noch mehr, als der Kampf, den wir uns vorher geliefert haben. Ich gehe also auf die Schülerin zu und frage sie, ob sie mit mir vor die Türe gehen will.

Sie will. Ich nehme auch ihre Freundin mit hinaus und erkundige mich geduldig nach dem Grund der Tränen. Sie nennt ihn mir und wir reden ein paar Minuten. Die Klasse drinnen bleibt erstaunlicherweise ruhig. Nach einer Weile kehre ich in die Klasse zurück. Der Schülerin gebe ich noch etwas Zeit, sich draußen alleine zu beruhigen. Der Unterricht beginnt. Von diesem Tag an kann ich mit der Klasse arbeiten. Plötzlich läuft es.

Nach dieser Wende bespreche ich das Erlebte mit der Klasse und denke mit ihnen darüber nach, wie wir weiter arbeiten können. Die Schüler erklären mir ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten und ich höre ihnen zu. Dann benenne ich meine Grenzen und meine Möglichkeiten und sie hören mir zu. Jetzt endlich haben wir eine Grundlage, eine Beziehung. Auf dieser Basis kommen wir zu einer Art Regelwerk, das gerecht, nachgiebig aber nicht lasch, menschlich und barmherzig aber nicht faul ist. Die Gebote stehen nun nicht mehr fremd und feindlich zwischen uns, sondern sie sind Ausdruck unserer gemeinsamen Beziehung. Dankbar blicke ich heute auf diese Erfahrung zurück.

Gesegnet sind, die den Weg der Feindschaft verlassen und sich am Gebot Gottes erfreuen, das lebendig macht. Blessed are…

Das Gebot im Herzen

Immer wieder höre ich, dass die Lehrer an der Werteerziehung mitwirken sollen. Und dann werden die Werte aufgezählt: Höflichkeit, Pünktlichkeit, Respekt und Rücksicht. Und oft entsteht da so ein Druck, ein Imperativ, an den sie Schüler sich gefälligst halten sollen. Und die Lehrer sollen diese Werte irgendwie herstellen.

Ich habe gelernt, dass der Entstehung von Werten immer eine Beziehung vorangehen muss. Schon diese Beziehung muss die erhofften Werte und Haltungen beinhalten, aber die Beziehung kann nicht darin bestehen, dass die Werte einfach eingefordert werden.

Genau so ist das auch bei den Geboten unserer Bibel. In allen fünf Büchern Mose sind neben den Geboten immer auch Geschichten aufgeschrieben, die das Volk Israel mit seinem Gott erlebt hat, Geschichten voller Treue, voller Irrtum und Vergebung. Die Gebote der Bibel stehen auf einer breiten Basis von Erfahrung. Sie sind der lebendige Ausdruck der vertrauensvollen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk.

So lange die gemeinsame Basis aus Begegnungen und Erfahrungen nicht gelegt ist, sind die Gebote tatsächlich fremd und weit weg. Die Gebote mit offenen Ohren zu hören und ihnen dann auch zu folgen ist nur dem möglich, der Vertrauen hat. Dann erst können die Gebote langsam einsinken in das Herz, in den Kern der Person.

Das ist gemeint, wenn Mose sagt:

Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Die Psalmen und der Mose-Text beschreiben also etwas ganz anderes als eine oberflächliche Ethik des Gehorsams. Auch mit Furcht im Sinne von Angst hat das alles nichts zu tun. Die Bibel spricht – schon im Alten Testament – von einem guten Vertrauensverhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Die biblischen Menschen erleben Gott und dieses Erleben erfasst sie, es macht sie frei, es bewegt sie zur Barmherzigkeit und zur Gerechtigkeit. Das kann nur gelingen, weil Gott selbst als barmherzig und gerecht erlebt wird.

Wo Gott aber als strafend oder finster erlebt wird – wie bei Luther zum Beispiel, da können auch die Gebote Gottes nicht gedeihen, denn die Voraussetzung stimmt einfach nicht.

Ähnliches habe ich auch bei den Lehren Buddhas entdeckt. Der Weg Buddhas wird als achtfacher Pfad beschrieben. Am Anfang steht das einfache Erleben, daraus baut sich Stück für Stück eine Erkenntnis der Welt zusammen und man versteht, dass man zu den Dingen und Wesen ringsum in Beziehung steht. Es entwickeln sich dann Ansichten von der Welt, also ein Weltbild und dieses Weltbild prägt das Denken.

Vom Denken kommt das Reden und erst jetzt folgt das Tun. Der Buddhismus hat die Eigenart, die alltäglichen Prozesse des Lebens besonders gründlich zu untersuchen. Mir hilft das, um zu verstehen, was vor sich geht.

Erleben, Erkennen, eine Ansicht entwickeln – und eine Beziehung zum Erkannten, Gedanken, Worte und Taten. Das Halten der Gebote steht also ziemlich weit hinten. Viel wichtiger ist das Herz, die Grundeinstellung, und die ist gespeist aus dem Erleben. Schaffe in mir Gott ein reines Herz...

Solange das Herz des Menschen nicht von Beziehung und Vertrauen erfüllt ist, fällt es ihm schwer, mit anderen zusammen zu leben. Schon zu diesem Zeitpunkt aber braucht man für eine Gesellschaft Grenzen, eine Ordnung und Regeln – der Mensch aber wird diese Regeln ablehnen, bis er Vertrauen entwickelt. Dann tut er das Nötige aus sich selbst. Das ist kein romantischer Gedanke, es funktioniert tatsächlich.

Nie allerdings ist das ganze Herz des Menschen vollkommen von der Liebe und der gegenseitigen Beziehung durchdrungen. Und weil das so ist, ist die Vergebung die notwendige Ergänzung zum Gebot. Gesetz und Gnade, Gebot und Liebe sind nicht voneinander trennbar.

Nur die Offenheit und die Barmherzigkeit führen zur Beziehung und die Beziehung ist die Grundlage für eine gute Ordnung, also für das Halten der Gebote. Ist die Beziehung intakt, wird das Gesetz nicht als einengend oder gar als Strafe gesehen, sondern als Geschenk.

Was ist der Mensch? Der Mensch scheint mir so zu sein, wie die Schulklasse, über die ich gesprochen habe, nur noch etwas komplizierter: Der Mensch ist einerseits im Aufruhr, so, wie die ungeordnete Klasse vor dem Tag, an dem ich die Schülerin weinend vorfand. Gleichzeitig ist der Mensch so, wie die Schulklasse nach diesem bemerkenswerten Wandel.

Voller Vertrauen und gewillt, das Beste zu geben und die Ordnung zu wahren. So erlebe ich jedenfalls mich selbst. In meinem eigenen Herzen geht es immer wieder hin und her. Vertrauen und Verbundenheit, dann Zweifel, Angst, Aggression und wieder Liebe und Mitgefühl.

Die Gebote Gottes aber lese ich mit großer Aufmerksamkeit und oft sogar mit Freude. Ich erkenne in den Geboten den Versuch, ein so gütiges, gerechtes und barmherziges Gemeinwesen zu begründen, wie möglich.

Haben wir Angst, bleibt uns auch das beste Gebot fremd und feindlich. In einer idealen Gesellschaft, mit idealen Menschen, die stets von Liebe und Vertrauen getragen sind, braucht man gar keine Gebote mehr. Dann reicht es, wenn jeder das tut, was in seinem liebevollen Herzen wohnt. Eine Utopie? Wer weiß.

Evangelische Morgenfeier vom 11.10.2020 mit Pfarrer Hans Christian Kley, Landshut. Thema: Freude an der Weisung Gottes