Wo bist Du?

Morgen feiern wir den Heiligen Abend. Wie werden Sie morgen feiern? Oft fragen wir uns gegenseitig in der Adventszeit: Wo bist Du an Weihnachten? Ich habe das in den vergangenen Tagen häufiger gefragt, lauter Menschen, die ich kenne und die in meiner unmittelbaren Umgebung leben und arbeiten.

Das junge Paar hat im Sommer ein Kind bekommen und ist dann zusammengezogen. Sie antwortet nicht auf meine Frage. Er sagt, "wir werden gegen sechs Uhr in die Kirche gehen, danach ein kurzer Besuch bei meinen Eltern und dann sind wir zuhause. Da machen wir kein Aufhebens." "Wir sind zuhause", sagt eine andere junge Familie. "Vor Weihnachten ist immer so viel los. Da freuen wir uns, wenn Weihnachtsruhe einkehrt. Wir gehen mit unseren Kleinen in den Familiengottesdienst und dann ist Bescherung. Da bleiben wir unter uns. Für die Kinder wäre alles andere viel zu aufregend."

"Wir sind an Weihnachten in Havanna", sagen Mutter und Tochter, die sich ab und zu gemeinsam auf Reisen begeben. "Dort gehen wir in die Kirche und dann setzen wir uns auf einen Platz, wo die Menschen auf der Straße tanzen und Raketen in die Luft böllern."
"Bei uns kommen alle Kinder nach Hause zu Vater und Mutter", sagen Freunde, deren Kinder arbeiten oder in fernen Städten studieren. "Und dann kochen wir und sitzen zusammen und reden."

"Ich habe keine Familie mehr", sagt ein Kollege, ein Pfarrer: Meine verbliebenen Angehörigen sind in diesem Jahr verstorben. Am Heiligen Abend hab ich Gottesdienste. Am ersten Feiertag kommt dann mein Partner und am zweiten Feiertag gibt es eine Party mit Freunden: Singen, Essen, Trinken. Meine Freunde, das ist meine Familie." "Ich bin allein", sagt die ältere Frau, die drei Kinder aufgezogen hat, und von keinem der drei besucht wird. "Ich werde mit einer Nachbarin Tee trinken und dann Fernsehen schauen."
"In unserem Seniorenheim haben wir ein festliches Abendessen, da bleiben wir dann beim Wein zusammen. Alle die, die keine Einladung von ihren Kindern haben oder deren Kinder zu weit weg wohnen. Es gibt eine Andacht und die Mitarbeiterinnen singen für uns" erzählt der alte Herr.

Eine Freundin sagt: Mein Mann hat uns im Sommer verlassen. Ist ausgezogen. Ich feiere in diesem Jahr mit meinen Kindern. Meine Eltern wollen nicht kommen. Sie missbilligen die Situation und scheuen den Schmerz. Unseren. Ich werde dann über die Feiertage Freundinnen einladen und wir kochen. Ein Bekannter sagt: "ich mache meine Steuererklärung und höre Musik dabei".

Die Antwort auf die Frage: "was machst Du an Weihnachten" ist ein Offenbarungseid. Denn an der Art wie wir Weihnachten begehen, lässt sich eine Menge über unser Leben ablesen. Haben wir Familientraditionen, die uns zusammenhalten und uns heilig sind? Stehen wir als Familie zusammen oder sind wir zerstritten und zerstreut oder noch trauriger: gleichgültig? Haben wir überhaupt noch so etwas wie eine Familie...? Wie meistern wir Krisen? Wen vermissen wir? Wen betrauern wir. Leben wir noch mit der Religion und wenn ja, was sagt sie uns?

Laut Statistiken ist Weihnachten ein gefährlicher Tag.. Die Beratungshotlines laufen heiß, manche Menschen wollen nicht mehr leben, weil an Weihnachten auch zutage tritt, was wir oft das Jahr über verdrängen und überspielen wollen: Dass man verraten wurde und verlassen und betrogen und vergessen. Dass man selbst verraten hat und verlassen und betrogen und vergessen. Das gibt es in jedem Leben. An Weihnachten aber schmerzt die Wunde am Ärgsten.

Heiligsprechung der Familie?

Weihnachten ist ein Familienfest. Wir feiern die Geburt eines Kindes kleines Kind in einer kleinen Stadt in einem kleinen Stall. Maria und Joseph werden eine Familie in dem Moment, in dem sie ein Kind bekommen. Die "heilige Familie" sagen wir und wir bauen einen Stall mit Rinden als Dach. Wir polstern ihn mit weichem Heu aus. Mit Moos und Stroh. Und dann stellen wir die Figuren hinein: Vater und Mutter, das Kind in der Krippe. Den Ochs und den Esel. Vor dem Stall versammeln sich Hirten und Schafe aus weißer Wolle. Die drei Könige. Einer kniet. Der Mohr aus dem Morgenland darf nicht fehlen. Die Mächtigen von allen Enden der Erde beugen sich vor der Heiligen Familie. Engel singen. Die Krippe steht unter dem Weihnachtsbaum, der prächtig geschmückt ist. Mit Kerzen und Kugeln und funkelndem Lametta.

Ja, man kann Weihnachten auch verstehen als Heiligsprechung der Familie. Die Vergöttlichung unserer engsten Bande - der Blutsbande. Der Familienbande. Vielleicht ist das der Grund, dass auch viele Menschen, die nicht mehr an Gott glauben, geschweige denn in die Kirche gehen, dieses Fest dennoch feiern. Vielleicht ist das der Grund, warum die Weihnachtsdekoration auch in Peking stahlt und in Tokio, wo es an Christen eher mangelt. Familie, das ist international. Ein Menschheitsthema.

Ab heute halten wir inne und halten Sabbat. Die einzigen Ruhetage im Jahr. Wir verweilen für einige stille Tage und feiern uns und unsere Lieben. Wir sagen: "Gut, dass Du da bist. Schön, dass es Dich gibt. Du bist das Geschenk meines Lebens." Und wir legen deshalb Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Das Fest der Liebe.

Weihnachten kann aber auch die reine Katastrophe sein. Viele Filme spielen mit den komplizierten Beziehungen rund um Weihnachten. Der Grinch zum Beispiel, der in einer nigelnagelneuen Version kürzlich in die Kinos gekommen ist. Dieses griesgrämige Ungeheuer will Weihnachten stehlen. In Wirklichkeit aber ist die Sache noch viel komplizierter. Wer ist denn eigentlich "die Familie", mit der wir das Fest begehen. Familie heute, das ist ein Patchwork, mit vielen Facetten oft. Die Wirklichkeit unserer Familien hat sich vervielfältigt, so dass die Feiertage bisweilen zu einem Balanceakt geraten. Die erste Ehe und die zweite. Partnerschaften von Männern mit Männern und Frauen mit Frauen. Familie nennen sich heute so viele Konstellationen.

Und immer mehr Kinder und Jugendliche haben Parallelfamilien: der Sohn aus erster Ehe versteht sich außerordentlich gut mit der Tochter seines Vaters aus zweiter Ehe, nicht dagegen mit der zweiten Frau seines Vaters. Stiefgeschwister aus erster aus zweiter Ehe, je nach Perspektive, wechselnde Väter und Mütter, sozusagen Lebensabschnittserzieher, Lebensabschnittsvorbilder – das ist die Realität vieler Kinder. Und sie erleben und erleiden die Himmel und die Höllen ihrer Mütter und Väter und sie sind so abhängig und sie sind so tapfer. Und sie halten so viele Ambivalenzen und Unsicherheiten und Optionen aus.

Das ist auch die Realität so vieler Erwachsener heute, deren Lebensbrüche in diesen Tagen sichtbar werden, deren Wunden schmerzen und die sich denken, wie halte ich dieses Fest nur aus? Wir feiern an Weihnachten die Geburt Jesu und bei diesem Fest schwingt all unsere Freude und all unser Schmerz mit, den wir mit der Familie erlebt haben und immer noch erleben. All das steht im Raum, wenn wir den Baum schmücken, Vater und Mutter aufstellen und das Kind in die Krippe legen. Wir reden in der Regel nicht darüber: Aber an Weihnachten besuchen uns neben Liebe und Freude, neben Harmonie und Glück auch Schmerz und schlechtes Gewissen, Trauer und Scham.

Die Bibel und die Realität der Familie

Die Geburt Christi ist nicht die einzige Familiengeschichte in unserer Bibel. Und: keine von den Familiengeschichten der Bibel ist harmlos und keine ist schmerzfrei. Es sind Geschichten von Eifersucht und Geltungssucht, von Helikoptermüttern und blinden Vätern, von konkurrierenden Frauen und solchen die einen verzweifelten Kinderwunsch haben. Unsere Bibel ist voll von Stories über Geschwister, wo einer den anderen erschlägt oder ums Erbe betrügt; Stories von Vätern, die ihre Söhne opfern, von Söhnen, die ihren Vater entmachten wollen; Brüder wollen ihren kleinen Bruder in eine Grube werfen und dann verkaufen; und Schwestern werden nicht einmal erwähnt.

Seine Familie kann man sich nicht aussuchen und trotzdem kommt mir niemand näher als die Familie. Auch wenn der eine oder die andere wegwerfend sagt: Mit meiner Familie bin ich durch, habe ich abgeschlossen, habe ich keinen Kontakt, die sind für mich gestorben. Ich glaube ihm nicht. Ich glaube ihr nicht.

Und nun die Geschichte von der Geburt Christi: Vater. Mutter. Kind. Musizierende Engel. Ein heller Schein über dem Stall.
Uns ist diese heilige Familie immer als heile Familie angepriesen worden. Aber das ist grundfalsch: Heilig und heil sind völlig unterschiedliche Dinge. Auch in den Familiensachen unserer biblischen Weihnachtsgeschichte.

Schauen wir doch genau hin – was ist daran heil nach unseren bürgerlichen Maßstäben: Maria, ein Mädchen – vielleicht vierzehn Jahre jung, wird schwanger und bekommt ein uneheliches Kind. Wie ihre Familie das aufnimmt, dazu schweigt des biblischen Sängers Höflichkeit. Der Mann, der ihr versprochen ist, ihr Verlobter, will am liebsten abhauen und mit der ganzen Sache nichts zu tun haben, bis Gott ihn im Traum eindringlich zum Bleiben überredet. Joseph weiß, er kann unmöglich der Vater dieses kommenden Kindes sein. Der Nennvater, der soziale Vater, wie man heute vornehm sagt, ist nicht der leibliche Vater. Der wirkliche Vater, das sei Gott, behauptet die Frau. Wer das glaubt, wird wirklich selig. Sonst ist keiner da – keine Oma, keine Tanten, keine Brüder oder Schwestern, die den jungen Leuten helfen würden. Und zu allem Unglück haben diese Leute auch kein Dach über dem Kopf. Keiner will sie haben. Das Baby wird von Tieren gewärmt. Ochs und Esel.

Aus diesem Elend, aus dieser verfahrenen Situation, aus dieser unheilen Konstellation, wird in der Geschichte, etwas Heiliges: Eine heilige Familie. Wie geschieht das? Um Gottes Willen? Das kann nur geschehen, wenn man ehrlich ist mit sich selbst. Wenn man den Schmerz nicht vermeiden will und dem Elend nicht ausweicht. Und vor allem, wenn man der Dankbarkeit Raum geben kann.

Was wäre, wenn wir morgen einen Tag lang die Menschen um uns herum nehmen, wie sie sind? Nur einen Tag… Oder zwei Tage…
Was wäre, wenn wir heute darüber nachdenken, ob wir unsere liebsten Menschen nicht doch manchmal in Rollen zwingen oder in einen Erwartungskäfig sperren.  Weihnachten ist die Nacht, wo man aufhört zu rechnen und zu vergleichen.  Wo man sich einfach umsieht und dankbar ist für die Menschen, die um einen herum sind: In der Obdachlosenunterkunft und im Seniorenheim, in der Suite in St. Moritz oder im kleinen Wohnzimmer auf dem Bauernhof.

Maria und Joseph haben sich ihre Rolle in der Weltgeschichte nicht herausgesucht: Es ist ihnen geschehen, es ist ihnen passiert. Es ist ihnen widerfahren. Und das konnte geschehen, weil sie ihr Leben angenommen haben, wie es ist. Mir geschehe, wie Du es gesagt hast, sagt Maria zum Engel der ihr die unerwartete Schwangerschaft ankündigt. Das hochheilige Paar hat nichts geplant und nichts vermessen, sie haben keine Karrierepläne auf die Ankündigung des Messias gebaut, sie haben nicht versucht, Vorteile für ihr Leben herauszuschlagen. Sie haben es geschehen lassen und keine Ansprüche damit verbunden. Sie wurden eine heile Familie, weil sie die elende Situation mit Gottvertrauen angenommen haben.

Es geschehe. Und wie es dann sein könnte…

Ich glaube, woran viele Menschen an Weihnachten am meisten leiden sind die überzogenen Forderungen an sich selbst. Alles muss perfekt sein oder so wie immer oder beides. Wir sind so darauf gepolt, dass alles machbar ist und wir sind so gewohnt alles selbst zu machen, dass wir vergessen haben, wie es ist, etwas geschehen zu lassen. Wie viele Vorstellungen haben wir im Kopf, wie Weihnachten sein "Muss". Muss man tatsächlich einen Weihnachtsbaum haben, müssen es tatsächlich Bratwürste mit Sauerkraut sein, oder Karpfen oder Hering oder Grünkohl? Müssen die Abläufe wirklich sklavisch eingehalten werden? Muss es überhaupt einen bestimmten Ablauf geben. Können wir uns ausgerechnet an Weihnachten nicht einfach einmal überraschen lassen – sehen, was geschieht? Und vor allem: können wir nicht aufhören griesgrämig zu sein, wenn etwas Anderes abläuft, als wir das geplant haben? Der Schwiegersohn kommt zu spät, die Enkel haben ihre Geschenke vergessen, die Freundin will zu ihren eigenen Eltern, der Großneffe will nach der Bescherung auf eine Party mit Freunden.

Der Stress und der Frust und die ungemütliche Verbissenheit entstehen nur, wenn wir die Systeme unserer Erwartungen und Ansprüche hochfahren und die ganze Zeit vergleichen, ob sich unsere Erwartungen erfüllen. Weihnachten heißt: Es geschehe. Es geschieht etwas, das wir nicht in der Hand haben. Hosianna in der Höhe. In dieser Haltung wird eine durchaus unheile Konstellation zur Heiligen Familie. Der Schmerz wird nicht ausgespart und man schaut sich gegenseitig an: in Dankbarkeit.

Ich will ihnen dazu eine Geschichte aus dem eigentlich buddhistischen Kulturraum erzählen, die aber eine zutiefst christliche Bedeutung hat. In Japan gibt es eine wundervolle Tradition, die die Vollkommenheit der Unvollkommenheit auf eine ganz besondere Weise ausdrückt und feiert. Zerbricht in dieser Kultur ein Gefäß, das sich schon seit einiger Zeit im Besitz der Familie befindet, so wird es nicht in einer Art repariert, dass es wie neu aussieht. Und keinesfalls wird es weggeworfen. Dort gibt es seit dem 16. Jahrhundert die sogenannte Kintsugi-Technik, bei der die Risse im Material mit Gold aufgefüllt und so die einzelnen Teile des jeweiligen Gefäßes wieder miteinander verbunden werden. Durch diese Technik entstehen atemberaubende Kunstwerke, denen man ansieht, dass sie einmal zerbrochen waren, die nun aber durch die goldgefüllten Risse eine ganz eigene und vor allem einzigartige Schönheit erhalten haben. Hier wird nicht so lange ein Makel kosmetisch behandelt, bis er unsichtbar ist, sondern im Gegenteil wird gerade der vermeintliche Makel hervorgehoben und im wahrsten Sinne des Wortes vergoldet.

Vielleicht können sich ja all die, die eine heimliche oder unheimliche Rechnung offen haben mit einem anderen Familienmitglied, und all jene, die enttäuscht sind von ihren Eltern oder ihren Kindern, vielleicht sollten sie sich dieses Bild mit der Vase vor Augen halten und überlegen: Wo sind die Brüche in unserer Familie? Und wie würden sie aussehen, wenn ich sie einfach einmal nicht bekämpfen würde, sondern sie annehmen würde. Wie eine Wunde. Akzeptieren, dass der andere einfach anders ist, als ich mir das gewünscht habe. Respektieren, dass die andere einen anderen Lebensentwurf hat.

Weihnachten ist ja nicht nur das Datum, an dem viele Familien in Stress geraten oder in Streit und man sich zugleich schämt, weil man ja heute sooo friedlich sein wollte. Weihnachten ist auch die Werkstatt für die Scherben und Brüche. Diese Werkstatt, in der die zerplatzen Träume und die zerbrochenen Hoffnungen zu einer goldenen Zierlinie werden können, wie bei der Vase, deren Scherben sichtbar gemacht werden durch das Gold und wo Zerbrochenes schöner wird als zuvor, weil die Bruchlinien in Schmuck verwandelt werden. Das könnte ja auch geschehen an Weihnachten, dass wir uns unsere Verletzlichkeit gegenseitig zeigen.

Ich war neidisch auf Dich, ich habe mich geschämt, weil ich nicht so viel Erfolg habe wie die anderen, ich vermisse mein Kind sosehr, dass ich nichts mehr Anderes sehe, ich habe das Gefühl mein Leben ist gescheitert nach der Trennung. Millionen solcher Sätze liegen wie Engelsgesang in der Luft an Weihnachten und wollen gesagt werden. Es sind diese Sätze oder Gesten, die unsere Familie zu einer kostbaren Vase werden lassen, die weihnachtlich schimmert. Denn wir wissen das alle: Gold, das ist die Farbe der Weihnacht.

 

Evangelische Morgenfeier vom 23.12.2018 (4. Advent) mit Professorin Johanna Haberer, Erlangen, Thema: "Heilige heile Familie"

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