Ohne Träume komme ich nicht aus. Ohne Träume kommt meine Hoffnung und kommt auch mein Glaube nicht aus. Eine Kirche, eine Gemeinde, die das Träumen verloren hat, ist wie tot. Ich bin überzeugt davon: Träumen gehört zu unserem Menschsein wie das tägliche Brot Wie wichtig, ja lebensnotwendig Träume für unser Leben sind und besonders für unseren Glauben, davon will ich heute erzählen. Manchmal habe ich den Eindruck, wir begnügen uns mit dem, was machbar ist.  Wir schauen bis zur nächsten Ecke – das ist überschaubar, aber weiter geht unser Blick nicht. Nur keine Flucht aus der Realität. Nur die Sehnsucht, die Hoffnung nach einem Leben ohne Schmerzen, ohne Leid, ohne Elend nicht zu groß werden lassen. Wie bescheiden… Zu oft schon wurden wir enttäuscht, unerfüllte Träume haben uns unsanft auf den Boden der Tatsachen geworfen.

Ich möchte das mit einem Experiment aus der Tierwelt vergleichen:

In einem Glas-Zylinder hielt ein Forscher einen Stamm von Flöhen. Einigen gelang es immer wieder, über den Rand zu springen. Im ersten Schritt der Versuchsreihe legte der Professor eine Glasplatte auf den Zylinder. Prompt stießen sich die wildesten Flöhe ihre Köpfe an. Und nach kurzer Zeit sprangen alle Flöhe nur noch bis circa einen Zentimeter unter den Deckel. Das blieb sogar so, als die Glasplatte weggenommen war. Die Flöhe hatten ihre Lektion gelernt. Dies änderte sich auch nicht während der nächsten Wochen. Keines ihrer Kinder und Kindeskinder sprang aus dem offenen Glas-Zylinder. Die Regel hatte sich sogar vererbt!

Als nächsten Versuchs-Schritt fixierte der Forscher eine exakt passende Glasplatte innerhalb des Zylinders – etwa 10 cm tiefer als der obere Rand. Gespannt wartete das Team auf den Moment als dieser Deckel weggenommen wurde. Alle Flöhe sprangen jetzt maximal 10 cm tiefer. Auch deren Kinder und Enkel. Der Forscher senkte die Platte immer weiter ab. Die Flöhe passten sich immer schneller an. Bis sie zuletzt nur noch laufen konnten. Alle hatten das Springen verlernt. Und alle folgenden Generationen.

Haben wir das Träumen verlernt, weil wir uns so oft den Kopf angestoßen haben? Hat uns das Leben so konditioniert, dass wir immer knapp unter der Glasplatte bleiben, auch dann wenn sie längst weggenommen ist, wenn die Not vorbei und alle Grenzen offen sind? Bringen wir unseren Kindern das Träumen noch bei?

Die Bibel ist voll von Träumen, sie ist geradezu ein Traumbuch, voller Visionen und Utopien als hätte der Glaube in den Träumen seine eigentliche Sprache gefunden. Einer meiner Lieblingsträume steht beim Propheten Jesaja:

Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.

Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes.

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!

Sagt den verzagten Herzen: "Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt und wird euch helfen."

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.

Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.

Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird.  Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.

Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Das ist euer Gott – wie ein Traum und doch Realität

Was für ein Rhythmus, was für eine Melodie liegt in diesen Versen. Da träumt einer, klopft den Rhythmus dazu und singt das Lied des Lebens. Stärkt die müden Hände, macht fest die wankenden Knie, saget den verzagten Herzen seid getrost, seht, das ist euer Gott. Es pocht und klopft nicht allein an unser Gewissen, sondern vielmehr an unser Herz. Und wenn unser Herz dieses Klopfen aufnimmt, unser Herzschlag so pocht und klopft, - ja dann werden das unsere Worte, unsere Melodie, dann wird dieser Traum unser Lied. Gott selbst gibt den Rhythmus vor und der Prophet Jesaja schlägt dazu den Takt: Gott kommt: seid getrost, seht, da ist euer Gott.

Das ist die Nachricht, die die Bibel immer und immer wieder singt. Den Verzagten und Verzweifelten, den Verfolgten und Gefangenen, den Gedemütigten und Leidenden, den Mühseligen und Beladenen, den Armen und Elenden wird das als gute Nachricht entgegengehalten: Gott kommt, er wird euch helfen, fürchtet euch nichtf ür eine Kraft in dieser Hoffnung steckt, in diesem Satz: Seht, da ist euer Gott! Gott kommt und er wird euch helfen! Alle Hoffnung, die die Bibel verbreitet, hängt an diesem Satz. Alles andere, was sonst noch gesagt wird, folgt aus diesem Satz: Dass die Menschen ihre Gebrechen verlieren, dass die Natur Frieden finden wird, dass Recht und Gerechtigkeit auf der Erde einkehrt und die Gottlosigkeit verschwindet. All das kann gesagt werden, wenn über den einen Satz entschieden ist: Seht, das ist euer Gott!

Traumtänzer - Traum und Realität

Nichts fürchte ich mehr als ohne Träume leben zu müssen. Wie kann ich leben ohne die Hoffnung "es wird gut" auch wenn gerade alles anders und verzweifelt aussieht. Träume sind für mich ein Zeichen meines Glaubens wie ein Baum ein Zeichen für Wasser ist. Nichts kann einem solche Hoffnung geben wie der Traum, dass es gut hinausgeht.  Ich weiß, es spricht so vieles dagegen. All die Diktatoren und Tyrannen, die Angst und Schrecken und Tod verbreiten, Menschen zu Unrecht in Gefängnissen einsperren, sie sprechen dagegen. Es werden nicht weniger trotz aller Träume und Gebete. All die verwundeten Menschen, gekennzeichnet von Krankheit, Trennungen, Lieblosigkeit – sie sprechen dagegen. Ein Virus, das die ganze Welt in Atem hält, Tod und Einsamkeit verbreitet – es spricht dagegen. Diese üblen Zustände in den Flüchtlingslagern auf der ganzen Welt, die bleiben und nicht aufgelöst werden, die bleiben wie Pfützen nach einer Überschwemmung – sie sprechen dagegen.

Wie kann ich, wenn ich an den Libanon denke – in dem Traum des Jesaja als Bild für paradiesische Verhältnisse hergenommen -  wie kann ich, wenn ich an Beirut denke, von dem Traum einer heilen Welt reden? Die Bilder dieser zerstörten Stadt mit all dem Leid ziehen einem die Träume aus dem Kopf. In diesem Zwiespalt leben wir: In den Träumen, die uns fliegen lassen, das Leben leicht und schön machen und in den unerfüllten Träumen, die uns hart auf die Erde aufschlagen lassen. Ob es Träume sind von der Liebe, die niemals eintritt, nie Realität wird oder von der Gesundheit, die nicht wiederherzustellen ist, von dem Hunger, der nie gestillt wird, von der Gerechtigkeit, die so schmerzlich auf sich warten lässt. Dem entkommen wir nicht, diesem Zwiespalt zwischen der Leichtigkeit der Träume und der Schwere der Realität. Und doch: verwundert nehmen wir wahr:  das Unwahrscheinliche geschieht immer wieder: Die Menschen träumen davon, dass alles gut wird, sie leben davon, sie sterben damit. Immer wieder taucht der Traum von einer unverwundeten, von einer heilen Welt auf, wie ein Wasservogel, der an einer Stelle des Sees untertaucht - nichts ist von ihm zu sehen - und an einer ganz anderen Stelle wieder hochkommt.

Traumlos?

Träume sind lebensnotwendig, gerade und besonders für diejenigen, die verzweifelt und ohne Hoffnung sind, deren Leben einer Wüste gleicht, kein Wasser, kein Punkt am Horizont, der ein Ziel sein könnte, sondern nur Sonne, Hitze, Sand. Träume sind Schäume, so sagt man und hat es nicht begriffen. Nein, Träume sind wie Kamele, die den Glauben und die Hoffnung durch die Wüste tragen. Ich bin überzeugt davon: Träume schenken Trost gerade dann, wenn einer an der Gegenwart verzweifelt. Aber es gibt Schicksale, da fällt man aus allen Träumen. Traumlose Zeit wie eine nie endende Wüste, wie ein dunkles Tal ohne Licht am Ende. Ich habe eine Geschichte gelesen, die mir besonders nahe geht. Sie ist Bestandteil einer Ausbildung zum Pflegeberuf. Sie dient dazu, sich in zu pflegende Menschen hineinzuversetzen.  Überschrieben ist sie mit dem Wort "Empathie"

Ich liege in meinem Bett
und starre an die Zimmerdecke.
Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen,
meine Arme sind steif und schmerzen.
Ich kann nicht mehr sprechen,
nur noch sehen, hören und denken.
Jemand hat einen Schlauch in meine Blase gelegt,
jemand hat einen Schlauch in meinen Magen gelegt.
"Guten Morgen, haben sie gut geschlafen?"
Jemand zieht die Decke von mir weg,
fährt mir mit einem nassen Lappen durch das Gesicht,
über Brust und Arme.
Ein Handtuch trocknet notdürftig die Nässe,
ich werde zur Seite gekippt,
kalter Schaum wird mir auf den Po gesprüht
und mit eiligen plastikbehandschuhten Händen wieder abgewischt.
Ich werde auf den Rücken gerollt und grobe Hände
legen sich unter meine Achseln und ziehen mich nach oben,
Die Decke wird hastig über mich geworfen.
Fremde Finger öffnen mir den Mund
und bohren sich mit einem feuchten Stück Tuch
in meine Wangentaschen,
Zitronengeschmack auf meiner Zunge
--- ICH MAG KEINE ZITRONE ---
Eine Flasche mit Nahrungsbrei hängt über mir,
der anonyme Brei tropft langsam in meinen Magen.
Ich liege im Bett
und starre an die Zimmerdecke ---
niemand spricht mit mir......![1]

Was ist jetzt mit dem Traum aus dem Alten Testament: Dass Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge der Stummen spricht und Wenn ich an diese Frau denke in ihrem Elend, dann muss ich meine Behauptung, dass Träume gerade in Notzeiten lebensnotwendig sind, dass sie Trost sind und Hoffnung geben, ganz festhalten. Sonst verliere ich sie – ich wäre traumlos – wie furchtbar ist das. Einer ist hergegangen, er hat es nicht ausgehalten und hat diesen Text umgeschrieben. Das war auch ein Träumer.

 

Ich liege in meinem Bett
und starre an die Zimmerdecke.
Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen,
meine Arme sind steif und schmerzen.
Ich kann nicht mehr sprechen,
nur noch sehen, hören und denken.
Es klopft und sie kommt herein. Ich habe so gehofft, dass sie heute Dienst hat.

Sie setzt sich an mein Bett und nimmt mein Gesicht in ihre Hände: Guten Morgen, schön, dass ich sie heute sehe. Die Sonne scheint und die Vögel zwitschern. Ich mach das Fenster auf, dann können wir sie hören.

Wie wäre es mit einer Morgenwäsche? Sie nimmt einen warmen Waschlappen und fast zärtlich sind ihre Berührungen. Jeden Handgriff kündigt sie an. Ich weiß schon, sagt sie dann, Zitronengeschmack mögen sie nicht. Ich habe heute etwas anderes mitgebracht, das probieren wir mal. Wie schaut es mit den Schmerzen aus, von 1bis 10. Sie zählt auf mit ihren Fingern. Beim 6. Finger nicke ich. Stimmt natürlich nicht, aber dann bleibt sie wenigstens noch ein wenig. Gut, sagt sie dann, das reicht für ein wenig Morgengymnastik. Sie bewegt meine Arme und Beine. Es tut höllisch weh, aber sie ist da. Was für eine Frisur hätten sie heute gern, hochgesteckt oder eher eine verrückte Punkfrisur? Schön schauen Sie aus, wie wäre es mit Lippenstift? Jetzt muss ich lachen. Endlich, sagt sie, sie haben ein so schönes Lachen. Darauf habe ich die ganze Zeit schon gewartet. Beim Gehen ruft sie noch: ich lasse die Türe auf, dann kann ich immer mal reinwinken, wenn ich vorbeilaufe. Heute, so denke ich, heute ist einer der besseren Tage.

Der ganz große Traum

Ich kenne Pflegekräfte, die so arbeiten, besser: auf diese Weise ihrer Berufung nachgehen. In Zeiten von Corona ist mir das noch viel bewusster geworden.

Die große Utopie ist das aber noch nicht. Ein Traum von einem besseren Leben. , wertvoll und berührend. "Unsern täglichen Traum gib uns heute".

Der große Traum reicht viel weiter. Unbescheiden ist er, geht aufs Ganze: 

Schmerz und Seufzen werden entfliehen, so träumt Jesaja.

Die Erlösten des Herrn werden wieder kommen mit Jauchzen, ewige Freude wird sein, Freude und Wonne. Davon träumen wir, darauf pochen wir und begnügen uns nicht mit weniger, es geht um alles: Seht, da ist euer Gott!

Und doch: Es spricht so vieles dagegen. Dafür sprechen nur ein paar Texte aus ferner Vergangenheit, ein paar Menschen, die zu erzählen wagen, sie hätten mit diesem Gott gute Erfahrungen gemacht. Dafür sprechen Geschichten, z.B. die von Jesus aus Nazareth, dass das Reich Gottes nun gekommen sei. Die Geschichten einiger Fischer und Frauen, dieser Jesus sei ihnen nach seinem Tod wieder lebendig erschienen. Das alles kommt einem so unwahrscheinlich vor, aber ich glaube sie. Sie tun mir gut, sie helfen mir. Und ich wünsche mir, ich könnte sie glauben bis an mein Lebensende und selbstverständlich danach auch noch. Und ich meine, ich hätte viel getan in meinem Leben, wenn ich ein paar Menschen geholfen hätte, diesen Geschichten Glauben zu schenken. Und ich möchte, dass wir uns einsetzen dafür, dass keiner sich sorgen muss, ob er morgen genug zu essen hat, dass keiner mehr gedemütigt wird. Wir nehmen den Rhythmus dieses Liedes auf, wir pochen und klopfen auch an die Herzen der Mächtigen. Wir pochen auf Gerechtigkeit. Hört auf die Klopfzeichen derer, die mit ihren leeren Schüsseln an unsere Türen klopfen. O ja, das ist ein durch und durch politisches Lied. Es sagt doch: Gott kommt und mit ihm Gerechtigkeit: Schmerz und Seufzen wird entfliehen. So pocht dieser Traum an die Hartherzigkeit der Menschen, versucht ihr Herz zu beeinflussen, ein neuer Rhythmus, ein neuer Takt: Seht, da ist euer Gott! Gott kommt. Das ist ein Satz, mit dem sich die Menschen das Recht auf Lebenswürde zusprechen, allen Menschen, mit dem sie die Gewissheit ausdrücken, dass sie nicht vergeblich hoffen. Es ist auch ein Satz, der gegen alle Ungerechtigkeit spricht. Denn man sagt damit: Dieses Leben, so ungerecht es sich zeigt, kann nicht das sein, das für uns gedacht ist. Es ist letztlich ein Satz, der einklagt, worauf Menschen hoffen: Gott kommt und wird uns helfen. Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen.

Dorothee Sölle hat einmal gesagt: Der Vogel Wunschlos fliegt nicht weit.[2] Meine Träume lassen mich weit fliegen, weiter als dieses Leben reicht. Und manchmal geschehen Dinge, die wir niemals zu träumen gewagt hätten. In einer Geste der Solidarität nach der verheerenden Explosion im Hafen Beiruts ist am Mittwochabend die libanesische Flagge auf das Rathaus im israelischen Tel Aviv projiziert worden. "Menschlichkeit ist wichtiger als jeder Konflikt", schrieb Bürgermeister Ron Huldai auf Twitter. "Unsere Herzen sind beim libanesischen Volk." Israel und der Libanon befinden sich offiziell im Krieg. Nein, das hätte niemand zu träumen gewagt.

Manche Träume gehen in Erfüllung – schon jetzt. Und irgendwann wird sich auch der Traum des Jesaja erfüllen: Seht, da ist euer Gott! Auch mein Traum für diese bettlägerige Frau, von der ich erzählt habe.  

Bis es so weit ist, will ich davon träumen. Träume sind der Realität eher unähnlich. Sie behaupten nicht zu viel, eher zu wenig. Denn wir werden nie erfassen, was dann sein wird. Und bis dahin kann mein Gebet lauten: "Unsern täglichen Traum gib uns heute"