Von Lederstrumpf bis Lucky Luke: Der Wilde Westen hat mich früh im Leben fasziniert. Zum Kinderfasching kamen meine Freunde überwiegend als Cowboys. Und die Szenen und Charaktere der Filme von damals sind unvergessen: High noon und das Lied vom Tod, Büffelherden und Bürgerwehren, Lagerfeuer und Lynchjustiz. Und am Ende immer ein einsamer Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet.

Man kann sich über die Klischees, die da drinstecken, amüsieren. Oder kritisieren, wie historisch ungenau und vorurteilsbeladen da erzählt wird. Im Grunde ging es jedoch immer darum, uns selbst in diesen Geschichten wiederzufinden. Sie sind ein Spiegel unserer Ideale und Abgründe, unserer Abenteuerlust und Albträume.

Ich möchte mit Ihnen einen Blick in diesen Spiegel werfen. Mich interessiert: Was bringt das für unsere Spiritualität? Für Ihre und meine Spiritualität?

Bei Brennan Manning, einem amerikanischen Mystiker, stieß ich auf eine ungemein spannende Gegenüberstellung: Im wilden Westen warst du entweder Siedler oder Pionier. Siedler hatten sich diesseits der Zivilisationsgrenze niedergelassen. Pioniere wollten weiter in Gegenden, von denen es noch keine Landkarten gab. Die Lebensweisen und der Alltag von Siedlern und Pionieren sind ziemlich verschieden. Und deshalb sehen sie auch Gott und die Welt ganz schön unterschiedlich.

Gott, Whisky und Kautabak

Siedler sehen das Leben als einen Besitz an, der sorgsam gehütet werden muss. In der Welt der Siedler dreht sich alles um Sicherheit. Das Weideland wird eingezäunt, die Haustüre verriegelt, das Geld auf die Bank gebracht. Kirche ist für sie wie das Rathaus der Westernstadt. Mit seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern gleicht es einer Festung. Drinnen werden Akten geführt, Steuergelder aufbewahrt und Bösewichten der Prozess gemacht.

Gott ist in dieser Welt der Bürgermeister. Eine ehrwürdige Erscheinung in seriösem Schwarz. Er residiert gut abgeschirmt ganz oben im Rathaus. Von dort hat er die ganze Stadt im Blick. Er zeigt sich selten, aber die Ordnung, die in der Stadt herrscht, beweist ja, dass es ihn gibt. Die Siedler fürchten ihn, andererseits halten sich deshalb aber auch alle an die Regeln. Wenn mal wieder ein Zug von Pionieren näher kommt, schickt er den Sheriff hin. Damit keine Zweifel aufkommen, wer hier den Ton angibt.

Pioniere sehen das Leben an als ein abenteuerliches, wundersames Geschenk. Bei Pionieren ist alles in Bewegung. Ihre Kirche ist der Pferdewagen mit seinem bogenförmigen Planendach, immer unterwegs in die Zukunft. Das ganze Leben spielt sich dort ab: Sie essen, schlafen, lieben, kämpfen und sterben dort. Der Planwagen knarzt und holpert, ist eng und unbequem, aber den Pionieren ist das egal. Denn Gott ist der Zugführer, der Trail Boss. Er ist ungehobelt und voller Leben, kaut Tabak und trinkt den Whisky unverdünnt. Immer wieder zieht er die Karren mit aus dem Dreck. Und wenn jemand schlapp machen will, nimmt er ihn sich zur Brust.

Für die Pioniere ist Jesus der Scout. Er reitet voraus und setzt sich damit noch größeren Gefahren aus als all die anderen. Er weiß wie kein anderer, was der Trail Boss vorhat. An ihm können alle ablesen, was es bedeutet, ein Pionier zu sein. Der Heilige Geist ist für sie der Büffeljäger. Ein rauer, unberechenbarer Geselle mit einer höllisch lauten Flinte. Er versorgt die Pioniere auf ihrem Zug mit lebenswichtiger Nahrung. Aber man weiß nie genau, was er als nächstes anstellt.

Am Sonntagmorgen zieht es den Büffeljäger in die Stadt; denn da treffen sich die Siedler im Rathaus zum Kaffeekränzchen. Er schleicht bis unters Fenster und lauscht. Plötzlich ballert er in die Luft, dass die Fenster klirren, die Hunde bellen und die Leute drinnen sich an der Torte verschlucken.

Für die Siedler ist Jesus der Sheriff. Er reitet mit seinem weißen Hut durch die Stadt, verjagt das Gesindel und buchtet die Störenfriede ein. Und der Heilige Geist ist das Mädchen im Saloon. Bei ihr suchen die Siedler Trost, wenn sie einsam sind oder vor etwas Angst haben. Sie krault die Siedler unterm Kinn, damit sie sich besser fühlen. Und wenn im Saloon die Fetzen fliegen, kreischt sie so laut, dass der Sheriff kommt. Sünde ist für die Siedler, wenn jemand sich nicht an die Ordnung hält. Für die Pioniere ist es Sünde, wenn jemand aufgibt und umkehren will.

Wenn ich mir beide Seiten so ansehe, dann spüre ich schon mehr Sympathien für die Pioniere. Aber es geht ja nicht darum, sie gut zu finden. Sondern darum, ob ich es ihnen nachmache. Oder eines Tages zu jenen Menschen gehöre, die auf ihr Leben zurückblicken und bedauern, dass sie nicht mehr Wagnisse eingegangen sind.

Zornige Welt, zaghafte Kirchen?

Heute sind wir alle einsame Cowboys, und das nicht erst seit Corona. Die wenigsten haben es sich so gewünscht. Es ist gleichwohl der Preis, den wir für eine Freiheit bezahlt haben, die jede Bindung als Einschränkung empfindet. Flexibel sein ist alles. Und gleichzeitig wird mir Flexibilität zum Fluch: Ich kann online einkaufen, wann ich will. Dafür bin ich fast ständig erreichbar. Oder ich stelle mein Privatleben "freiwillig" hintan, wenn ein Projekt fertig werden muss. Sprich: fast immer. Ein Bekannter – beruflich Vielflieger – erzählt, was für ein Segen der erste Lockdown für ihn war. Endlich Zeit am Stück für die Familie. In ein paar Jahren sind seine Kinder aus dem Haus. Ausgiebig Zeit mit ihnen zusammen – das lässt sich nicht nachholen.

Erschöpfung macht sich breit. Von Freunden und Bekannten höre ich: In den Firmen, den Kliniken, den Schulen und Unis müssen immer weniger Leute immer mehr Arbeit schultern. Da kommt ein ehrgeiziger Chef und holt einen Trupp Unternehmensberater. Die sollen den Betrieb optimieren und abzüglich eines satten Honorars den Gewinn steigern. Die Zerschlagungen und Zusammenlegungen lassen zwar die Aktienkurse steigen. Aber die Beschäftigten verlieren Freunde und Vertraute; und das Gefühl von Heimat. Denn die hat mit Nachbarschaft zu tun: In manchen Büros gibt es keinen festen Arbeitsplatz mehr. Man bucht sich stattdessen täglich neu einen freien Schreibtisch. Offiziell heißt es, mit Desk Sharing könne man selbstbestimmter und glücklicher arbeiten. Aber es wird eben auch anonymer und steriler, wenn da keine Fotos mehr herumstehen, keine Topfpflanzen und keine Kaffeetassen mit doofen Sprüchen.

Weil uns so wenig verbindet, erscheinen selbst die abstrusesten Feindbilder noch attraktiv: Merkel, Migranten, Muslime, Virologen - es scheint austauschbar. Misstrauen und Zorn schweißen Menschen zusammen, die sonst kaum etwas gemeinsam haben. Gleich fühlt man sich weniger klein und schwach. Und so reiten im Wilden Westen des 21. Jahrhunderts viele wütende Cowboys jeden Abend in einen Sonnenuntergang, an dem nichts mehr romantisch ist.
In dieser nur bedingt schönen neuen Welt wirken die alten Kirchen wie aus der Zeit gefallen. Während sich ringsherum alles rasend schnell verändert, regiert hier die Beständigkeit.

Zum Beispiel, wenn wir darüber diskutieren, ob wir die letzte Stuhlreihe in der Kirche nicht mal wegnehmen könnten. Die ersten vier Reihen sind nämlich fast immer leer. Aber dann fragt jemand, "Was, wenn wir damit Frau Fröhlich verprellen? Seit 50 Jahren sitzt sie in der letzten Reihe." Also bleibt erst einmal alles, wie es ist. Dem Controller ohne festen Schreibtisch kann ich so etwas schon lange nicht mehr erklären. Die sesshafte Kirche ist für ihn eine fremde Welt. Und weil das vielen so geht, leiden auch die Kirchen zunehmend unter Existenzangst.

Wenn wir aber so verunsichert sind, dass wir keine Sicherheit mehr bieten können, was haben wir dann noch – außer ein zaghaft-trotziges "Fürchte dich nicht!"?

Ein kluger Kollege schrieb anlässlich der Sorge über die hohen Kirchenaustrittszahlen: Wir Pfarrer*innen sollten uns ein Beispiel an der Palliativmedizin nehmen. Es ist, als ob diese Kirche sterbenskrank ist. Wie bei einer lieben Verwandten kostet es Mut, der Tatsache ins Auge zu blicken: Es geht zu Ende. Manche nehmen Zuflucht zu immer neuen Therapien. Andere beteuern: "Das wird schon wieder". Wieder andere haben Schuldige ausgemacht und klagen sie an. Nichts davon wendet das nahende Ende der vertrauten Gestalt von Kirche ab. Also gilt es, die ganze emotionale Achterbahnfahrt mit Wut, Angst und Verzweiflung auszuhalten. Weil dieser Tod zum Leben gehört. Und weil es für den Glauben und damit auch für die Kirche ein Leben nach dem Tod geben wird. Eine neue Gestalt, die wir jetzt noch nicht sehen können.

Eben damit gelingt ihm der Perspektivwechsel vom Siedler zum Pionier: Gott begegne ich nicht im Vertrauten und Beherrschbaren – sondern im Unbekannten und Fremden. Alle Tage meines Lebens will ich dir folgen, singt der Musiker Rich Mullins.

Gott suchen – außerhalb des Gewohnten

Die prägenden Gestalten der Bibel haben Ähnliches erlebt: Der sesshafte Abraham verlässt seine Heimat; auf Geheiß eines unsichtbaren Gottes, der ebenfalls keinen festen Wohnsitz hat. Mose führt die Israeliten aus Ägypten in das verheißene Land. Er selbst sieht es nur noch aus der Ferne. Aber Gott zieht die ganze Zeit voraus, in Wolke und Feuer gehüllt: der Trail Boss. Jesus und seine Jünger folgen diesem Muster. Ständig sind sie unterwegs. Am Ende stirbt auch Jesus draußen, vor den Toren Jerusalems. Nach Pfingsten wandern die ersten Christen unermüdlich durch das römische Reich. Die Verfasser*in des Hebräerbriefes blickt zurück auf diese Pioniere:

Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft,

Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.

Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf,

wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte;

und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde.

Aufgrund des Glaubens hielt er sich als Fremder

im verheißenen Land wie in einem fremden Land auf

und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung, in Zelten;

denn er erwartete die Stadt mit den festen Grundmauern,

die Gott selbst geplant und gebaut hat.

Die Mütter und Väter des Glaubens waren allesamt Menschen, die ihr Leben lang auf dem Weg durch den wilden Osten waren. Ohne sie gäbe es kein Evangelium und keine Kirche. Ihre Zelte sind die Vorläufer der Planwagen. Und sie lebten als "Gäste und Fremdlinge", sagt die Bibel. Oder um ein anderes Wort zu verwenden: Sie waren Pilger.

Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Hebr 13,14)

Eines verbindet die Pioniere des wilden Ostens und Westens. Und zugleich unterscheidet es sie von einsamen Cowboys heute: Die Einsicht, wie sehr sie auf einander angewiesen sind. Dasselbe gilt für die Pilger: Sie sind ja keine Einsiedler. Die vielen Begegnungen auf dem Weg sind mindestens so heilsam und bereichernd wie die Stille und die Konfrontation mit dem inneren Schweinehund. Der Weg, der uns erwartet, ist so weit und so entbehrungsreich, dass er nur gemeinsam gemeistert werden kann. Schauen wir die großen Herausforderungen an, vor denen unsere Gesellschaft steht: Die ungelöste Klimakrise. Konflikte, die in Hass und Gewalt umschlagen. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Mit Siedlermethoden nach dem Motto "bloß keine Experimente" wird das nicht zu lösen sein.

Religionssoziologen haben beobachtet, dass über die letzten Jahre immer mehr Menschen eine "Spiritualität der Sesshaftigkeit" aufgeben und eine "Spiritualität des Suchens" vorziehen. Sie orientieren sich nicht an ewigen, unverrückbaren Gewissheiten. Sondern sie suchen die Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten. Und sie erwarten, dass sie verändert daraus hervorgehen.

Weil vieles Gewohnte in den Kirchen seit Ausbruch der Corona-Pandemie nicht mehr funktionierte, haben Gemeinden munter experimentiert: Gottesdienste finden an allen möglichen Orten statt – und in den unterschiedlichsten Formen. Die Möglichkeiten des Internets werden entdeckt (statt die Gefahren zu beklagen, die es freilich auch birgt). Jüngere Menschen bringen sich und ihre Talente ein. Plötzlich geht etwas!

Kann es sein, dass im Lärm der Krisen, der Schuss des Büffeljägers zu hören ist? Der will den Siedlern nicht nur einen Streich spielen, sondern sie aufwecken.

Der Dichter und Nobelpreisträger T.S. Eliot schreibt in seinen "Vier Quartetten":

Wir werden nicht aufhören zu erkunden

und am Ende allen Erkundens

werden wir am Ausgangspunkt ankommen

und den Ort zum ersten Mal kennen.

Das Ankommen, das Erkennen und Erkanntwerden steht uns allen erst bevor. Bis dahin gibt es noch viel zu erkunden. Je nach Tagesform bin ich mal mehr Siedler und mal mehr Pionier. Im Alltag ist das gar kein so klares Entweder-Oder. Ich merke aber, dass es mir besser geht, wenn ich öfter auf den Pionier in mir höre.

Wenn ich anfange, Gott außerhalb des Bekannten und Gewohnten zu suchen, dann habe ich mit den Menschen um mich herum – ob sie religiös sind oder nicht – diese eine Sache schon einmal gemeinsam: Ich weiß nicht genau, was mich erwartet. Wie ich mit diesem Nichtwissen umgehe, womöglich interessanter als das, was ich schon weiß.

Ging es nicht genau darum an Weihnachten? In dieser ganzen Ungewissheit ist uns der Sohn Gottes nahe. Geboren zwischen Tür und Angel. Bei den underdogs, im prekären Milieu der Hirten und Tagelöhner. Seine merkwürdigen Gäste aus dem Morgenland stehen in Jerusalem unter Spionageverdacht und müssen untertauchen. Die Weihnachtsgeschichte redet die Welt nicht schön. Aber sie weiß von der Herrlichkeit Gottes darin zu erzählen.

Schlummernde Pioniere wecken

Wenn in jedem von uns ein Pionier schlummert, wie kann er wachgeküsst werden? Nun, Pioniere können Pioniere wachküssen. Künstler, Forscher und Aktivisten gehören häufig in diese Kategorie. Klar, Pioniere können auch mal nerven. Aber statt ihnen aus dem Weg zu gehen, kann ich mein Unbehagen herunterschlucken und das Gespräch suchen: Was treibt dich an? Was hast du entdeckt? Wolltest du schon mal aufgeben – und warum hast du es nicht getan? Wo ist dir Gott begegnet? Und wenn ich mit ihm nicht sprechen kann, lese ich in einer Biographie, wie sie das gemacht haben: Pionierin oder Pionier sein.

Kann ich Pilger sein, wenn die Welt im Lockdown ist? Ja, natürlich. Ich muss ohnehin auf vieles Gewohnte verzichten: Reisen, Aktivitäten, Fortbildungen oder Feste. Die Leere und Langsamkeit muss ich aber nicht nur als Zumutung empfinden. Dann brauche ich auch nicht zu überlegen, wie ich ihr möglichst schnell entkomme. Ich kann sie aushalten, vielleicht sogar genießen. Das tut ein Pilger ja auch: Wenn er seinen Rucksack packt, nimmt er nur das Nötigste mit.

Die spannende Frage ist doch: Wer bin ich ohne die gewohnten Rollen? Ohne die üblichen Ablenkungen kann ich nun mit liebevoller Aufmerksamkeit schauen, was sich regt. Die Seele ist wie ein scheues Tier. Ich muss behutsam und geduldig sein, wenn ich sie zu Gesicht bekommen will.

Schließlich tut mir der Zuspruch meiner Weggefährt*innen gut: Seit einigen Jahren treffe ich mich am Morgen der Wintersonnwende mit einem Freund. Wir zünden ein Feuer an, ziehen Bilanz und erzählen einander unsere Pläne. Dieses Mal ging ich mit einem mulmigen Gefühl hin. Ich wusste, ich kann gerade keinen tollen Plan aus der Tasche ziehen. Es fühlt sich eher an wie ein Stochern im Nebel. Aber ich war ja in guter Gesellschaft. Wir haben gerade keinen Plan, aber das ist kein Grund zur Sorge. Eher zu einer gespannten Erwartung.

Gilbert K. Chesterton, der Erfinder des verschmitzten Pater Brown, hat einmal geschrieben:

Ein Abenteuer ist bloß eine recht verstandene Unannehmlichkeit.

Eine Unannehmlichkeit ist bloß ein missverstandenes Abenteuer.

Das Jahr 2021 hat mit allerhand Ungewissheit und Unannehmlichkeiten begonnen. Daran kann ich nichts ändern. Aber ich kann die Einladung annehmen, die pionierhaften Wurzeln des Glaubens wieder neu zu entdecken – das Abenteuer abseits der gewohnten Pfade.

 

Evangelische Morgenfeier vom 17.1.2021  mit Pfarrer Dr. Peter Aschoff, Nürnberg, Thema: Siedler und Pioniere