Chronos und Kairos: Zwei Weisen der Zeit

Der Dezember ist der kürzeste Monat im Jahr. So empfinde ich es immer wieder. Obwohl er 31 Tage hat.  Ein Monat, in dem so eine eigene Stimmung herrscht, ein ganz anderes Zeitgefühl als sonst. Sie hat einen eigenen Namen. Sie hat einen anderen Klang, einen anderen Duft. Eine Zeit für alle Sinne.  Adventszeit. Wie ein Versprechen – da kommt was.  Was ist das für eine Zeit und für ein Zeitgefühl, jetzt im Dezember? Darüber möchte ich mit Ihnen nachsinnen heute Morgen am 1. Advent, am 1. Dezember.

Zeit ist etwas Rätselhaftes. Sie kann zu kurz sein oder zu lang. Etwas kann zur Unzeit passieren. Und dann wieder zur richtigen Zeit. Und das alles, obwohl die Zeit immer gleich schnell vergeht.

Im Griechischen, einer der Sprachen der Bibel, gibt es für Zeit zwei Begriffe: chronos und kairos. Chronos steht für den tickenden Sekundenzeiger, die fallenden Körner in der Sanduhr. Chronos ist die gezählte und zählbare Zeit. Die Stunde hat 60 Minuten, der Tag hat 24 Stunden, auch wenn man meint, man bräuchte 26, das Jahr hat 365 Tage. Im Advent messen wir die Zeit besonders: Mit vier Kerzen für vier Sonntage. Mit 24 Türchen am Adventskalender bis zum Heiligen Abend. Das alles ist chronos, zählbare Zeit. Sie läuft immer vorwärts, sie läuft ab, sie vergeht.

Der Kairos ist etwas ganz Anderes. Kairos heißt: Der rechte günstige Augenblick, die gute Gelegenheit. Ein besonderes Jetzt. Ein besonderes Heute.

Ihr habt die Zeit, - den kairos -  erkannt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen.

Jetzt, so schreibt Paulus im Römerbrief, jetzt ist die besondere Zeit da, der kairos. Das Leben in Zahlen, das Leben im chronos ist nicht alles. Nur im chronos leben, nur nach Zeit und Terminen leben, kann sogar heißen: Ich verpasse, etwas ganz Wichtiges. Das Leben nur im chronos, nur nach Terminen ist für Paulus wie ein Schlaf, bei dem man Wichtiges verpasst. Klar, guter Schlaf ist wichtig, notwendig. Wenn ich gut geschlafen habe – was weiß ich morgens von meinem Erleben im Schlaf? Im besten Fall nichts. Ich hab ja gut geschlafen. In einem Leben nur nach der Uhr, nur nach Terminen ist das ähnlich. Ich arbeite alles ab. Aber bleibt die so verbrachte Zeit in Erinnerung? Die nur gezählte Zeit hinterlässt kaum Spuren in der Seele, sie ähnelt dem Schlaf, einem Zustand ohne volles Bewusstsein. Wenn ich mich zum Ende des Jahres zurückerinnere: Was war wichtig, was hat mich bewegt? Dann fallen mir von den tausenden ach so wichtigen Terminen letztlich nur ganz wenige ein. Das Leben im chronos wie ein Schlaf.

Paulus erinnert an diese andere Zeit, den Kairos. Der Kairos ist nicht messbar, sondern eher ein gefüllter Moment mit einer Ahnung, einem Gefühl, einer Einsicht: Nämlich: Das Heil deines Lebens ist euch ganz nah, viel näher als ihr denkt. Große Worte sind das. Das Heil. es kommt mir nahe, ich kann es nicht selbst machen.

Paulus geht es hier gar nicht um den Advent oder eine besondere Zeit im Jahr. Die Bibel kennt gar keine Advents- oder Weihnachtszeit. Paulus geht es um eine Dimension des Lebens, die zu jeder Zeit vergessen werden und genau so zu jeder Zeit sich zeigen kann. Der Kairos, der besondere Moment, in dem mir aufgeht: Gott ist mir nahe. Christus ist mir nahe. Mir in meinem ganz persönlichen Leben. Der kairos ist der Moment, in dem mir der Sinn meines Lebens aufleuchtet. Und dass der Sinn meines Lebens damit zu tun hat, dass Gott mir nahe ist, dass mein Leben gehalten wird. Dafür hat Paulus ein wunderschönes Bild. Die Morgendämmerung.

Woran die Morgendämmerung erinnert

So nah wie morgens in der Dämmerung der neue Tag ist, so nah ist uns jetzt das Ewige. So nahe ist uns Gott, so nahe ist mir Christus. Aus diesen Worten und Bildern des Paulus ist eines der schönsten Adventslieder gemacht:

In der Nähe meiner Wohnung in München ist der Flaucher, eine Grünanlage an der Isar. Wenigstens einmal pro Woche nehme ich mir morgens zur Dämmerung Zeit. Da sind noch ganz wenige Joggerinnen und Hundebesitzer unterwegs: Die Luft ist frisch. Der Verkehr noch ruhig. Man hört das Rauschen der Isar. Zeit für mich zum Laufen und Joggen, die frische Luft des Morgens bewusst ein- und ausatmen. Zeit auch: zum Nachdenken, Meditieren. Beten, die Gedanken aus dem nüchternen Inneren hochkommen lassen. Für mich ist das eine wunderbare Zeit, um zu mir zu kommen. Nicht immer, aber manchmal kann ich gerade in der Morgendämmerung einen kairos erleben. Einen Moment besonderer Christusnähe.

Ich kann das nicht machen, nicht planen, auch nicht den Wecker danach stellen. Es bleibt ein Geschenk des Himmels, dieser Kairos, wenn das Ewige das Jetzt berührt. Wenn mich in der Morgenstimmung eine heilige Gewissheit ergreift. Als ob mir ins Ohr meiner Seele geflüstert wird: Ich bin da bei dir, ich bin in deinem Leben. Ich halte und trage dich. Jetzt.

Dämmerung ist ein komplexes physikalisches Phänomen. Was ich davon sehe und wahrnehme, ist sehr beschränkt und sehr verschieden. Mal ist der Himmel Purpurfarben. Mal sehe ich alles in einem besonderen Blau. Blaue Stunde heißt das dann. Mal kann ich sogar die Berge sehen, wie sie zum Greifen nahe sind, und die aufgehende Sonne taucht sie in ein besonderes Grau mit orangenem Rand. Ein anderes Mal sehe ich nur graue Wolken, Regen. Unwetter.

Jeden Tag nehme ich die Dämmerung anders wahr. Je nach Wetter und Wolken. Je nach Standort, ob München oder am Meer in Italien oder sonst wo. Und manchmal hängt es auch von meiner eigenen Stimmung ab, wie die Dämmerung auf mich wirkt. Wenn es in mir grau und bewölkt ist, dann berührt mich auch der schönste Himmel nicht so leicht. Dämmerung am Morgen: Mal dramatisch farbig, mal bewegend, mal nüchtern, grau, unspektakulär. So verschieden Dämmerung sein kann, so unterschiedlich können diese kairos-Momente sein. Man kann nicht sagen: So ist es. Und nur so.

Die Worte des Paulus sagen mir: Sei bereit für den kairos, sei gespannt, wie er sich dir zeigt. Sei offen und achtsam für die besonderen Momente. Denn die Nacht ist fast vorbei, der Tag ist fast da. Es dämmert, und der Ewige ist dir so nahe wie der neue Tag in der Dämmerung. Eigentlich, schreibt Paulus, wisst ihr das ja. Ihr wisst, dass da noch mehr ist als der chronos: Aber gerade, wenn ein Termin den nächsten jagt, vergisst man das leicht.

Karl Valentin, der Komiker und Protestant hat mal gesagt: Ich bin froh, wenn die stade Zeit vorbei is', dann werd's a wieda ruhiga.

Ehrlich gesagt: Mir spricht das irgendwie aus dem Herzen. Den Dezember erlebe ich als widersprüchlich und anstrengend. Zum einen wird es richtig hektisch, überall. Soviel muss noch erledigt und fertig werden. Alles noch vor Weihnachten, als ob nach Weihnachten die Zeit nicht mehr weitergeht. Jedes Jahr nehme ich mir vor: Diesmal nicht mit mir. Weniger Termine ausmachen. Nicht jede Einladung annehmen. Aber ruhig und besinnlich fühlt sich der Dezember einfach selten an. Und das Komische ist: Die Klage über die Hektik vor Weihnachten, und dass die staade Zeit gar nicht staad ist, gehören selber schon zum Ritual im Dezember dazu. Ja, der Dezember fühlt sich wirklich wie der kürzeste Monat im Jahr an.

Neben der Hektik und dem Lauten fällt mir noch etwas Anderes auf: Im Dezember werden wir dünnhäutiger und sensibler. Da denken wir an Menschen, die wir länger nicht gesehen oder gehört haben. Möglichst viele bis alle werden mit Weihnachtsgrüßen bedacht: Die nächste Familie sowieso, aber auch die alte Tante, der frühere Arbeitskollege, die Facebook-Freundin. Alle, die nur entfernt wichtig sind, bekommen einen Gruß. Irgendein Zeichen, das sagt: Hey, du bist mir wichtig. Ich denk an Dich, auch wenn wir jetzt nicht so viel Kontakt hatten.

Es weihnachtet sehr

Und dann sind da die verschiedenen Weihnachtsfeiern. Im Verein, in der Schule, in der Firma, im Kindergarten im Seniorenheim, und natürlich: In der Kirchengemeinde. Bei solchen Feiern sind alles irgendwie anders gestimmt als sonst: Sensibler eben. Die Menschen gehen etwas zarter miteinander um, bemühen uns um mehr Freundlichkeit als sonst.

Dieses "Es weihnachtet sehr" hat der Theologe Matthias Morgenroth[1] mal mit einem Unwetter verglichen. Es weihnachtet, das ist wie: es regnet, es schneit, es blitzt. Das Wetter ändert sich, die Stimmung auch. Ein Unwetter kommt auf und verändert unser Fühlen. Und ich kenn einige Freunde und Verwandte, für die dieses "es weihnachtet", auch wirklich ein Unwetter ist, vor dem sie sich am liebsten allein zu Hause verkriechen. "Saisonale Depression" nennen das die Seelenärzte.

Wenn ich durch die Brille des Paulus auf die Dezember- und Adventsstimmung, auf unser "Es weihnachtet" schau, dann habe ich den Eindruck: Die ganze Stimmung ist Ausdruck einer Ahnung. Der Ahnung, dass da noch mehr ist.

Im Advent warten wir auf das Christkind, bereiten uns auf Weihnachten vor, um dann an Weihnachten total verblüfft zu werden: Der, den wir erwarten, auf den wir uns vorbereiten - der ist schon da. Schon längst da. Christus ist schon gekommen, und seitdem immer bei uns. Auch jetzt im Advent. Gott ist schon da, bei mir, in meinem Leben. Nur: ich bin nicht bei mir. Oft zumindest nicht. Und so kommt mir Gott fern vor. Ich warte auf Christus, der doch schon längst da ist.

Der Advent ist für mich eine Chance, dass ich zu mir komme. Dass ich dort ankomme, wo Gott schon längst ist: Bei mir, in meinem Leben. Karl Valentin hat auch mal gesagt: Heute abend besuch ich mich. Mal schauen ob ich zuhause bin." Das bringt es für mich auf den Punkt: Gott ist schon da, aber ich bin noch nicht bei ihm, weil ich nicht bei mir zu Hause bin.

Die ganze "Es-weihnachtet-Stimmung" hat für mich diesen Sinn: Dass ich sensibel werde dafür, dass Gott schon da ist. Dass er in Christus an meinem Leben teilnimmt. Dass ich neu achtsam werde für die Spuren Gottes in meinem Leben. Dieses Staunen über den kairos, dass Gott gegenwärtig und mir nahe ist, höre ich in einer Musik aus meiner Heimat im Voralpenland, eine musikalische einfache Andacht ohne viele Worte, bloßes Staunen über den kairos, ein Moment zum "staad werden":

Es will gepflegt werden. Und es kann einem auch abhandenkommen, das Gespür für den Kairos, für Gottes Gegenwart. Und daher empfiehlt Paulus: Lebt so, dass ihr achtsam seid für Gottes Gegenwart. Und wie soll das gehen? Paulus schreibt:

Lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.

Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid;

sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.

Sorry, lieber Paulus, da kann ich nicht gleich Amen sagen dazu. Das klingt erstmal wie Predigten, die es im Christentum viel zu lange gab, noch immer gibt, aber die mich nicht überzeugen. So ungefähr: allem Weltlichen, allem Schönen, allem Genuss entsagen. Genuss ist gefährlich, ein Werk der Finsternis, das ich bekämpfen muss. Augustinus, ein späterer Theologe und Philosoph hat das noch bekräftigt.

Aber das ist total einseitig. Genuss ist nicht automatisch gefährlich. Essen, Trinken, Sex, Genuss - das sind Gottesgaben, lieber Paulus, gute Schöpfung Gottes und das weißt du auch. Gott ist Mensch geworden. Aus Liebe. Alles Leibfeindliche hat nichts mit dem Gott Jesu zu tun. Es hat immer auch die andere positive Sicht des Leiblichen gegeben, wie etwa bei Martin Luther: "Darf unser Herr Gott gute große Hechte  und auch guten Wein schaffen, so darf ich sie wohl auch essen und trinken".[2]

Was Gott geschaffen hat, kann/soll ich auch genießen. Und das gilt für schönes Essen und Trinken ebenso wie für schöne Frauen und Männer: Wenn Gott sie so geschaffen hat, dann darf/soll der Mensch sie auch genießen, auf diese und jene Weise.

Wonach ich mich sehne…

Trotzdem höre ich bei Paulus ein wichtiges aktuelles Anliegen: Sorgt für den Leib, schreibt er, aber nicht so, dass ihr den Begierden verfallt, dass ihr nicht mehr Chefin und Herr eures Leibes, eures Lebens seid. Sorgt für euch so, dass ihr nicht in Extreme fallt, dass ihr abhängig, süchtig werdet. Dass ihr mehr wollt und mehr braucht, als euch guttut. Ausschweifungen, Hader, Neid – darin drückt sich eine Angst aus, die sagt: Ich komme zu kurz im Leben.

Letzten Monat ist mein Smartphone kaputtgegangen. Ganz plötzlich, aus heiterem Himmel. Da war schon länger ein Sprung drin, dann hat es hineingeregnet. Und: aus war es. Mein Laptop war auch gerade in Reparatur. Ich war auf einmal unfreiwillig fünf Tage lang nicht online, kein WhatsApp, kein Facebook und Instagram, kein Mobiltelefon, von anderen Apps ganz zu schweigen. Es war furchtbar. Ich konnte nur noch in meinem Büro dienstlich ins Netz, ansonsten war ich vom digitalen Leben abgeschnitten. Ich bin unruhig, nervös und launisch geworden. Eine ganz krasse Zeit. Mir ist dabei deutlich geworden: Ich bin vom digitalen Leben abhängig. Nicht nur, dass vieles mit Smartphone einfacher geht. Uhrzeit, U-Bahn-Fahrplan, das Wetter und Nachrichten erfahren. Mehr noch: Meine persönlichen Kontakte und meine eigene Stimmung hängen von diesem Ding ab. Und wenn das Smartphone nicht da ist, fühl ich mich unsicher, unruhig, ja auch körperlich unwohl, allein und habe so was wie Entzugserscheinungen. Im Vergleich mit anderen Süchten mag das harmlos klingen. Aber nichts ist harmlos, was mich unfrei macht. Seitdem versuche ich einen Tag, in meiner freien Zeit ohne Handy, Fernseher und Laptop auszukommen. Ich schaffe das noch nicht immer. Aber wenn, dann merke ich: Es tut mir gut.

Nach diesem digitalen Entzug höre ich Paulus nochmal anders: Sorgt für euch so, dass ihr frei bleibt, dass euch nichts so zu viel wird, dass ihr abhängig werdet. Abhängig von Dingen, die eure Sehnsucht nur ruhigstellen. Ja, es geht hier um meine Sehnsucht. Wonach sehne ich mich in meinem Leben? Welche Sehnsucht ist offen? Suchtmittel können die Sehnsucht für kurze Zeit ruhigstellen– aber nicht erfüllen.

Erfüllen kann meine Sehnsucht im Letzten nur – ein kairos: Der Moment, den ich nicht machen und planen kann, der Moment, in dem mir kurz aufblitzt: Mein Leben ist gut und hat Sinn, weil Christus mir nahe ist.

Paulus höre ich dann so: Sorgt für euren Leib so, dass ihr diese Sehnsucht spüren könnt: Die Sehnsucht nach dem Ewigen. Entwickelt ein Gespür dafür, wieviel Essen und Trinken, wieviel Sex und Smartphone, wie viele Termine und Weihnachtsfeiern Euch helfen, die Sehnsucht nach dem Ewigen nicht ruhig zu stellen, sondern wachzuhalten.

Vor 28 Jahren, kurz vor dem ersten Advent, starb Freddie Mercury, ein begnadeter Sänger. Er starb an den Folgen von Aids. Sein Leben war durchdrungen von Sucht und Sehnsucht, von Alkohol, Männern, Drogen, Suchtmitteln; und eben einer ganz großen Sehnsucht nach Leben.

Heute, am 1. Dezember, ist auch der Welt-Aids-Tag. Da denke ich an Freddie, und auch an ein paar Freunde von mir, die HIV-positiv sind. Als ich Kind war in den 80ern, war AIDS noch ein Todesurteil. Man hat HIV-positive Menschen kriminalisiert. AIDS wurde als Schwulenseuche, als Strafe Gottes für ein angeblich unordentliches Leben hingestellt. Man hat über die Meldepflicht für HIV-Infizierte diskutiert. "Die Gesunden müssen geschützt werden." Ich erinnere mich: Mein Biolehrer in der 6. Klasse an einem ‚renommierten‘ Münchner Gymnasium sagte: "Ich bin gegen die Meldepflicht, das ist diskriminierend. Man kann sich im normalen Alltag nicht mit Aids anstecken." Daraufhin haben sich Eltern bei der Schulleitung beschwert. Die Kinder würden verdorben. Oh Mein Gott, denke ich mir heute. Was für ein Unsinn. Wie wenig hat man gewusst. Und wie schnell und laut hat man getönt und verurteilt. Einzelne bayerische Politiker und Kirchenleute vorne weg. Peinlich, peinlich.

Gut, dass es heute viel mehr Aufklärung gibt. Und viel bessere Behandlungsmethoden- HIV ist kein Todesurteil mehr. Man kann heute viel offener über Verhütung und Vorsorge sprechen – und man sollte das auch tun als Mensch mit einem Liebesleben, sagt ja schon Paulus: "Sorgt für euren Leib". Und gut ist auch: Dass die Kirchen durch Aids dazu gelernt haben. Heute gibt es Aids-Seelsorger und rund um den Weltaidstag Andachten und Gottesdienste oder, wie in München, einen Candle-Light-walk. Die Kirchen sind sensibler geworden für die Vielfalt von Lebens- und Liebensformen. Es ist normal, verschieden zu sein und es gibt kein normal und keine Normalbiographie. Es gibt nur: Deine und meine Lebensgeschichte. Und jede ist einzigartig, anders, besonders und verdient es, erzählt zu werden, mit Ups und Down. Mit Glücksmomenten und Brüchen. Mit Schmerz und Sehnsucht. Leben allgemein ist nicht nur die Zahl der Jahre, Tage und Termin. Es gibt nur dein Leben und mein Leben, ganz persönlich, individuell, mit Sehnsucht und Schmerz und mittendrin: Die kairos-Momente: Jetzt ist mir der Himmel, jetzt ist mir Gott nahe.

Freddie Mercury hat einen Song über die Zeit komponiert. Time waits for no one. Die Zeit wartet auf niemanden. Und deshalb, so Freddy, können und sollen wir jetzt bewusst leben, hoffen, an einer neuen Welt bauen, miteinander befreundet sein, einander vertrauen. Jetzt, auch jetzt im Advent, ist Zeit dazu. Hoffentlich.

 

[1] Matthias Morgenroth in "Weihnachtschristentum", Gütersloher Verlagshaus 2002.