Es war diese eine Frage, die sein Leben völlig veränderte. Es war diese eine Frage, mit der er seinem Leben eine entscheidende Richtung gab. Eine Frage, die ihn überfiel und ihm ganz plötzlich in den Sinn kam. Es war an jenem Abend, sie waren bei Freunden eingeladen, sie haben miteinander gegessen, haben viel gelacht und hitzig über Politik diskutiert, über Gott und die Welt. Ein gelungener Abend. Auf dem Heimweg hat er sie in den Arm genommen, hat sie geküsst wie schon viele Male und eben gefragt: Ich liebe dich. Willst du mich heiraten?

Die Bildungsreise eines Finanzministers

Auf die richtigen Fragen kommt es an! Immer wieder im Leben. Eine Geschichte, die aus vielen Fragen besteht, eine Geschichte, die zeigt, wie Fragen einen Lebensweg bahnen können, ist die vom Kämmerer aus dem Morgenland. So überschreibt sie meine alte Lutherbibel.

Ein bildungshungriger Politiker, der äthiopische Finanzminister macht sich da auf eine Bildungsreise nach Jerusalem. Dieser Ort, das war in der alten äthiopischen Hochkultur lange bekannt, war ein Zentrum des Wissens, des Forschens, des Nachdenkens. Die legendäre Königin Saba soll einige Jahrhunderte zuvor den wegen seiner Weisheit hochangesehenen König Salomo dort besucht haben. Der Finanzminister scheut weder Zeit noch Geld, um in dieses Bildungszentrum zu kommen. Tage und Wochen ist er unterwegs. Was für ein weiser Politiker! Bildung braucht Zeit und ist nicht mit ein paar Klicks auf dem Smartphone zu bekommen. Und Bildung kostet. Sie lässt sich nicht in Münzen und Scheine umwandeln, mit ihr lässt es sich nicht an der Börse spekulieren. Für den Mann, der sich in seinem Beruf um Finanzen und Bilanzen kümmern muss, scheint das keine Rolle zu spielen. Seine Reise nimmt eine überraschende Wendung. Und endet mit einer Frage, die sein Leben verändert.

Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist.
Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten.
Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!
Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest?
Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
Der Inhalt aber der Schrift, die er las, war dieser (Jesaja 53, 7-8): "Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf.
In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen."
Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?
Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.
Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert´s, dass ich mich taufen lasse?
Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.
Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich.

Hat sich die Reise für den Finanzminister gelohnt? Jedenfalls hat er in Jerusalem eine Schriftrolle erworben und sitzt nun auf der Heimreise auf seiner Kutsche und liest darin – allerdings ohne etwas zu verstehen. Wir steigen zu ihm auf den Wagen, setzen uns neben ihn und schauen in diese Schriftrolle oder in unsere Bibel und merken schnell, dass es uns ganz ähnlich geht. Wir verstehen vieles nicht, was hier geschrieben steht.

Verstehst du auch, was du liest? So hören der Finanzminister und auch ich den  Philippus fragen. Philippus, ein Mitglied der Jerusalemer Urgemeinde, der neben unserem Wagen geht. Es sind vor allem Fragen, die uns weiter bringen und oft genug haben wir mehr Fragen als Antworten. Wer schon alles weiß, kann sich nicht entwickeln, kommt nicht vorwärts. Misstrauisch bin ich gegenüber denen, die meinen schon alles zu wissen, die auf jede Frage die passende Antwort haben, die Bescheid wissen, was die einzige Form des Glaubens ist, was genau Heimat bedeutet, welche Sexualität erlaubt ist und welche nicht, welche Menschen  mehr wert sind und welcher Teil der deutschen Geschichte nur als ein Vogelschiss zu betrachten ist. Sie können alles erklären. Sie wissen sogar ganz genau, wer Gott ist und oft genug gehen sie mit ihrem Wissen über Leichen

Verstehst du auch, was du liest? So beginnt die Bildungsarbeit – mit Fragen. So erschließen sich Kinder die Welt – mit Fragen, mit nicht endenden Warum - Fragen, solange bis wir wirklich keine Antworten mehr geben können. Kindlich ist es zu fragen, kindisch ist es, Fragen nicht mehr nötig zu haben.

Der gebildete Mann aus Äthiopien - und das macht ihn mir so sympathisch - ist sich nicht zu schade, zu fragen: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet, verstehen, was hier steht. Es kann so schwierig sein, die Bibel zu verstehen. Bildung ist anstrengend. Und die Schriftrolle, die der Äthiopier in Jerusalem erworben hat, ist ja nun wirklich keine leichte Kost, kein niederschwelliges Angebot, um in Sachen Glauben und Religion weiterzukommen.

Eine Frage der Toleranz

Von wem, so fragt der Minister, spricht in diesem Text der Prophet Jesaja? Und dann fängt Philippus an zu reden und zu erklären – er sitzt längst bei uns oben auf dem Wagen. Er erzählt von Jesus Christus und er fängt mit dem Wort an, das der Finanzminister gelesen hatte und kommt dann vom Alten bis zum Neuen Testament. Er antwortet auf Fragen und erzählt vom eigenen Glauben ohne aufdringlich zu sein, ohne Absolutheitsanspruch. So stelle ich mir Mission vor: Missionieren bedeutet doch nicht, den anderen zur eigenen Überzeugung zu drängen oder zu zwingen. Wovon ich überzeugt bin und begeistert, was meinem Leben Sinn und Ziel gibt, ja davon kann ich erzählen. Was mir lieb und wert ist, das muss ich weitersagen. Aber es sollte mir auch klar sein: Es müssen nicht alle lieben, was ich liebe. Es muss nicht jeder den gleichen Glaubensweg einschlagen, den ich gehe. Meine Antworten muss nicht jeder akzeptieren. An unserem Wesen muss niemand genesen. Gott hat so viele Möglichkeiten, da will ich ihm nicht ins Handwerk pfuschen. Wir sind nicht die Herren und Meister des Glaubens. Wir können nur Geburtshelfer sein wie Philippus und das ist genug. Wir erzählen, was wir hoffen, was wir glauben und was wir lieben und wir stimmen unsere Lieder an – alles andere liegt bei Gott.

Aber – ganz ehrlich – es fällt doch schwer auszuhalten, dass Menschen nicht lieben, was ich liebe, was wir lieben, dass sie nicht glauben, was ich, was wir glauben, dass sie auf anderen Wegen als meinen und unseren glücklich werden. Und noch schwerer fällt es, die anderen Wege nicht nur zu akzeptieren, sondern zu schätzen. Daran leiden wir schon. Das hat mit Toleranz zu tun. Toleranz kommt von dem lateinischen tolerare und bedeutet erdulden, ertragen. Manche ertragen das Fremde, das Anderssein, das Unbekannte nicht und ich frage mich: gehöre ich zu ihnen?

Eine farbige Frau möchte in eine New Yorker Gemeinde aufgenommen werden. Der Pfarrer ist reserviert. " Ich bin nicht sicher, ob Sie so recht zu uns passen. Ich schlage vor, Sie gehen erstmal nach Hause und beten darüber und warten ab, was ihnen der Allmächtige dazu sagen wird." Einige Tage später kommt die Frau wieder. " Herr Pfarrer", sagt sie, " ich habe Ihren Rat befolgt. Ich sprach mit dem Allmächtigen über die Sache und er sagte zu mir: Bedenke, dass es sich um eine sehr exklusive Gemeinde handelt. Ich selbst versuche schon seit vielen Jahren hineinzukommen, aber bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen." (Andere-Zeiten-Team, Typisch! Kleine Geschichten für andere Zeiten, Hamburg 2010)

So exklusiv möchte ich meine Kirche und mein Land nicht haben, dass Gott darin keinen Platz findet. Was steckt dahinter?
Die große Angst, etwas zu verlieren. Das ist in unseren Tagen in Deutschland und in Europa deutlich zu spüren. Das Fremde und das Andersartige erschreckt. Der Schauspieler Peter Fonda formuliert es so:

Wir haben eine Gesellschaft, in der ein jeder Angst hat vor dem anderen. Nicht vor dem anderen Menschen, sondern davor, dass der andere Mensch anders ist. (Zitiert aus "Newsletter "gemeinsam inklusiv Schwäbisch Hall" April 2017)

Das eigene Land, die eigene Sprache, die Heimat dienen dann dazu, um sich abzugrenzen, sich zu unterscheiden. Wir sind nicht einzigartig und wir leben eher mit Glaubensbrocken als mit fertigen Glaubenssystemen. Deshalb brauche ich nicht andere Lebensweisen, andere Glaubensentwürfe und andere Religionen bekämpfen, um an meinem Glauben festzuhalten. Wir sind unvollendet - wie alle anderen auch.

Von Franz Schubert gibt es eine Sinfonie, die er nicht vollenden konnte. Sie heißt darum die Unvollendete. Doch trotz fehlender Vollendung ist die Musik nicht weniger herrlich.

Jeder von uns komponiert die Sinfonie seines Lebens. Und ist diese Sinfonie nicht immer unvollendet und unvollkommen, selbst wenn wir achtzig Jahre alt werden? Trotz fehlender Vollendung, trotzdem wir sterben müssen, steckt so viel Musik in einem Menschenleben. Gott, der große Meister und Dirigent, er weiß noch mit der lückenhaftesten Partitur etwas zu machen: Sphärenklänge, Himmelsmusik.

Taufe to go

Am Ende unserer Geschichte stellt der Mann aus Äthiopien die entscheidende Frage: "Was hindert´s, dass ich mich taufen lasse?" Diese kurze, rhetorische Frage genügt. Philippus hat nichts dagegen, es kommt ihm gar nicht in den Sinn, den Glaubensstand des Ministers zu prüfen oder ihm irgendein Minimum an Katechismuswissen abzuverlangen. So wird der Minister mitten in der Wüste an einer Wasserstelle getauft, auf seinen Wunsch hin und nicht als Erfolg irgendeiner Missionsstrategie. Eine Blitztaufe oder eine Taufe to go – so würde ich das bezeichnen und gerade deswegen ist das eine meiner liebsten Taufgeschichten. Keinerlei Bedingungen, keine Vorleistungen werden verlangt und gerade auf diese Weise wird deutlich: Die Taufe ist ein Geschenk so wie mein ganzes Leben. Das muss ich mir nicht verdienen. Ich verdanke mich nicht mir selbst, meinem eigenen Tun und Können. Ich bin nicht mein eigener Schöpfer und auch nicht der Garant meines Lebens.

Theologen und Kirchenleute haben an dieser Blitztaufe Anstoß genommen. Wenigstens ein kleines Glaubensbekenntnis haben sie dem Minister in den Mund gelegt und in den Text dieser Geschichte hineingeschrieben.

Philippus aber sprach: Wenn du von ganzem Herzen glaubst, so kann es geschehen. Er aber antwortete und sprach: Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.

Die ursprüngliche Geschichte ist daran nicht interessiert. Für Philippus spielt das keine Rolle. Und so wie er plötzlich aufgetaucht war, ist er auch schon wieder verschwunden. Er hat das Seine getan: Er hat dem bildungshungrigen Minister Fragen beantwortet, hat erzählt, erklärt, einen Menschen in einer bestimmten Lebensphase begleitet und hat getauft. Alles Weitere liegt in Gottes Hand.

Der Wagen des Ministers im Jahr 2018

Der Minister aber zog seine Straße fröhlich. Es ist die Straße von Jerusalem nach Gaza und weiter in Richtung Ägypten. Kann man diese Straße fröhlich gehen? Heute wohl kaum – so unsicher und voller Gewalt wie sie ist. Es sind religiöse Absolutheitsansprüche verbunden mit politischen Machtinteressen. Es sind oft so skandalös schmutzige Geschäfte mit Waffen, die diese Straße und andere Plätze auf der Welt unsicher machen.

Es könnte ganz anders sein. Und so lasse ich den Wagen des Ministers noch einmal von Jerusalem nach Äthiopien fahren – im Jahr 2018. Mehrere Personen sitzen auf dem Wagen, intensiv in ein Gespräch vertieft. Sie reden über Glauben und Religion, Muslime, Juden, Christen. Sie lesen in ihren heiligen Schriften. Man merkt, wie ernst es ihnen ist. Sie erzählen von ihrem Glauben, sie finden heraus, was sie verbindet und was sie unterscheidet. Unendlich viele Fragen haben sie, die ihnen den Weg zueinander bahnen. Sie lehren und lernen. Sie lieben ihren Glauben und gerade deswegen sind sie so dialogfähig. Sie streiten schon um den richtigen Weg, aber sie schlagen mit ihren Wahrheiten nicht den anderen auf den Kopf. Ihre Wahrheit ist das Gespräch. Sie reden über Gott, nicht über ihren Gott, sondern über Gott.

Eine Muslima unterbricht das Gespräch und sagt: "Ich muss jetzt beten." "Bete für uns mit!" sagen die anderen. Und sie antwortet: "Ich bete für die ganze Welt".

Dann ergreift eine junge Frau, eine Jüdin das Wort:

Als ich einmal Gott traf, wusste ich nicht, wie ich ihn nennen sollte. Also sagte ich: Du Name. Haschem. Es gefiel ihm, und ich ging meiner Wege.
Wir begegneten einander erneut, und ich erkannte ihn. Da nannte ich ihn: Gott. Elohim  Beim nächsten Mal dämmerte mir, dass er immer wieder kommen würde, und ich sagte: Ewiger. Er machte mich groß, er stärkte meine Seele und hielt mein Herz. Da rief ich: Allmächtiger. Shaddaj. Ich begann ihm zu vertrauen, ich ließ mich fallen, und er wurde Vater und Mutter für mich: Abba. Amma. Schließlich konnte ich nicht mehr unterscheiden, wo ich aufhörte und er begann. Da nannte ich ihn: Ich-bin-da (Susanne Niemeyer, Typisch, Kleine Geschichten für andere Zeiten, 2005)

Ich-bin-da: Da konnten sie alle zustimmen. Auch der getaufte, äthiopische Minister. Er sitzt mit auf dem Wagen, wie ich ihn mir vorstelle, und mischt sich ein ins Gespräch. "Seit ich getauft bin", so sagt er, " hat sich mein Leben verändert. Seit jener Bildungsreise nach Jerusalem, sehe ich vieles klarer. Ich habe nicht aufgehört, mich weiterzubilden. Ich-bin-da, so habe ich Gott kennengelernt in vielen, auch schwierigen Situationen meines Lebens. Es wäre ganz im Sinne Jesu, dass wir so heute hier zusammensitzen. Er ist Menschen anderer Religionen mit Achtung und Toleranz begegnet, ja er hat sie sogar als Vorbild hingestellt wie den barmherzigen Samariter. Von ihm habe ich gelernt: Gottes Güte gilt allen Menschen. Darum darf unser Gespräch nicht nur der Versuch bleiben, unsere Glaubenssätze miteinander abzustimmen. Es muss vielmehr noch der Versuch sein, den Schutz der Erde miteinander anzupacken und uns für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen."

So stelle ich mir eine Fahrt auf der unsicheren Straße durch Gaza vor und auf all den anderen unsicheren Straßen in dieser Welt. Die Unterschiede zwischen Islam, Judentum und Christentum werden bleiben. Wir haben nicht die gleiche letzte Gewissheit. Es können am Ende nicht alle Recht behalten, sonst könnte ich jetzt nicht mit letzter Gewissheit Christ –oder andere Muslime oder Juden - sein. Aber das schließt nicht aus, sondern ein, dass ich mit meinem speziellen Glauben den jeweils anders Gläubigen mit Achtung und Respekt begegne. Das schließt ein, dass wir zusammen für ein friedliches Zusammenleben eintreten und um die Wahrheit und die Liebe wetteifern, bis Gott einmal endgültig die letzte Wahrheit enthüllen wird.

So bahnt sich der Frieden seinen Weg. Gern würde ich aufsteigen auf diesen Wagen und mitfahren, denn am Ende heißt es: "Sie zogen aber ihre Straße fröhlich."