"Baumwurzeln" heißt ein Bild, das mich nicht mehr loslässt. Letztes Jahr im Juli habe ich es im Amsterdamer van-Gogh-Museum entdeckt. Auf der 50 x 100 cm großen Leinwand hat Vincent van Gogh mit kräftigen Braun-, Grün- und Blautönen und in schwirrenden Linien Baumwurzeln gemalt. Noch am Morgen seines Todestages hat er daran gearbeitet. Fertig geworden ist es freilich nicht! Mit den letzten Dingen wird man wohl nie ganz fertig! Vincent van Gogh – der Maler, der die Ewigkeit abbilden wollte, und dessen Lebensgeschichte unter dem Titel "At Eternity’s Gate" gerade in den Kinos zu sehen ist – Vincent van Gogh malt am Tag seines Todes im Juli 1890, als er selbst an der "Schwelle zur Ewigkeit" steht – "Baumwurzeln"!

Wenn man mit dem Tod in Berührung kommt, sucht man Gewissheit darüber, was einen hält und trägt! "Was hält mich? – Was trägt mich?" so fragt auch Maria Magdalena drei Tage nach Jesu Tod, und steht damit an der Seite all derer, die tot-traurig und zutiefst verstört sind. "Maria steht vor dem Grab Jesu und weint" – Ostern beginnt mit den Tränen einer Frau. Und in diesen Tränen steckt die ganze Geschichte, die sie mit Jesus erlebt hat.

Vor wenigen Wochen stand ich selbst am Sarg und vor dem Grab meiner Mutter. Auch ich habe da bitter geweint – Tränen der Traurigkeit, Tränen des Unabänderlichen, Tränen der Erinnerung… Ich habe dabei auch gespürt, wie gut mir das tut: meinen Tränen freien Lauf zu lassen… Wie da etwas in mir ins Fließen kommt. Etwas sich zu lösen beginnt…!

Vier Mal erwähnt der Evangelist Johannes, Maria habe geweint. Das ist kein Zufall! Tränen sind dem Glauben oft ganz nah. Tränen halten der Hoffnung eine Stelle frei: Ein Mensch findet sich nicht ab, gibt nicht auf. So beginnt Ostern – mit den Tränen einer Frau! Und dieses Weinen rührt mich an.

In der Ostergeschichte komme ich vor mit meinen Gefühlen und Empfindungen. Da sind auch meine Tränen, mein Schmerz und meine Verzweiflung "aufgehoben". (Das macht sie für mich so wertvoll und kostbar!) Denn was hätte ich von einem Osterglauben, der meinen Zweifel, meine Klage und mein ungestilltes Fragen außer Acht ließe?! Zu Ostern gehört das Weinen dazu; all das, was uns auf die Seele drückt – was misslungen und schief gegangen ist…

Das Osterevangelium dringt eher leise an unser Ohr, es klopft zart an unsere Herzen an und entfaltet sich ganz behutsam. Es lässt uns Zeit "mitzukommen" – es lässt mir die Zeit, die ich brauche. Ostern wird es nicht schlagartig – Ostern geschieht in vielen kleinen Bewegungen, in behutsamen Veränderungen zum Neuen. Minutiös beschreibt der Evangelist, wie sich Maria mehrfach umdreht, wie sie sich hin- und herwendet. Im Grunde zeichnet er damit ein Spiegelbild ihrer Seele: Ihr Herz muss erst viele Wendungen vollbringen, bis es aus dem Todesschatten heraustreten kann!

Ich erinnere mich noch gut an eine meiner allerersten Beerdigungen: Nach der Beisetzung stehe ich am Friedhofstor, als die Witwe des Verstorbenen auf mich zukommt und sichtlich erleichtert sagt: "Wissen Sie, Herr Pfarrer, was mir bei der Trauerfeier am meisten geholfen, was mir wirklich gut getan hat…?" – Vielleicht der Bibelvers, oder ein Gebet oder eines der Lieder…, denke ich mir. Stattdessen sagt sie: "Am meisten hat mir geholfen, dass Sie beim Hinausgehen aus der Trauerhalle kurz stehen geblieben sind und sich nach uns umgedreht haben. Das hat mir gut getan!" Für mich war dies ein Schlüsselerlebnis: Es kommt auf die kleinen Zeichen der Zu-Wendung, der Achtsamkeit in besonderer Weise an!

Die Botschaft von Ostern kann nur so und erst dann trösten, wenn die anderen "mitkommen" können. Wenn jede und jeder die Zeit bekommt und das Tempo einschlagen darf, das er oder sie für sich braucht! Das gilt besonders für das Trauern und Abschiednehmen. Maria von Magdala entdeckt das leere Grab als erste und läuft sogleich zu den Jüngern, um mit zweien von ihnen zum Grab zurückzukehren. Als diese beiden schon längst wieder weg sind – ist sie immer noch da. Allein. Sie stellt sich dem, was passiert ist, und läuft nicht davon. Sie wartet, weint, sucht und fragt. Sie tastet ihre Gefühle ab – spürt den Verlust. Sie trauert. Nicht nur einmal geht sie diesen Weg, den Weg ihrer Trauer. Mehrmals schreitet sie ihn ab. Immer wieder!

Wir haben eben von Jasmin gehört, wie ihr die 40-tägige Passionszeit dabei hilft, diesen inneren Weg immer wieder abzuschreiten. "Das ist mein Weg von Syrien nach Deutschland", sagt sie. Mit all dem, was sie verloren und aufgegeben hat. Und dann – mit ihrer persönlichen Auferstehung: "Mein Leben ist nicht zu Ende gegangen. Es ist neu aufgebrochen". Es ist ein schmerzlicher, ein mühsamer Weg. Mit unvorhersehbaren Wendungen und Rückschlägen. Am Anfang dieses Weges ist da vielleicht nur eine Ahnung – eine Sehnsucht, die mich in Bewegung setzt – und zu einer neuen Geschichte wird…! Am Anfang ist da vielleicht nur eine Ahnung, eine Sehnsucht... und gewiss viele, viele Fragen.

Auch Maria Magdalena fragt und hört nicht auf zu fragen. Ja, unendlich viele Fragen gehen einem durch den Kopf, wenn man einen lieben Menschen verloren hat. Eine begegnet mir in Trauergesprächen sehr häufig: "Können Sie mir sagen, wo unser Verstorbener jetzt ist?" Wissen wir, wo sie sind – unsere Toten? In jenen Stunden, als wir Geschwister am Sterbebett unserer Mutter Nachtwache gehalten haben, da hat mich zunehmend ein sonderbares Gefühl erfasst: Auch, wenn sie direkt neben uns liegt, ist sie doch schon nicht mehr richtig da. Und als sie zu mitternächtlicher Stunde ihren Leichnam aus dem Haus getragen haben – hat sich dieses Gefühl zur Gewissheit gefestigt: Sie ist schon nicht mehr hier…!

Wo sind sie, unsere Toten? Wir wissen, wo wir sie hingelegt haben. Ja! Und es ist gut, einen solchen Ort zu haben – für die Trauer, für die Erinnerung, um sich einzuüben ins Loslassen… Unsere Toten sind nicht dort, wo wir sie hingelegt haben, so erfährt Maria an diesem Morgen. Eine Auskunft, die ihr Herz nicht wirklich erleichtert – noch nicht! "Bei meinem Vater und eurem Vater, bei meinem Gott und eurem Gott" hört sie Jesus sagen. Damit sind nicht alle Fragen beantwortet – aber Maria kann mit dieser Antwort etwas anfangen…!

Unsere Verstorbenen sind bei Gott, unserem himmlischen Vater! Ostern wird es für Maria nicht in dem Moment, als sie ins leere Grab blickt. Ostern wird es, als sie das Grab hinter sich lässt und sich dem Leben zuwendet. Da begegnet ihr der Auferstandene. Ostern wird es für Maria in dem Augenblick, als sie ihren Namen hört, sich angesprochen fühlt: "Maria". Und es durchfährt sie: es gibt nur einen, der ihren Namen so unverwechselbar ausspricht…!

"Magdalenensekunde" nennt der Schriftsteller Patrick Roth die alles entscheidende Wende in dieser Ostererzählung. Als Maria ein heiliger Schauer über die Seele läuft. Dieser alles entscheidende Moment, der Ewigkeit in sich trägt – in dem sich ein Mensch und der Auferstandene einander zuwenden.

Jesu Auferstehung ist nichts, was wir festhalten oder belegen können. Sie wird greifbar in solchen Begegnungen – und bleibt doch unfassbar. Ostern wird es, wenn ein zu Tode betrübter Mensch Zu-Wendung erfährt – eine niedergeschlagene Frau aufgerichtet wird – und "ich" sagen kann: "Ich habe den Herrn gesehen…" Dieses "Ich" ist der Schlusspunkt der Ostergeschichte.

Durch die Begegnung mit dem Auferstandenen bekommt Maria ihren aufrechten Gang zurück. Trotz ihres schmerzlichen Verlustes kann sie sich aufrichten und aufrecht stehen. Ist so gestärkt, dass sie getrost loslassen kann. Es wird ihr weiß Gott viel abverlangt, bis sie ins Leben zurückfindet! Mit diesem "ich" wird Maria zur ersten Apostelin, zur Botschafterin der Auferstehung. Und zum Vorbild für einen lebendigen Glauben, der nicht einfach an Jesus festhält – sondern sucht und fragt: Wo es bleibt, das Leben?! Jetzt – im Tod – und nach dem Tod?! Auf der Suche nach dem Leben kommt sie dem österlichen Geheimnis auf die Spur: Die Liebe hört nicht auf am Grab – sie geht durch den Tod hindurch – und verwandelt sich – und verwandelt uns…

Ostermorgen in einem Garten! Ein neuer Tag beginnt – In einem Augenblick kommen sich Gott und Mensch ganz nah – wenden sich einander zu. Für Vincent van Gogh, so habe ich gelesen, ist der Garten, den er beim Blick aus dem Fenster vor Augen gehabt hat, eine Quelle der Inspiration gewesen. In einem seiner Briefe schreibt er: "Ich sehe Dinge, die niemand sonst sieht. Ich muss das zeigen, was sie [sc. die anderen] nicht erkennen. Ich kann ihnen Hoffnung und Trost geben". 

Um Hoffnung und Trost geht es an Ostern! Wir blicken in einen Garten – und erkennen mehr als das, was vor Augen ist – und nehmen nicht nur wahr, was wir für möglich halten.  In einem Garten erlebt Maria Magdalena diesen Augenblick der Ewigkeit. Den Auferstandenen hält sie für einen Gärtner! Was für ein schönes Bild: Jesus, der Gärtner des Lebens, arbeitet im Garten der Welt. Der Schmutz unter seinen Fingernägeln erzählt von seiner Liebe und Leidenschaft. Und seinen Spaten reicht er an uns weiter. Amen.

Evangelische Morgenfeier vom 21.04.2019 mit Pfarrer Jochen Wilde, München, Thema: Der Augenblick der Ewigkeit (Joh. 20,11-18).