Herr Moser, in dem Buch "Gottesvergiftung" schrieben Sie: "Ich weiß, dass du in den Narben, falls ich dich aus mir vertreiben kann, bis zu meinem Tode hausen wirst". Schmerzen die Narben immer noch?

Tilmann Moser: Nein, es sind Narben da, aber die schmerzen nicht mehr. Ich bin nach wie vor sehr mit diesem Thema beschäftigt, aber ohne Schmerzen.

Was sind religiöse Verletzungen, die Narben entstehen lassen können?

Moser: Religiöse Narben sind hauptsächlich Schuldgefühle. Menschen fühlen sich sündig und haben darum eine geringe Lebensfreude.

Viele haben sehr stark an Gott geglaubt, unendlich gebetet und machen sich nun Schuldgefühle, weil sie keine Antwort bekommen haben. Diese Enttäuschung kann jahrelang oder jahrzehntelang als Versagensgefühl existieren, oder als Gefühl: Jetzt bin ich auch von ihm verlassen, der doch gesagt hat, "ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein".

Ist es dann überhaupt möglich, ohne Verletzungen religiös zu sein?

Moser: Ja, das gibt es, wenn in einer einigermaßen harmonischen Familie Gott den Kindern nicht mit Gehorsamserwartung und Sündengefühlen verbunden, sondern auf freundliche Weise beigebracht wird. Wenn sich das mit dem Geborgenheitsgefühl der Familie verbindet, kann es Religiosität ohne Verletzungen geben.

Dann kann der Glaube auch zu einer Ressource für den Menschen werden?

Moser: Durchaus. Mediziner erleben heute in Kliniken, dass Patienten, die diesen gutartigen Glauben haben, schneller gesunden und schneller wieder Kontakt finden. Ich suche auch bei meinen Patienten, wenn sie Verletzungen bekunden, nach diesem ursprünglichen Gefühl und ob es wiederbelebt werden kann.        

Woher kommen die Verletzungen?

Moser: Das kommt darauf an, welcher Anteil des Glaubens zu einer schweren Enttäuschung geführt hat und als Verletzung zurückgeblieben ist. Eine Verletzung zum Beispiel kann sein, wenn ein Kind merkt, die Eltern geben vor fromm zu sein, schicken mich in den Kindergottesdienst, und tatsächlich tut der Vater der Mutter Gewalt an. Diese Kluft zwischen dem, was gepredigt und dem, was gelebt wird, zeigt sich auch in dem ganzen Missbrauchsskandal.

Sind Enttäuschungen weniger schlimm, wenn sie verarbeitet werden?

Moser: Enttäuschungserlebnisse sind sogar notwendig, damit der Glaube reifen kann.

Oft gibt es ja aus der Enttäuschung heraus Zeiten, wo Menschen Gott zu vergessen versuchen und kein Kontakt zu Kirche und Glaube besteht. Plötzlich tritt irgendeine Situation ein, bei der sie das Gefühl haben, das schaffe ich nicht alleine, da brauche ich Beistand.

Mancher Glaube wird als Notstandshilfe wieder in Betrieb genommen. Ich finde das gar nicht so schlecht, denn hier erfolgt eine Rückbesinnung auf eine Kraftquelle, die es früher einmal gab.

Sind Verletzungen prinzipiell negativ zu bewerten oder gibt es eine Art Verletzungsgewinn?

Moser: Muscheln, die Perlen erzeugen, werden ja durch ein Sandkorn verletzt, und um diese injizierte Stelle herum entsteht dann die Perle. Der Reiz führt zur Ausscheidung von bestimmen Flüssigkeiten, die sich niederschlagen und die Perle bilden. Dies ist für mich ein Symbol, dass Verletzungen enorme Herausforderungen sein können und Menschen auch zu großen Leistungen antreiben.

Aber kann eine Verletzung nicht auch das Leben dauerhaft vergiften?

Moser: Es gibt Menschen, die bleiben verbittert und sterben verbittert. Und es gibt Menschen, die kommen von ihrer Sucht nicht los, sie müssen lebenslänglich kompensieren und verletzen dabei dann wiederum andere Menschen. Die Weitergabe von Verletzungen ist ein ganz bedrückendes Thema.

Ein wesentlicher Schlüssel zum Gesundungsprozess ist ja die Fähigkeit, vergeben zu können. Kann der Mensch auch Gott vergeben?

Moser: Ja, wenn die ganze Enttäuschung und der Zorn einmal formuliert wurden, geht es leichter, Gott zu vergeben. Für manche ist es sehr schwer, diese untergründige Wut über die Enttäuschung herauszulassen.

In der Therapie bitte ich jemanden, der Gott anklagt, die Wendeltreppe in meiner Praxis hinaufzugehen und aus der Rolle Gottes auf die leidende Kreatur zu blicken. Dadurch verändert sich das Gottesbild, und dann kann man ihm auch vergeben.

Und wenn Gott dann sogar sagt, es tut mir leid, dass du so an mir gelitten hast, nicht alle meine Diener haben das richtige Evangelium gepredigt, dann kann man ihm auch verzeihen. Und sich selber natürlich auch. Man kann den verletzten Teil nach außen stellen und sagen, 'Ich habe es schwer gehabt mit dir, Gott.'

Manchmal zeigen Menschen körperliche Narben mit einem gewissen Stolz. Gibt es auch einen Stolz auf seelische Narben?

Moser: Manche Menschen sind stolz darauf, auf das, was sie überstanden, durchgekämpft, erlitten und damit überlebt haben. Manche behalten das still für sich, manche hausieren damit. Und es gibt einen Narzissmus der Verwundung.

Noch einmal gefragt: Braucht eine heilsame Religion, ein heilsames Gottesbild, nicht doch beide Seiten Gottes? Gäbe es keinen sanktionierenden, keinen strafenden Gott, hieße das in der Konsequenz, dass es auch keine Gerechtigkeit gäbe.

Moser: Die Christen glauben, ohne Gott gäbe es keine moralische Ordnung. Aber es gibt keine Garantie, dass der christliche Gott wirklich für Gerechtigkeit sorgt. Er fordert sie, aber ich finde, er hat nicht viel erreicht. Es ist interessant, wie viel von dieser frühen gottgegebenen Sittlichkeit in Menschen, die sich von Gott verabschiedet haben, überlebt hat. Insofern zehren wir in Europa teilweise noch von der christlichen Geschichte. In der Familie und im Freundeskreis mag das noch funktionieren, aber außerhalb, z.B. in der Wirtschaft, gibt es die christliche Moral nicht mehr.

Kann man dem richtenden Gott davonlaufen und sich in die Arme eines barmherzigen Gottes flüchten?

Moser: Viele versuchen es, und ich glaube, es kann auch gelingen, weil der barmherzige Gott - wenn man Glück hat - sagt er, 'so war es nicht gemeint.' Was ich in der Therapie versuche zu sagen, erleben viele Menschen auch in der Predigt.

Es wird heute auch anders gepredigt, auch die Kinder hören andere Dinge über Gott - die Religionspädagogik hat enorme Fortschritte gemacht. Aber in der Therapie beobachte ich, dass in der Seele unterschiedliche, sogar widersprüchliche Gottesbilder bestehen können, die je nach Stimmung oder Biorhythmus mobilisiert werden.

In der Evangelischen Jugend machen Jugendliche an unterschiedlichen Orten religiöse Erfahrungen. Halten Sie das trotzdem für wichtig?

Moser: Wichtig und richtig. Man kann Erfahrung machen, man kann danach greifen oder es auch wieder vergessen. Ich konnte in meiner Jugendzeit einmal mit einer CVJM-Gruppe in die Alpen fahren. Das war für mich eindrucksvoll. Die Rituale, das Gottvertrauen und die Freundlichkeit untereinander, das kannte ich so nicht.

"Du hast unsere Seelen gepachtet", schreiben Sie in dem Buch "Gottesvergiftung."

Moser: Ich habe mal in einer Jugendstrafanstalt gearbeitet. Dort war es für manche überlebensnotwendig, Schuldgefühle zu verdrängen, weil sie keine seelische Kapazität hatten, die Schuld zu fühlen. Ein theologisches Wehe ist da gar nicht mehr notwendig. Wenn Sätze wie "Gott sieht ins Herz" oder "Gott kennt deine Gedanken" bereits verinnerlicht wurden, dann kommt das "Wehe" automatisch.

Was macht es mit Menschen, die sich in ihrer Religion auf einen Gefolterten, auf einen Gekreuzigten, auf einen Verletzten besinnen?

Moser: Ich finde es ein Unglück, dass diese Bilder der Ursprung unseres Christentums sind. Die Milderung vollzieht sich nur sehr langsam. Ich finde diese Opfergeschichten als ein Unglück, und es kommt hinzu, dass es Männer waren, die diese Grausamkeiten begangen haben.

Was geschieht mit Menschen, wenn sie auf das Kruzifix blicken?

Moser: Wenn es dem Menschen nicht gelingt, sich dagegen zu immunisieren, dann ist er verloren. Wenn er diese Theologie ganz ernst nimmt, dass dieser Jesus gestorben ist, weil er, der Mensch, ein Sünder ist, dann findet er nicht raus aus der Schuld, muss dauernd beichten oder um Gnade flehen.

Lässt sich bei Ihrer Sicht auf das Kreuz etwas Positives aussagen? Der auslösende Moment für das Christentum ist ja nicht das Kreuz, sondern die Auferstehung.

Moser: Das frage ich Sie. Sie haben jahrelang die Erfahrung, wie das Kreuz und der Gekreuzigte ankommen.

Ich bin davon überzeugt, dass eine Religion, in der so viel Grausamkeit gezeigt wird selbstverständlich auch die Einstellung zu Grausamkeiten beeinflusst. Gehen Sie weiter Ihren predigenden Rettungsweg, ich gehe den therapeutischen Heilungsweg.

Der Rettungsweg oder Heilungsweg?

Moser: Das Christentum hat ja Selbstanalyse und Selbstkritik gefördert: Was mache ich eigentlich? Wie gehe ich mit meiner Moral um? Wie bin ich zu anderen Menschen? Ich werde weiter versuchen Menschen zu heilen, die geschädigt daraus hervorgegangen sind.

"In der Therapie", haben Sie einmal gesagt, "forsche ich nach den Trümmern, die Gott hinterlässt". Was kann auf diesen Trümmern wachsen?

Moser: Da fallen mir Reisebilder ein. In der Türkei oder in Griechenland wurden z.B. Steine der Theaterruinen als Baustoff für neue Wohnungen benutzt. Ebenso war es auch beim Kolosseum in Rom oder bei der großen Arena in Verona. So ähnlich stelle ich mir das beim Christentum auch vor. Das gigantische theologische Gebäude enthält Bruchstücke, mit denen jemand, der den Schrecken überwunden hat, weiterbauen kann. Nicht alle Trümmer bleiben Trümmer.

Gehört dazu auch der mitleidende Gott oder der solidarische Jesus?

Moser: Ja, das hilft vielen. Für mich bleibt aber die Frage, warum musste Gott es mit Jesus so arrangieren? Warum brauchte es diese Grausamkeiten, um die Welt zu retten? Immer wieder tauchen solche grausamen Vernichtungen in der Bibel auf, von der Vertreibung aus dem Paradies bis hin zum Untergang fast aller Lebewesen bei der Sintflut.