Wir kennen die Situation: Wir fahren in eine Kreuzung und sehen von rechts ein Auto kommen, dann schießt es uns durch den Kopf: "Na, das schaffe ich schon noch." Ein klassischer Fall von Selbstüberschätzung mit manchmal schweren Folgen - nur weil ein Gebot übertreten wurde. Die Zehn Gebote Gottes mit Verkehrsregeln zu vergleichen - geht das? Nimmt man dem Wort Gottes damit nicht den Ernst?

Die Gebote der Bibel wollen genau dies: Den Verkehr, den Umgang der Menschen untereinander, mit Gott und nicht zuletzt mit sich selbst regeln. Damit niemand zu Schaden kommt, damit alle gut leben können. Das gilt nicht nur für das fünfte und sechste Gebot "Du sollst nicht töten" und "Du sollst nicht ehebrechen". Es gilt auch und besonders für das Hauptgebot, das allen anderen als Überschrift und Grundlage voran steht: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Sklaverei befreit hat: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben."

Wer sich an dieses Gebot hält, entgeht der Gefahr, statt des lebendigen Gottes etwas in den Mittelpunkt zu stellen, das nicht Leben und Freiheit gibt, sondern den Menschen versklavt und unterdrückt: Arbeit, Erfolg, Vergnügen oder ein Suchtmittel. Die nächstliegende und darum größte Gefahr, vor der das erste Gebot schützen will, ist dies: sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, alle Dinge nur auf sich zu beziehen, alle Menschen und die Beziehungen zu ihnen nur als Instrument für die eigene Befriedigung zu gebrauchen. Gott, der alles Leben geschaffen hat und der uns die Freiheit schenkt, er ist Mittelpunkt und Bezugsrahmen unseres ganzen Lebens, wenn wir mit Ernst Christen und Menschen sein wollen.

Gott steht im Mittelpunkt - alle anderen Gebote leiten sich von diesem ersten Gebot ab

Alle anderen Gebote sind Folgen, Ableitungen aus diesem einen Gebot. Gott darf nicht für die eigenen Interessen benutzt, darf nicht zum Instrument gemacht werden. Das geschieht überall da, wo andere Menschen "im Namen Gottes" unterdrückt, bekämpft, gefangen gehalten oder gar getötet werden. Das ist der "Missbrauch" des Namens Gottes, den das zweite Gebot verbietet, nicht ein unbedachter Fluch oder ein Schimpfwort.

Weil Gott im Mittelpunkt steht und nicht meine Arbeit, deshalb darf - und soll! - ich Pausen machen, freie Tage einlegen, die der Besinnung und dem Feiern dienen. Zeiten, in denen ich die Beziehung zu Gott, zu meiner Familie und zu meinen Mitmenschen - und wiederum: nicht zuletzt zu mir selbst - pflegen und feiern kann. Und weil Gott mir durch die Liebe meiner Eltern das Leben geschenkt hat, bin ich es ihnen schuldig, sie zu versorgen und für sie da zu sein, wenn sie alt sind. Und weil Gott nicht nur mir, sondern allen Menschen das Leben geschenkt hat, darum darf ich keinem anderen Menschen das Leben nehmen, ja ich muss die Grenzen seiner körperlichen und geistigen Unversehrtheit beachten.

Gerade das letzte Beispiel führt uns zur Auslegung der Zehn Gebote durch Martin Luther. In seinem "Kleinen Katechismus" bilden die Zehn Gebote das erste "Hauptstück"; sie sind die Grundlage für das Zusammenleben in Familie, Kirche und Staat. Auch für Martin Luther war das erste Gebot Überschrift und Grundlage aller anderen. So legt er das erste Gebot aus: "Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen."

Die Erklärung jedes weiteren Gebots beginnt er mit den Worten: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir" - das erste Gebot wird jedesmal mitgehört, wo eins der anderen Gebote genannt wird. Und Martin Luther legt Wert darauf, dass die Gebote, wenn sie auch in der Mehrzahl als Verbote formuliert sind, nicht nur eine bestimmte Handlung verbieten (etwa einen Menschen zu ermorden), sondern zu einer ganzen umfassenden Lebenshaltung anleiten wollen: Wir sollen unseren Mitmenschen "helfen und beistehen in allen Nöten".

Die Gebote sind notwendig, weil jeder Mensch sonst zuerst an sich selbst denkt

Es geht bei den Geboten also nicht darum, bestimmte Handlungen zu unterbinden. Es geht vielmehr darum, das ganze Leben an Gott auszurichten - dass alle Menschen gut, in Freiheit und Frieden leben können. Diesen Sinn hat wohl auch die Radikalisierung der Gebote, die Jesus in der Bergpredigt (Mt 5) gibt. Es geht Jesus um die Einstellung, die wir zu unseren Mitmenschen und zu Gott haben.

Es geht ihm um eine Lebenshaltung, die den anderen achtet und ihm ermöglicht, sein Leben sinnvoll und angemessen zu führen. Grundlage dieser Haltung ist wiederum das erste Gebot, das Jesus auch ausdrücklich als das "höchste" bezeichnet: "Du sollst lieben mit allem, was du bist und hast - und deinen Mitmenschen ebenso wie dich selbst" (Mt 22, 37-40), und - so wird heute oft sinnvoller Weise hinzugefügt - deswegen sollst du auch dich selbst lieben.

Wer dieses Gebot hält, so meint Jesus, der braucht die anderen alle nicht. Damit sind wir wieder beim Straßenverkehr: Wenn es allen um einen reibungslosen Ablauf ginge und nicht nur darum, selbst als erster und schnellster voranzukommen, bräuchte es keine Verkehrsregeln. Nachdem wir aber Menschen sind, und nachdem Menschen zuerst an sich selbst denken, braucht es diese Regeln.

Zurück zu den Geboten: Könnten wir Gott lieben mit all unseren Kräften, mit Leib und Seele, mit dem Willen und dem Verstand, und unsere Mitmenschen und uns selbst dazu, dann bräuchte es all die Gebote der Bibel nicht. Dann wäre eingetreten, was die Propheten so ausgedrückt haben: Es kommt ein Tag, da wird Gott den Menschen sein "Gesetz in ihr Herz geben und in den Sinn schreiben". Dann wäre der Bund Gottes mit uns an sein Ziel gekommen.

Die Gebote sind aktueller denn je

So lange dieses Ziel aber noch nicht erreicht ist, sind die Gebote notwendig. Dabei geht es nicht nur um das dritte Gebot (Sonntagsarbeit). Sind nicht die meisten politischen Auseinandersetzungen ein einziger Verstoß gegen das achte Gebot (das Verbot der üblen Nachrede und Verleumdung)? Und ist nicht fast unser gesamtes Wirtschaftsleben auf der Werbung und damit auf dem Verstoß gegen das neunte und zehnte Gebot (Begehren!) aufgebaut?

Die Gebote sind alles andere als überholt. Und trotzdem: Was uns als erstes zu hören not tut, ist das wichtigste und zentrale Anliegen aller Gebote - dass wir Gott Gott sein lassen und ihn mit unserem Leben, unserem Verhalten, mit unseren Worten und Handlungen ehren. Ihn, den Gott, der alles Leben geschaffen hat und der die Freiheit aller Menschen von allen Zwängen will.