Auf seinen Visitationsreisen durch Kursachsen war Martin Luther immer wieder damit konfrontiert, dass die Menschen, die er traf, über den christlichen Glauben und die reformatorischen Einsichten nur sehr lückenhaft Bescheid wussten. Luther wollte deshalb Pfarrern und Eltern eine knappe, aber genaue und tragfähige Grundlage zur Glaubensunterweisung an die Hand geben. Sie musste ebenso leicht zu lernen wie zu vermitteln sein.

Wie erfolgreich ihm das gelang, lässt sich nicht nur daran ablesen, dass sein Kleiner Katechismus (neben dem Großen Katechismus und den Schmalkaldischen Artikeln) bis heute zu den lutherischen Bekenntnisschriften gehört, auf die Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert werden. Seit 1529 sind Luthers Katechismen in unzähligen Ausgaben erschienen. Noch zu Lebzeiten Luthers war der Kleine Katechismus in mehrere Sprachen übersetzt. Bis hin zu heutigen Konfirmandengenerationen haben seither Millionen evangelische Christen mit dem Kleinen Katechismus die Grundlagen des christlichen Glaubens eingeübt.

Luthers Kleiner Katechismus hob erfolgreich das Niveau des Glaubenswissens im breiten Volk. "Hausväter", also die Haushaltsvorstände, waren nicht nur für die Unterweisung der eigenen Familie verantwortlich, sondern auch für die des "Gesindes" (also der Angestellten und Bediensteten). Zugleich diente der Kleine Katechismus als elementares Lehrbuch: An ihm entlang lernten Generationen von Kindern Lesen und Schreiben. Über Jahrhunderte war der Kleine Katechismus oft das einzige Buch, das die Menschen besaßen. Frühere Drucke enthielten deshalb häufig neben dem Katechismustext auch das Alphabet und das kleine Einmaleins.

Der Kleine Katechismus ist nicht etwa ein Auszug aus Martin Luthers Großem Katechismus, sondern ein eigenständiger Text. Schon seit seinen literarischen Anfängen hatte Luther Schriften zur Einübung in den christlichen Glauben verfasst. Bereits 1520 schrieb er "Eine kurze Form der Zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers".

Zum außerordentlichen Erfolg des Kleinen Katechismus beigetragen haben Luthers einprägsame Formulierungen und die geschickte "rhetorische" Frage-Antwort-Struktur ("Was ist das?"). Luther beginnt mit einer "Vorrede" und behandelt dann die einzelnen Themen in eigenständigen Abschnitten, die er "Hauptstücke" nennt. Den Abschluss bilden die beiden Sakramente, Taufe und Abendmahl einschließlich der - später hinzugefügten - Beichte. Dass Luther neben dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser auch die Zehn Gebote im Wortlaut anführt, zeigt die Bedeutung, die Luther ihnen beimaß.

Bewusst stellt Luther den Dekalog an den Anfang, vor das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser: Als ethisches Grundgesetz lehren die Zehn Gebote, was der Mensch tun und lassen soll; der Glaube sagt, was Gott tut und gibt; und das Vaterunser drückt aus, wie der Mensch die Gnade Gottes "begehren, holen und zu sich bringen soll". Für sich allein genommen ist Gottes Gesetz unerfüllbar, doch Gottes Barmherzigkeit erweist sich in Christus.

Wie Augustinus legt Luther beide Tafeln des Dekalogs deshalb mit Jesu Doppelgebot der Liebe aus: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt" [5. Mose 6, 5]. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" [3. Mose 19, 18]. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. (Matthäus 22, 37-40)

Auch in der Nummerierung der Gebote übernimmt Luther die mittelalterlich-katholische Zählweise. Mit dem Wittenberger Maler Lucas Cranach eng verbunden, lässt Luther dabei allerdings das Bilderverbot unter den Tisch fallen. Juden, orthodoxe Christen und Reformierte zählen es als 2. Gebot, bei Augustinus gehört es noch zum 1. Gebot.

Luthers große und für die Neuzeit folgenreiche Perspektive auf den Dekalog ist das Gewissen. Die Zehn Gebote erinnern nach seiner Auffassung in unüberbietbarer Weise an das "natürliche Gesetz", das Gott in der Schöpfung den Menschen als seinen Kreaturen eingeschrieben hat: "Was Mose geschrieben hat in den Zehn Geboten, das fühlen wir natürlich in unserem Gewissen."

Wozu aber überhaupt die Mose-Tafeln, wenn das, was auf ihnen steht, uns gar nichts anderes sagt als das, was Gott allen Menschen bereits ins Herz geschrieben hat? Für Luther gehört zum Menschsein wesentlich dazu, dass Menschen dazu neigen, die Stimme ihres Gewissens zu knebeln. Gott rufe daher mit dem Dekalog das natürliche Gesetz in Erinnerung und wecke mit ihm das Gewissen. Luther hat mit seinem Kleinen Katechismus jedenfalls auf sprachlich geniale Weise die Universalität der Zehn Gebote noch deutlicher hervorgehoben. Und so dazu beigetragen, ihren Erfolgsweg in die Moderne zu bahnen.

Martin Luther als Professor - Porträt aus der Werkstatt Lucas Cranach d.Ä. 1529 (Ausschnitt)
Martin Luther als Professor: Porträt aus der Werkstatt Lucas Cranach d.Ä. 1529. Doch sah der Reformator tatsächlich so aus?