Beängstigende Worte aus dem Buch der Offenbarung, kolossale Gemälde von Peter Paul Rubens, bizarre Darstellungen von Hieronymus Bosch, erschreckende Bilder von Albrecht Dürer fallen einem ein, wenn im Zusammenhang des Glaubens vom "Gericht" die Rede ist. Manchmal überlagern die eindrücklichen Bilder des Grauens den eigentlichen Sinn des Gerichts: Gott will einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen und die endgültige Erlösung der Menschen, ja der ganzen Schöpfung und aller Kreatur erwirken.

Ob die genannten Bilder nicht alttestamentarisch, orientalisch, renaissancehaft und barock übertrieben sind? Schlägt Gott eines Tages, am Ende der Tage, am Jüngsten Tage, etwa aus enttäuschter Liebe zu seiner Menschheit zu? Wird er gar den schlechten Stil seiner Menschheit übernehmen, die ihn allerdings in der Produktion apokalyptischer Katastrophen längst übertrifft?

Gott kann anders. Gott sei Dank. Das jedenfalls lehrt Jesus und taucht alle Traditionen des Glaubens konsequent in ein neues Licht: "Gott ist die Liebe". Daran müssen sich seither alle Glaubensaussagen messen lassen. Von diesem zentralen Satz her müssen selbst biblische Aussagen korrigiert werden, auch die vom Gericht. Auffällig sparsam geht Jesus deshalb mit apokalyptischen Gedanken um, verweigert gelegentlich alle Auskünfte zum Thema und stellt Fragen des Gerichts und des ewigen Lebens ganz "dem anheim, der am Ende gerecht richten wird".

Siebenmal siebenundsiebzigmal solle man vergeben, sagt Jesus

Was aber heißt unter diesem neuen Aspekt der Liebe Gottes "gerecht richten"? Dem "gerechten Richter" geht es um die Rechtfertigung des Sünders, ausgerechnet des Sünders im gegenwärtigen täglichen Leben, und im künftigen Jüngsten Gericht wird Gott zwar richten, aber so, dass er mit dem Sünder "gerecht verfährt", indem er ihm "gerecht wird". Jesus ist gekommen, "zu retten, nicht zu richten". "Ich richte dich nicht!" sagt er der in flagranti ertappten Ehebrecherin. Ihre standgerichtliche Verurteilung durch alle, die auf Strafe erpicht sind, unterbindet er: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!"

Typisch für den liebevollen Gott und Richter ist das "Gericht", das sich am "verlorenen Sohn" vollzieht. Der hat Geld und Gut verspielt, sein Leben verscherzt, alles Erbarmen verwirkt und wird dennoch nicht gerichtet. Gerettet wird er und darf sich retten in die weit ausgebreiteten Arme des Vaters. Dieser "Richter" lädt nicht vor, er lädt ein: zum Festmahl, zum Essen und Trinken und Fröhlichsein. Der "Prozess" der Aufarbeitung aller Verfehlungen mag ein andermal geschehen, "außergerichtlich" und, in der Logik des Gleichnisses, weitergedacht: wenn dem "Angeklagten" der Mund überläuft, wovon das Herz voll ist.

Wer Jesus fragt, wie oft man einander vergeben solle, erhält die Antwort: siebenmal siebenundsiebzigmal solle man vergeben, mit schier unendlicher Geduld also, und er lebt vor, was das heißt. "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" sagt er im Sterben. Wie könnte der Richter im Himmel weniger barmherzig sein als der Mann am Kreuz! Jesus jedenfalls spricht "besonders schwere Fälle" wortlos frei vom Urteil der Menschen und damit vom vermeintlichen Gericht Gottes - mehr als Gott selbst scheinen ja Menschen an Aburteilungen interessiert zu sein. De facto freigesprochen werden, indem sie mit ihm zu Tisch sitzen, "letzte Menschen" aller Härtegrade: Zöllner und Huren, Aussätzige und Bettler, arme Lazarusse aller Art. Der Zwang, sie de jure, nach menschlichem oder göttlichem Recht verurteilen zu müssen, entfällt.

Im Wort "richten" steckt eine eigenartig schöne Doppeldeutigkeit

Wenn Jesus gelegentlich doch bedrohliche Bilder vom Gericht verwendet, sind selbst die Evangelien zu hinterfragen, ob sie an dieser oder jener Stelle im Originalton Jesu reden. Die sein Leben zu Papier bringen, halten die konsequente Freiheit Jesu nicht durch und fallen nicht selten in papierene apokalyptische Vorstellungen zurück. Wenn aber Jesu ureigenste Sprache gelegentlich doch apokalyptisch klingt, dann offenbar, um den Ernst seiner rigorosen Ethik zu unterstreichen. "Wer zu seinem Bruder sagt 'du Narr!' ist des höllischen Feuers schuldig", sagt Jesus, und dem reichen Mann im höllischen Feuer gibt selbst er kein Pardon. Dieses radikale Urteil Jesu ist nur zu ertragen, weil er umgekehrt auch die radikale Barmherzigkeit Gottes verkündet und vorlebt und Grund zur Hoffnung lässt, dass Gott am Ende eben doch gerecht, also liebevoll richten wird.

Wenn Jesus auf das Weltgericht zu sprechen kommt, überrascht er mit den Kriterien, nach denen gerichtet werden wird. Im Himmel werden sich Menschen vorfinden, denen nicht bewusst ist, was sie Besonderes getan haben sollen. Selbstvergessen haben sie getan, was zu tun war: Hungernden zu essen und Durstigen zu trinken gegeben, Nackte bekleidet, Kranke besucht. Alltägliche Anforderungen der Nächstenliebe. Sie haben das unbewusst getan, "nur" angerührt von der Not anderer, ohne darauf zu achten, ob es im Himmel in der Spalte "gute Werke" gebucht würde. So können freilich auch die verurteilt werden, die all dies versäumt haben. Gerichtet für alle Ewigkeiten? Zumindest das wird deutlich: so sorgfältig, so ernsthaft soll nach dem Willen Gottes das Leben gelebt werden.

Abschließend muss noch erwähnt werden, dass das Wort "richten" einen ganz besonderen Klang von eigenartig schöner Doppeldeutigkeit hat. In seiner juristischen Bedeutung erinnert es daran, "dass wir alle offenbar werden müssen vor dem Richterstuhl Gottes". Wie vor einem extrem streng verurteilenden, aburteilenden Richtern der allenfalls "hinrichtet"? Die andere Klangfarbe des Wortes "richten" aber legt nahe, dass Gott alles noch einmal liebevoll zur Sprache bringen wird. Er wird Dinge und Wesen dieser Welt im anderen Sinne "richten". Er wird sie wieder recht machen, "richtiggehend" wie im Anfang, als "er sah, dass es gut war". "Gott ist die Liebe" und wird uns demnach und nach allem, was wir von ihm wissen, in diesem Sinne liebevoll "richten".