Diakonie - das ist das besondere Qualitätsmerkmal der evangelischen Kirche, das Alltagsgesicht unserer Kirche und die beharrliche Erinnerung, vom Reden zum Tun zu kommen. Diakonie - das ist ein bunter Bilderbogen von gemeindlicher Diakoniearbeit vor Ort in Diakoniestationen, Beratungsstellen, Projektinitiativen und das wache Auge jedes Christen vor Ort für die Not in den Gesichtern der Menschen.

Diakonie - das sind über 400.000 hauptamtliche und weit mehr ehrenamtliche Mitarbeitende von Flensburg bis Garmisch. Das sind 1.100.000 Plätze für Menschen in Not, das sind über 100 verschiedene Berufe und Qualifikationen in vielen tausend Einrichtungen - organisiert in Vereinen, gemeinnützigen GmbHs, Körperschaften öffentlichen Rechts und über 7.000 basis-diakonischen Selbsthilfegruppen.

Diakonie - das ist eine große Geschichte von diakonischen Gemeinschaften, Diakonissen, Diakonen und Diakoninnen, Frauen und Männern, wie Francke, Sieveking, Fliedner, Bodelschwingh, Löhe und wie sie alle heißen mögen. Sie haben vor allem im 19. Jahrhundert große Werke der Nächstenliebe begründet, sie deckten den geistlichen und sozialen Notstand ihrer Zeit auf und versuchten gegen eine tote Kirchlichkeit die Kirche zu erneuern. Diakonie war von Anfang an Armenfürsorge. Man stelle sich vor: 1.780 gab es in München 37.000 Einwohner, davon waren 4.200 Bettler!

Alten wie jungen Menschen können diakonische Einrichtungen Geborgenheit, Schutz und Hilfe bieten

Diakonie heute - das steht für Stefan, der zu verkommen droht, weil er schon als Kleinkind von einem zum anderen geschubst wird und schließlich Aufnahme findet in einer Wohngruppe der Jugendhilfe, einen Ausbildungsplatz bekommt und jetzt als Gärtner einen festen Job hat.

Diakonie - das steht für Bärbel, die als atemgelähmte junge Frau noch einmal auflebt, weil sie nicht als Pflegefall irgendwohin abgeschoben wird, sondern mit anderen jungen Menschen Geborgenheit und Selbständigkeit in einer Wohngemeinschaft findet.

Diakonie - das steht für Frau Unruhe, die auf Grund ihrer demenziellen Erkrankung ortlos geworden ist und nach Aufnahme in ein beschützendes Haus der Diakonie zumindest ein wenig von ihrer Angst verliert.

Jesus Christus ist das Urbild und Leitbild für diakonisches Denken, Fühlen und Handeln

Bei all der Vielfalt von Aufgaben, Strukturen, Notsituationen, Hilfsangeboten und Rettungsaktionen vor Ort und weltweit, ist Diakonie Kirche. Diese Aussage ist nicht nur eine Erklärung der Loyalität gegenüber der Kirchenleitung, sondern Jesus Christus ist Herr der Kirche. Er ist unser Urbild und Leitbild für diakonisches Denken, Fühlen, Reden und Handeln. Dieses Leitbild ist verankert in der Bibel. Für mich sind es vier Texte, zu denen ich mich immer wieder hingezogen fühle:

Zum Ersten: Der wiederkommende Menschensohn, der die Seinen wachend und bereit finden möchte, wird sich selbst wieder die Dienstschürze umbinden und sie zu Tisch bitten und sie bedienen (Lk. 12,37). Das Erkennungsmerkmal für Christus ist die Schürze, seine Dienstbereitschaft adelt unseren Dienst.

Zum Zweiten: Der Christushymnus (Phil. 2,5-11) singt von Christus, der sich seiner Göttlichkeit entäußert und Knechtsgestalt annimmt, um ganz nah bei den Menschen in ihrer Niedrigkeit zu sein. Indem er freiwillig Elend und Tod gehorsam erträgt, bricht er die Macht von Selbstsucht, Sünde und Tod. Und wird so zum Herrn aller Herren.

Zum Dritten: Wer wie Jesus Christus gesinnt ist, lässt sich in seine Nachfolge rufen und macht sich auf den Weg zum Nächsten. Wer nun mein Nächster ist, das lässt sich nicht im voraus definieren. Die unvergleichlich eindrückliche Beispielgeschichte vom Barmherzigen Samariter (Lk. 10,25-37) schärft ohne säuerlichen Moralismus ein, dass das Wesen der Liebe verdreht wird, wenn man sich seinen Nächsten aussuchen möchte. Es gehört zur Mündigkeit und zur Freiheit der Christenmenschen, den Augenblick, das Gebot der Stunde zu erkennen und das Nötige zu tun. Nicht die religiösen Experten sind es, sondern der gerade vorbeikommende Samariter handelt. Und die Begründung seines Handelns liegt genau im Tun der Barmherzigkeit, Jesus fragt nicht nach dem Motiv, nach dem Lohn oder einem anderen höheren Zusammenhang.

Zum Vierten: Diakonische Nachfolge, ohne sie ausdrücklich als Nachfolge zu bezeichnen, finden wir in der Erzählung vom Weltgericht (Mt. 25,31-6): Die Werke der Barmherzigkeit "Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte kleiden, Fremde beherbergen, Gefangene befreien, Kranke pflegen." Für mich ist es faszinierend, mit welcher Klarheit ohne fromme Betulichkeit Jesus das Tun der Christen beschreibt.

Die Grundbedürfnisse und die Würde des notleidenden Menschen stehen im Mittelpunkt, ohne Wenn und Aber. Jeder braucht sein Lebensmittel. Hier erhält das Doppelgebot der Liebe, nämlich Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte zu lieben und den Nächsten wie sich selbst (Luk. 22,37-38), seine Aktualität und sein Gewicht: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Jesus identifiziert sich mit den Ärmsten und wird ihnen zum Bruder.

Die Diakonie muss sich in einer sich wandelnden Gesellschaft immer wieder "positionieren"

Diese Texte sind die zentralen Leitbilder der Standortsuche für die Diakonie 2000. Vieles ist im Umbruch, der Sozialstaat - jahrzehntelang verlässlicher Partner der Diakonie - definiert sich neu, der soziale Markt wird ausgerufen, man muss sich "positionieren", um nicht auf dem Markt unterzugehen. Vielfach hängt unseren Diensten noch das Pathos einer altertümlichen Sprache, Denkweise und Praxis an. Unsere Organisationsformen müssen sich ändern. Es zählt nicht, wie groß ein diakonischer Träger ist, sondern wie schnell er mit seinen Fähigkeiten am richtigen Ort ist.

Unser Gegenüber in der Diakonie versteht sich immer weniger als Objekt des Hilfehandelns, sondern vielmehr als Kunde, Leistungsnehmer mit Rechtsanspruch als selbständiger Partner. Wer diese neue Sicht vertritt, ist nicht ein seelenloser Dienstleiter, sondern einer, der das Wort Jesu ernst nimmt: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!" (Mt. 7,12). Freilich ist Diakonie auch immer Anwältin der Menschen, die keinen Rechtsanspruch auf eine soziale Leistung haben oder ihre Rechte verwirkt haben. Für sie wäre die Bezeichnung "Kunde" ein blanker Hohn.

Wichtig ist, dass die Leitbilder stimmen und vom Kopf in die Hände fahren, egal wie sie heißen mögen: "Stark für andere, mit Leib und Seele, Menschen an Ihrer Seite." Wir müssen künftig viel stärker um das wahre Bild vom Menschen kämpfen, das Unwort des Jahres 1998 vom "sozialverträglichen Ableben" zeigt uns, worauf wir uns einzustellen haben. Diakonie 2000 - das ist die noch lange nicht zu Ende geträumte Vision einer diakonischen Kirche, die zu einem Wandel der Kirche selbst beiträgt.

Diakonie ist ein fester Brückenkopf der Kirche in einer Gesellschaft, die sich Jahr um Jahr mehr von ihren christlichen Traditionen und Werten löst. Jeden Tag haben über eine Million Menschen Kontakt mit der Diakonie - häufig in einer persönlichen Betroffenheit. Spüren sie etwas von der Leidenschaft einer diakonischen Kirche?