Vor 75 Jahren gründeten 120 Männer aus 28 Landeskirchen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die Kirchenkonferenz tagte vom 27. bis 31. August 1945 im nordhessischen Treysa - nur drei Monate nach Kriegsende. Im Sonntagsblatt-Interview erläutert der Münchner Kirchenhistoriker Harry Oelke die Schwierigkeiten des Neuanfangs.

Herr Professor Oelke, gab es eine "Stunde Null" für die evangelische Kirche nach der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg?

Oelke: "Stunde Null" halte ich für keinen angemessenen Begriff. Als Historiker achtet man immer auch auf Kontinuitäten, man kann bei keinem Umbruch eine Stunde Null identifizieren. Aber das Jahr 1945 markierte schon so etwas wie einen Neustart für den Protestantismus. Es ist der Versuch, den Reset-Knopf zu drücken. Gleichwohl ist dieser Neuanfang bestimmt von Belastungen aus der NS-Zeit. Die Anhaftungen an der Vergangenheit waren noch stark.

Welche sind das?

Oelke: Die evangelische Kirche ist im NS-Staat der kritischen Wächterfunktion für das öffentliche Leben nicht nachgekommen. Gott in bestimmten Dingen mehr zu gehorchen als den Menschen, ist ja auch ein Aufruf zu kritischer Wachsamkeit. Der Protestantismus hat sich stattdessen stärker der Obrigkeit untergeordnet. Man hat Martin Luthers "Zwei-Reiche-Lehre" zu einseitig im Blick auf die Trennungsimpulse zwischen geistlichem und weltlichem Reich, also zwischen Kirche und Staat, interpretiert und damit eine Kontrollfunktion gegenüber dem Nationalsozialismus gar nicht erst aufgebaut. Das hing der Kirche noch lange nach, denn damit verknüpfte sich die Schuldfrage. Sie hat den Nationalsozialismus im Blick auf die Staatsverbrechen, die dann spätestens ab 1939 insbesondere durch die Ermordung der europäischen Juden erschreckende Ausmaße annahmen, nicht kritisch beobachtet und nicht eingegriffen, etwa durch Verlautbarungen. Sie hat sich nur auf das Überleben der Kirche konzentriert. Das war zwar nicht unwichtig, aber anderes blieb ausgeblendet. Hinzu kommt, dass die kirchliche Opposition gegen die NS-Kirchenpolitik, die "Bekennende Kirche", zerstritten war und uneinheitlich auftrat.

Wie hat sich das auf die Gründung der EKD ausgewirkt?

Oelke: Die versäumte Wächterfunktion hat sich sofort in Treysa bemerkbar gemacht. Dort wurde eine Verlautbarung mit dem Titel "Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben" aus der Feder des Historikers Gerhard Ritter vorgelegt. Das Thema kam nicht von ungefähr. Die Kirche griff genau dasjenige Defizit auf, das sie spürte und von dem sie wusste: Zwölf Jahre haben wir diese Funktion nicht wahrgenommen. Indirekt war das eine Anerkenntnis eines historischen Versagens. Die Verlautbarung bedient sich zum Teil noch rückwärtsgewandter Denkformen. Das Vorwärtsgewandte ist aber, dass man fortan im Grundsatz öffentliche Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen will.

In welchem Punkt war die Gründung wirklich ein Neuanfang?

Oelke: Man erkannte die Notwendigkeit einer Reflexion über das Verhältnis von Religion, Kirche und Politik. Die wird jetzt zumindest eingefordert. Das hatte man vorher in der NS-Zeit nicht gemacht, damals wurde höchstens andeutungsweise hinter verschlossenen Türen darüber gesprochen. Aber jetzt will sich die Kirche explizit um dieses Thema kümmern. Das war zunächst eine Absichtserklärung, aber daraus konnte sich dann in den 1970er Jahren die protestantische Sozialethik entwickeln. Auch wurden jetzt erstmals Laien neben Theologen in ein kirchliches Beratungsgremium gewählt. Bis 1945 waren die Theologen dabei unter sich geblieben. Und noch ein Punkt: Es wurde in Treysa eine wahrhaftige Presse gefordert. Hier wurde die Bedeutung der Presse erkannt für eine Kirche, die in einem demokratischen Staat leben und ihn fördern will. Das bewusste Generieren einer Öffentlichkeit über die Kirchenmauern hinaus war weitsichtig und verglichen mit der Publizistik vor 1945 etwas Neues für den Protestantismus.