Vor 29 Jahren hat Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Seitdem wird diskutiert, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich das Vorhaben erstmalig in den Koalitionsvertrag geschrieben und eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt.

Nun ist es fast soweit: Am Mittwoch billigte das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). Doch daran gibt es massive Kritik - unter anderem von Kinderrechtsorganisationen.

Luise Pfütze leitet die politische Arbeit von SOS-Kinderdorf (Sitz: München) auf Bundesebene und ist Vorstandsmitglied der "National Coalition" in Berlin, die für die Umsetzung der UN-Konvention in Deutschland eintritt. Im Gespräch mit dem Sonntagsblatt erläutert Pfütze ihre Bedenken.

Frau Pfütze, seit Jahren kämpfen Kinderrechtsorganisationen wie SOS-Kinderdorf dafür, dass Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Nun ist es soweit - was macht Sie unzufrieden mit dem Kabinettsentwurf?

Luise Pfütze: Dass die vorgesehene Regelung so extrem hinter den Erwartungen zurückbleibt, hätten wir nicht gedacht. Wir hätten uns gewünscht, dass die Formulierung die Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention widerspiegelt. Doch der Entwurf fällt weit dahinter zurück. Die Kinderrechte werden dadurch nicht gestärkt, sondern möglicherweise sogar geschwächt.

Der Entwurf zielt auf eine Ergänzung von Artikel 6 Absatz 2 Grundgesetz. Künftig soll dort zusätzlich stehen: "Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt." Was stört Sie?

Pfütze: Erstens ist es viel zu wenig, dass das Kindeswohl nur "angemessen" berücksichtigt werden soll. Das ist eine Leerformel. Bei einer Güterabwägung müssen die Grundrechte immer angemessen berücksichtigt werden. Wir fordern stattdessen, dass das Kindeswohl "vorrangig" zu berücksichtigen sei. So könnte die Machtasymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern ein Stück weit ausgeglichen werden.

Würde dieser Vorrang bedeuten, dass sich bei jeder Abwägungsentscheidung die Interessen von Kindern durchsetzen?

Pfütze: Nein, nicht zwangsläufig, das ist genau das Missverständnis. Vorrangig heißt in diesem Sinn lediglich, dass man die Kindesinteressen genau anschauen und es besonders gut begründen muss, wenn man dagegen handelt - aber es gewinnen nicht automatisch immer die Interessen des Kindes. Der Kindeswohlvorrang in Artikel 3 ist eins der Kernelemente der UN-Kinderrechtskonvention. Das Wort "angemessen" entspricht dieser nicht, und im übrigen auch nicht der EU-Grundrechte-Charta, in der der Kindeswohlvorrang in Artikel 24 verankert ist.

Sie kritisieren außerdem, dass der Entwurf das Recht von Kindern auf Beteiligung nicht aufnimmt ...

Pfütze: Genau. Die Formulierung mit dem "rechtlichen Gehör" bleibt weit hinter Artikel 12 der UN-Konvention zurück. Dort heißt es: Kinder haben das Recht, dass ihre Meinung in allen sie berührenden Angelegenheiten berücksichtigt wird. Das wird im Kabinettsentwurf enggeführt allein auf das "rechtliche Gehör", was bestenfalls nur den Status quo betoniert: Laut Grundgesetz, Artikel 103, hat "jedermann" Anspruch auf rechtliches Gehör - das gilt natürlich auch für Kinder. Aber wir brauchen deren Beteiligung nicht nur in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, sondern in allen Angelegenheiten, die sie betreffen.

Zum Beispiel bei der Klimapolitik, weil es ihre Zukunft ist?

Pfütze: Ja, zum Beispiel bei der Umweltpolitik, aber auch bei den Einschränkungen in der Corona-Pandemie: Wie werden da die Interessen von Kindern berücksichtigt? Wie werden sie da gehört? Anfangs kamen Kinder als eigenständige Rechtssubjekte in der Debatte gar nicht vor, und dann ging es vor allem um die Vereinbarkeitsfrage für Familien. Erst sehr langsam wächst die Erkenntnis, dass es auch ureigene Interessen von Kindern gibt und Kinderrechte in diesem Zusammenhang eingeschränkt und verletzt wurden.

Wie erklären Sie sich, dass der jetzige Kabinettsentwurf so schwach ist?

Pfütze: Das liegt wohl mit an einer starken paternalistischen Haltung in Teilen der Gesellschaft und Politik. Kinder will man nicht als Experten für ihr Lebensumfeld und ihre Bedürfnisse anerkennen. Es mangelt an Vertrauen, gerade auch in die Jugendlichen, dass sie schon gut wissen, was sie wollen und brauchen. Es herrscht zu oft noch die Einstellung: Am Ende wissen doch die Erwachsenen, was gut und richtig für Kinder ist. Außerdem spielt sicher auch Angst vor Machtverlust eine Rolle. Das alles gilt es aufzubrechen. Man muss sehen, dass junge Menschen durchaus von ihren persönlichen Interessen abstrahieren und das Ganze sehen können.

Ein Beispiel?

Pfütze: Bei dem Corona-Chaos um die Frage von Schulschließungen und Wiederöffnung haben etwa in Bremen zwei Schülersprecherinnen ein super Konzept für den Halbgruppen-Unterricht entworfen und präsentiert. Das macht deutlich, wie arrogant Politik und Wirtschaft sich oft benehmen, wenn sie den Schülern nichts zutrauen. Dabei kennen diese sich in ihrem Lebensumfeld besser aus als sonst jemand.

Warum gehören Kinderrechte ins Grundgesetz? Es gibt doch schon das Jugendschutzgesetz, das Kinder- und Jugendhilfegesetz, festgeschriebene Rechte von Kindern im Bürgerlichen Gesetzbuch ...

Pfütze: Das Grundgesetz ist das juristische Fundament unserer Gesellschaft. Hier dürfen explizite Kinderrechte nicht fehlen. Das Grundgesetz ist ja auch ein Bezugspunkt für einfache Gesetze, in denen Kinderrechte konkretisiert werden. Diese sind dann auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin zu prüfen. Deutschland ist vom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes zudem schon mehrfach aufgefordert worden, Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. Vor allem aber ist die Aufnahme auch ein Signal an die Gesellschaft und die Kinder selbst: Ihr seid keine kleinen Erwachsenen, ihr habt eigene Rechte, wir nehmen eure Bedürfnisse ernst.

1992 hat Deutschland die UN-Konvention ratifiziert. Warum hat der politische Prozess seitdem so lange gedauert? Die gegenwärtige Bundesregierung ist die erste, die sich die Grundgesetzänderung in den Koalitionsvertrag geschrieben hat.

Pfütze: Das liegt zum einen ebenfalls an dieser tiefsitzenden paternalistischen Grundhaltung und einem gewissen Unwillen, Kinder als eigenständige Subjekte wahrzunehmen. Zum zweiten gibt es das Missverständnis, dass eine Stärkung der Kinderrechte automatisch die Elternrechte schwächen würde. Dabei geht es nicht um eine Konfrontation, sondern darum, dass eine Respektierung der Elternrechte - gemäß Artikel 5 der UN-Konvention - ebenfalls ein Kinderrecht ist. Die Lebenssituation von Kindern zu verbessern heißt, auch die von Familien zu verbessern.

Oft scheint es auch an Wissen oder Anerkennung zu mangeln, was Kinderrechte sind, oder?

Pfütze: Ja, das ist der dritte Grund. Kinderrechte sind Menschenrechte! Sie sind kein niedliches Wohlfühlthema am Rande. Und sie erschöpfen sich auch nicht darin, etwa in der Kita mitentscheiden zu dürfen, was man essen will, auch wenn das nicht unwichtig ist. Darum würde ich mir einen stärkeren gesellschaftlichen Aufschrei wünschen, wenn Kinderrechte eingeschränkt und verletzt werden. Das vermisse ich selbst aus progressiveren Teilen der Gesellschaft. Eine gewisse Empörung - wie sie ja zum Beispiel auch bei Einschränkungen von Frauenrechten zu beobachten ist.

Um die Frauenrechte war und ist es ein langer Kampf. Und Kinder haben keine starke Lobby. Bei Corona wurden sie nicht gehört, weil diese Institutionalisierung fehlt.

Pfütze: Genau, das muss sich erst entwickeln. Und für die Frauenrechte musste im Grundgesetz zum Gleichheits-Artikel 3 Absatz 2 auch erst noch Satz 2 hinzugefügt werden, um auf die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung hinzuwirken, die ja auch immer noch nicht vollständig erreicht ist. Kinderrechte in der Verfassung haben das Potenzial, ein gutes Fundament für kinderfreundliche Politik und Rechtspraxis zu sein.

Hat das Thema Kinderrechte nicht durch "Fridays for Future" ganz neue Aufmerksamkeit bekommen?

Pfütze: Einerseits schon, weil die Bewegung eindrucksvoll deutlich macht, wie sich junge Menschen für ihre Umwelt und ihre Zukunft engagieren. Anderseits hat sich meines Erachtens die Verknüpfung des Themas Klimawandel mit Kinderrechten noch nicht genügend in die allgemeine Wahrnehmung eingebrannt - obwohl es ja klare Zusammenhänge gibt, etwa beim Recht von Kindern auf Leben und Gesundheit.

Was kann sich spürbar ändern, wenn die Kinderrechte im Grundgesetz stehen?

Pfütze: Es wird sich auf das Verwaltungshandeln auswirken, ebenso wie auf die Rechtsprechung und auf die Rechtspraxis. Immer noch gibt es viele Richterinnen und Richter, die sich mit Kinderrechten in ihrer juristischen Ausbildung nie beschäftigt haben - aber an Verfassungsrecht kommt keiner vorbei. Außerdem eröffnet es die Möglichkeit einer Verfassungsklage.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass das parlamentarische Verfahren noch Nachbesserungen bringt?

Pfütze: Ich bin nicht sonderlich optimistisch. Für die Grundgesetzänderung braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das heißt, selbst wenn die SPD sich noch bewegt, dann würde das mit den diesbezüglich progressiveren Oppositionsparteien Linke und Grüne immer noch nicht reichen. Die Frage ist, wie sich der Entwurf substanziell verbessern lässt und trotzdem die notwendigen Mehrheiten erreicht. So jedenfalls ist er nur ein Feigenblatt. Wenn er beschlossen wird, ist das womöglich die schlechteste Lösung, weil man das Fass Grundgesetzänderung dann sicherlich nicht so bald wieder aufmacht.