Draußen am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs zeigt die Anzeigentafel den nächsten Zug an: M 79023 über Rosenheim nach Salzburg um 13.55 Uhr. Es ist ein wolkenverhangener Mittwochnachmittag. Am Gleis 11 wird es noch zehn Minuten dauern, bis die Teestube in der Bahnhofsmission ihre Pforten öffnet. Manche wollen nicht mehr so lange warten. Eine Frau mit dunklen Haaren regt sich auf: Sie könne nicht mehr stehen, schimpft sie, und sie wolle was zu essen. Dann ist es soweit.

Nach und nach füllt sich der schlichte Raum, auf der Theke eine große Kanne mit Tee, Plastikbecher und Schmalzbrote. »Manchmal habe ich das Gefühl«, sagt Sozialarbeiterin Gerrit Kaut, »dass einige nur von unseren Broten leben.« 100 Laibe werden hier pro Woche verteilt.

»Nach uns kommt nur noch die Straße.«

Fast 190 Jahre gibt es die Eisenbahn in Deutschland und seit 120 Jahren die Bahnhofsmission, ursprünglich als Zuflucht für junge Frauen gedacht, die in die Großstadt kamen. Im Laufe der Geschichte hat sich vieles verändert. Geblieben ist die Aufgabe, zu helfen. »Wir sind die letzte Station«, sagt dazu Bettina Spahn, »nach uns kommt nur noch die Straße.«

Die gelernte Krankenschwester ist die katholische Leiterin der Bahnhofsmission in München, Simone Slezak ihr evangelisches Pendant. Laut Jahresbericht kamen 2015 rund 106.000 Menschen in die Bahnhofsmission, knapp ein Viertel davon waren Frauen.

Inzwischen ist es fast 15 Uhr geworden und die Teeküche hat sich gefüllt. Ausschließlich Männer sitzen jetzt an den Tischen, man hört viele osteuropäische Sprachen. Nachts sieht es hier völlig anders aus. Dann wird die Mission zu einem Schutzraum für Frauen, die auf Silikonmatten am Boden übernachten. 1.422 Mal wurde 2015 diese Möglichkeit der Notübernachtung in Anspruch genommen.

»Wir erleben hier Dinge, von denen man denkt, das dürfte es in München nicht geben.«

Leiterin Slezak sagt: »Wir sind hier wie ein Seismograf der Gesellschaft.« In der Bahnhofsmission werden Tendenzen sichtbar, ehe sie zum öffentlichen Problem werden. Asylsuchende etwa kamen schon vor dem Herbst 2015. Spahn sagt: »Wir erleben hier Dinge, von denen man denkt, das dürfte es in München nicht geben.« Sie meint Menschen, die keine ausreichende medizinische Versorgung haben. Menschen, die durch das Auffangraster des Sozialstaats fallen. Menschen, die sich die hohen Mieten in München nicht mehr leisten können und plötzlich obdachlos sind.

Im Raum zwei der Bahnhofsmission werden die Brote vorbereitet. Mitarbeiterin Jessica Wolf bestreicht Scheibe für Scheibe mit Schmalz. Um die Ecke im Flur sitzt der Mann von der »Sicherheit« auf einem schwarzen Schemel. Ihn gibt es, seit es im August 2015 zu drei sehr aggressiven und bedrohlichen Vorfällen gegenüber Mitarbeitern gekommen war. Zwar wurde niemand verletzt, aber der Schock saß tief.

»Zu uns kommen Menschen, die entweder ganz am Anfang des Abstiegs stehen oder schon ganz am Ende«

»Wir sehen die aufkommenden Aggressionen vorwiegend in den immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen für unsere Klienten begründet«, heißt es im Jahresbericht. Selbst der Toilettengang sei am Hauptbahnhof nicht mehr kostenlos möglich. Der Münchner Stadtrat hat jetzt die Finanzierung der Wachleute bis Ende 2017 übernommen.

»Zu uns kommen Menschen, die entweder ganz am Anfang des Abstiegs stehen oder schon ganz am Ende«, weiß Bettina Spahn. Sie versteht die Bahnhofsmission als »Clearing-Stelle«. Nach einer ersten Beratung werden die Hilfesuchenden an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. Und es gibt immer noch die »klassischen« Fälle der Bahnhofsmission: Man hilft gebrechlichen Personen beim Umsteigen von einem Zug in den anderen; alleinreisende Kinder werden in Zügen nach Köln oder Berlin von ehrenamtlichen Mitarbeitern begleitet. Davon gibt es rund 150, die den Missions-Betrieb rund um die Uhr aufrechterhalten, hinzu kommen zwölf Mitarbeiter. Finanziell getragen wird die Bahnhofsmission durch die Landeshauptstadt, die Kirchen und durch Spenden.

Inzwischen ist es 16 Uhr geworden, die Teestube macht jetzt wieder Pause. Es wird geputzt. Jemand ruft an, will 150 belegte Brötchen spenden. »Klar, nehmen wir«, sagt Sozialarbeiterin Kaut. Dann stellt sich heraus, dass die Spende in Aschheim außerhalb Münchens abgeholt werden muss. »Nee, das geht nicht«, meint sie bedauernd. Um 18 Uhr wird die Teestube wieder aufmachen. Dann wird sie sich wieder füllen, mit Menschen, die hier bei einer Tasse Tee und einem Schmalzbrot Zuflucht finden. Draußen ist der Zug nach Salzburg längst abgefahren, so wie für manche der Zug ihres Lebens.