Menschenmengen sind die Dortmunder gewohnt – die Stadt im Ruhrgebiet zieht regelmäßig Tausende Fußballfans des Bundesliga-Spitzenklubs Borussia Dortmund an. Mit dem Bundesliga-Meistertitel wurde es in diesem Jahr nichts, doch Feiern im Freien mit geschätzt 100.000 Gästen ist dennoch möglich: Der Evangelische Kirchentag 2019 ist vom 19. bis 23. Juni zu Gast in der Ruhrmetropole.

Kirchentag – das bedeutet: spontanes Singen in der U-Bahn, Posaunenchöre, die Straßenmusik machen, und Beten unter freiem Himmel. Selten sind Gläubige in der Gesellschaft so sichtbar wie beim Kirchentag. Das Treffen der evangelischen Laien bedeutet aber auch politischen Diskurs. "Es wird ein großes Glaubensfest und gleichzeitig ein sehr politischer Kirchentag", sagt Kirchentagspräsident Hans Leyendecker. Und so haben die Veranstalter mit der Kirchentagslosung "Was für ein Vertrauen" einen Nerv getroffen in Zeiten, in denen Vertrauen zu einer wichtigen politischen Ressource geworden und immer wieder von Vertrauenskrisen die Rede ist. Zur "Echten Liebe", die die Borussia mit ihrem Motto verspricht, gesellt sich "Echtes Vertrauen".

Ausschluss für AfD-Funktionäre

Mit der Entscheidung, AfD-Politiker nicht zu Kirchentagspodien einzuladen, haben die Veranstalter allerdings auch eine Debatte ausgelöst. Beim zurückliegenden Kirchentag 2017 in Berlin hatte die AfD noch mitdiskutieren dürfen. Der Ausschluss gelte nur Partei-Funktionären und nicht den Bürgern, die mit der AfD sympathisieren, betonte das Präsidium. Präsident Leyendecker selbst verteidigte die Entscheidung immer wieder mit den Worten, dass sich die Partei seit 2017 weiter radikalisiert habe.

Beim Katholikentag im westfälischen Münster im Mai 2018 gab es noch ein Podium mit den religionspolitischen Vertretern der Bundestagsparteien, darunter dem kirchenpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Münz. Jetzt aber heißt es: Vertreter der AfD sind "nicht zur Mitwirkung auf Podien und zu Diskussionsveranstaltungen des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Dortmund eingeladen". Laut dem offiziellen Beschluss vom Herbst 2018 werde niemand "wegen seines Parteibuchs ein- oder ausgeladen". In der AfD gebe es jedoch mittlerweile einen fließenden Übergang zum Rechtsextremismus und Verbindungen zu verfassungsfeindlichen Netzwerken, so das Kirchentagspräsidium.

»Was für ein Vertrauen«: das Motto des Kirchentags.
»Was für ein Vertrauen«: das Motto des Kirchentags.

Diese Entscheidung ist umstritten. Als "verpasste Chance" sieht der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge, die Entscheidung des Kirchentags an. "Ich muss immer den Einzelnen anschauen", sagte Dröge dem epd. Ein prinzipieller Ausschluss nütze nur der AfD, "weil sie sich dann wieder als Opfer darstellen kann". Für Volker Münz bleibt die Haltung des Kirchentagspräsidiums "scheinheilig". Auf der einen Seite bezeichne sich der Kirchentag als Ort der Vielfalt und Toleranz, wo verschiedene Meinungen aufeinandertreffen sollen. Auf der anderen Seite sei es "unverständlich, dass die AfD als größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag im Unterschied zu den anderen Fraktionen zu keinem Podium eingeladen wird", sagte Münz dem epd. Münz ist Kirchengemeinderat und Bezirkssynodaler in der evangelischen Kirche.

Der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig bezeichnete den Ausschluss der AfD von den Podien des Evangelischen Kirchentags als widersprüchlich. Einerseits heiße es in dem Beschluss des Kirchentagspräsidiums, niemand werde wegen seines Parteibuchs ein- oder ausgeladen. "Zugleich aber sollen alle Vertreter der AfD qua Parteizugehörigkeit disqualifiziert sein, am Kirchentagsprogramm mitzuwirken", schrieb Heinig in einem im Oktober 2018 veröffentlichten Beitrag für die evangelische Zeitschrift zeitzeichen. Also sei doch die Parteizugehörigkeit entscheidend.

Barcamp mit dem Titel "Das soll doch mal gesagt werden dürfen".

In einer Replik auf Heinigs Meinungsbeitrag vertrat die Generalsekretärin des Kirchentags, Julia Helmke, die Gegenposition. Die Situation habe sich seit dem Kirchentag 2017, als AfD-Vertreter noch eingeladen waren, verändert. "Die Mechanismen und Strategien des rechten Populismus beginnen zu wirken", schrieb Helmke in zeitzeichen.

Um im Gespräch zu bleiben mit allen, die aus Protest gegen die Regierung unter Angela Merkel mit der AfD liebäugeln, gibt es ein Barcamp mit dem Titel "Das soll doch mal gesagt werden dürfen". Der Name soll Programm sein. Auch die Themen "neuer Konservatismus" und "Angst" stehen auf der Agenda.

Unter den Rednern und Podien-Gästen sind viele Politiker aus der ersten Reihe: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nebst seinen drei Amtsvorgängern Joachim Gauck, Christian Wulff und Horst Köhler werden erwartet.

Talks rund um Gott, Glaube und Gesellschaft

Uschi Glas kommt. Der Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege. Und die Fußballreporter-Legende Manfred "Manni" Breuckmann. 30 prominente Gäste werden auf dem "Roten Sofa" der evangelischen Wochenzeitungen Platz nehmen. Auf der Bühne an der Westfalenhalle stellen sich Bundesminister und Bischöfinnen, Politikerinnen und Musiker den Fragen der Redakteurinnen und Redakteure der evangelischen Zeitungen, Radio- und Fernsehagenturen.

Wie sieht eigentlich der Arbeitsalltag einer Bundesfamilienministerin aus? Wie geht der Bundesvorsitzende der Grünen mit Kritik um? Was meint der frühere Top-Manager Thomas Middelhoff, wenn er heute sagt: Ich war damals ein Sünder? Als das sind Fragen, auf deren Antworten man gespannt sein darf.

"Das Rote Sofa ist ein Markenzeichen des Deutschen Evangelischen Kirchentags", erklärt Roland Gertz, Vorsitzender des Evangelischen Medienverbands in Deutschland (EMVD), des Dachverbands der evangelischen Medienhäuser, der das Rote Sofa organisiert. "Der besondere Reiz dieses Talks liegt in der Mischung aus harten Fakten und menschlichen Zwischentönen", so Gertz. "Wer Prominenz und interessante Menschen hautnah erleben will, ist beim Roten Sofa genau richtig."

Das Interviewprogramm "Rotes Sofa" läuft beim Kirchentag von Donnerstag bis Samstag 11-19 Uhr, Samstag bis 17 Uhr.

Standort: Bühne an der Westfalenhalle (auf dem Messegelände, 50 Meter rechts vom Haupteingang; Kirchentags-Stadtplan Nr. 634).

Ein Auszug aus dem Programm:

Freitag 21. Juni

13.15-13.45 Uhr: Uschi Glas, Schauspielerin.
Interview: Katharina Hagen, Ev. Kirchenfunk Niedersachsen-Bremen, Hannover.

13.45-14.15 Uhr: Franziska Giffey (SPD), Bundesfamilienministerin. Interview: Roland Gertz, Direktor EPV und Vorsitzender EMVD, München.

14.15-14.45 Uhr: Anselm Grün, Benediktinerpater und Nikolaus Schneider, Präses i. R. Interview: Andrea Seeger, Ev. Sonntags-Zeitung, Frankfurt.

15.00-15.30 Uhr Cerstin Gammelin, stellv. Leiterin der Parlamentsredaktion der SZ in Berlin. Interview: Roland Gertz, Direktor des EPV.

16.00-16.30 Uhr: Heinrich Bedford-Strohm, bayerischer Landesbischof. Interview: Jörg Bollmann, Direktor GEP, Frankfurt.

16.45-17.15 Uhr: Margot Käßmann, Autorin. Interview: Willi Wild, Glaube und Heimat, Weimar.

18.00-18.30 Uhr: Robert Habeck, Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen. Interview: Claudia Dinges, Ev. Funk-Agentur, München.

Samstag, 22. Juni

11.00-11.30 Uhr: Volker Jung, Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Interview: Claudia Dinges, Ev. Funk-Agentur, München.

11.45-12.15 Uhr: Jana Highholder, christliche YouTuberin, Medizinstudentin. Interview: Gerd-Matthias Hoeffchen, Unsere Kirche, Bielefeld.

Dortmund sei genau der richtige Ort für die politische Kontroverse über gesellschaftlich relevanten Themen, sagt Leyendecker, der im Rheinland verwurzelt ist. Hier spiegele sich die "bunte Vielfalt" der Gesellschaft. Kohle und Stahl haben Dortmund fast ein Jahrhundert lang als Stadt geprägt. Nach dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie scheinen die Dortmunder den wirtschaftlichen Strukturwandel geschafft zu haben.

Gastgeberin des Kirchentags, die Evangelische Kirche von Westfalen, ist mit rund 2,2 Millionen Mitgliedern die viertgrößte der 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Sie erstreckt sich zwischen Minden und Bocholt, Tecklenburg und Siegen und ist gegliedert in 27 Kirchenkreise mit 490 Gemeinden. Zur westfälischen Kirche gehört auch ein Großteil des Ruhrgebiets. Die westfälische Kirche ist eine der unierten Kirchen innerhalb der EKD. Das bedeutet, dass in ihr die Reformationsbewegungen um Martin Luther (evangelisch-lutherisch) sowie von Johannes Calvin (reformiert) vereinigt sind. Bis 1945 war die westfälische Kirche als Kirchenprovinz Westfalen Teil der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (APU). Nach einer Neuordnung der APU entstand die selbstständige Evangelische Kirche von Westfalen.

Kraftvolles Signal evangelischen Glaubens

Aufgebaut ist die westfälische Kirche nach der presbyterial-synodalen Ordnung, die eine demokratische Organisation von unten nach oben vorsieht. Laienbeteiligung und Selbstverwaltung gehören zu den wesentlichen Elementen. Oberstes Organ ist die Landessynode. Die oder der Präses hat den Vorsitz der auf acht Jahre gewählten Kirchenleitung, die im Auftrag der Landessynode die Kirche leitet. An der Spitze des Landeskirche steht die 56-jährige Theologin Annette Kurschus, die auch stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist. Sie gilt als begnadete Predigerin und steht für eine fromme und zugleich gesellschaftlich engagierte Kirche. Wenn sich die 56-Jährige öffentlich einmischt, ist die biblische Botschaft für sie stets die Richtschnur. Vom Kirchentag erhofft sich Kurschus ein kraftvolles Signal evangelischen Glaubens, wegweisende Impulse und "klare Kante gegen manche Ungeister unserer Zeit".

Damit sich die mehr als 100.000 erwarteten Besucher in der Stadt und bei den Veranstaltungen sicher fühlen können, werden Tausende Einsatzkräfte für Ordnung sorgen. Veranstaltungsorte werden zusätzlich mit Betonklötzen und Lkw-Sperren abgesichert. Innerhalb der Innenstadt gilt an allen Veranstaltungstagen tagsüber ein Lkw-Fahrverbot.

Am Ende des Dortmunder Kirchentags werden sich Fußball und Glaube noch einmal ganz nahe kommen. Einer der beiden zentralen Abschlussgottesdienste wird im Stadion stattfinden – diesmal geht es nicht um echte Liebe zur Borussia, sondern um echte Liebe zu Gott.