Nicht nur der bedeutendste Erzguss der deutschen Kunst, sondern auch das, was seit einem halben Jahrtausend von dem monumentalen Werk geschützt wird, bekommt Aufmerksamkeit: der Holzschrein mit den Gebeinen des Nürnberger Stadtpatrons. Diese werden am 20. Juli zum ersten Mal öffentlich visitiert. Ein Akt, der sich an einem vorreformatorischen Ritual orientiert, der durch die Jahrhunderte in unregelmäßigen Abständen stattfand.

Barbara Staudacher und Manuela Wiesent, Restauratorinnen für Gemälde und Skulpturen, haben in den vergangenen Wochen am Sebaldusgrab einen nicht alltäglichen Job erledigt:

Sie entfernten Schimmel im Sebaldusschrein, der zwei rechteckige und mit einem spitzen Dach gekrönte Holzladen beherbergt. Darin liegen die sterblichen Überreste des Nürnberger Stadtpatrons.

Sebalduspfarrer Martin Brons öffnet am 20. Juli qua Amt den Schrein und bricht die Siegel. Das sei eine aus Sicht der Denkmalpflege notwendige Aktion, sagt der Pfarrer. Andererseits aber auch ein "performativer Akt", der sich an einem vorreformatorischen Ritual orientiert und den Reichtum des Glaubens auch in der Gegenwart zeigen soll.

"Der Heilige Sebald wird ebenso in der katholischen Kirche verehrt und ist als Ortsheiliger auch Teil der Wandbemalung in der rumänisch-orthodoxen Metropolie in der Fürther Straße. Er bietet also in mehrere Richtungen Andockstellen für den Glauben und Gelegenheit, Ökumene zu feiern und zu erleben", sagt Brons. Deshalb werde das zuletzt 1993 exerzierte Ritual in diesem Jahr erstmals auch öffentlich durchgeführt. "Es ist einfach nicht mehr verständlich, die Graböffnung und Visitation der Gebeine hinter verschlossener Kirchentür mit einer Auswahl an geladenen Gästen durchzuführen", meint Brons.

Freilich ist sich Martin Brons bewusst, dass die feierliche Zurschaustellung von Reliquien Heiliger eigentlich eine Angelegenheit ist, die der Lehre Luthers widerspricht und auch als eine Art "Show" wahrgenommen werden könnte.

"Wir verehren aber nicht die Reliquien, sondern feiern das Ritual und unseren Stadtpatron. Und damit letztlich unsere Tradition selbst, als Nürnberger, als Christen."

Bei der Vorbereitung der Visitation, die Teil eines Gottesdienstes ist, bei dem das Geschehen auf Videoleinwänden in St. Sebald übertragen wird, überlässt man nur wenig dem Zufall. Erst vor wenigen Wochen hat Frank Heydecke, Restaurator am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, mit dem Endoskop das Innenleben der Laden inspiziert. Restauratorin Barbara Staudacher war drei Mal mit ihrem Spezialwerkzeug für die Restaurationsarbeiten vor Ort. 

Nichts geht ohne Mesner Erwin Roth-Grigori, der die jahrhundertealten Schlüssel aus dem Safe holt und die schwere Eisenstange, die den Schrein vor Diebstahl schützt, löst. Man muss schon zu zweit sein und braucht eine Leiter, um das gusseiserne Meisterwerk sicher abzunehmen.

Über viele Jahre ruhte der Schrein mit den Gebeinen leidlich gesichert auf dem Hauptaltar der Kirche St. Sebald. Das Jahr 1461 verzeichnet einen Einbruch in das Gotteshaus. Um zu kontrollieren, ob Teile der Reliquien entwendet wurden, fand 1463 eine erste Überprüfung des Bestandes der Reliquien statt, die Urform der "Visitation".

Über die Jahrhunderte hinweg waren sich die Nürnberger immer darin einig, dass man mit dem Heiligen Sebaldus einen besonderen Schatz in den eigenen Reihen habe.

Was vielleicht auch erklärt, dass die Reliquien nach dem Einzug der Reformation 1525 im Gegensatz zu einigen typisch katholischen Symbolen in der Sebalduskirche nicht angetastet wurden.

Nachdem es 1506 wieder zu einem Einbruch gekommen war, schufen die Stadtväter Fakten und beauftragten die Werkstatt Peter Vischers, ein Grabmal für den Schrein zu errichten, das in erster Linie ein Safe für die Gebeine ist. Das fast fünf Meter hohe Werk begeistert heute noch Touristen wie Experten. "Der Schrein steht inmitten der zwölf Apostel. Sebaldus wird in diesen Kreis aufgenommen und als Glaubenslicht dargestellt", beschreibt Brons nur eine der Deutungen. 

Das von acht Pfeilern getragene Baldachingehäuse mit den Turmaufsätzen, die das himmlische Jerusalem darstellen, den vielen kleinen Putten, Tiergesichtern oder Nachbildungen antiker Heroen und Tugenden bieten Stoff für Interpretationen aller Art oder lassen sich einfach ästhetisch wahrnehmen. Am Fuße fallen die Schnecken als Symbole für die Auferstehung auf, Delfine weisen auf Christus hin, das Jesuskind thront über allem.

St. Sebald Evangelische Kirche Nürnberg außen

Wer war der Heilige Sebaldus?

Sebaldus soll der Überlieferung nach ein Einsiedler gewesen sein, der um die erste Jahrtausendwende im noch dünn besiedelten, ruralen Nürnberg in einer Hütte im Schatten der Burg im einstigen Reichswald hauste. Legenden nennen ihn einen dänischen Königssohn, der sich nach dem Lösen einer Verlobung mit einer französischen Prinzessin nach Nürnberg flüchtete, um in der Wildnis zu leben. Hier gründete er eine Peterskapelle.

"Sebaldus war eine Art Ombudsmann, der die Glaubens- und Lebensfragen der Bürger Nürnbergs bedient hat", erklärt Martin Brons, Pfarrer der Sebalduskirche.  Zu Lebzeiten seien ihm Wunder zugesprochen worden. Er galt auch als "gute Seele" der wachsenden Ansiedlungen um die Burganlage. Nach seinem Tod wurde er in seiner Peterskapelle begraben.

An seinem Grab sollen Blinde sehend und Kranke gesund werden, vor Pilgerfahrten holten sich Reisende an seiner Ruhestätte einen Segen.

Als die Mitte des 13. Jahrhunderts errichtete, nach Sebaldus benannte Kirche in Nürnberg fertig war, hob man seine Gebeine und trug der gesteigerten Verehrung des mittlerweile zum Stadtpatron avancierten Sebaldus Rechnung. Ob es wirklich die Überreste des in den 1070er-Jahren erstmals urkundlich als verehrt belegten Sebald sind, die in dem Schrein liegen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.

In dem Schrein mit den Gebeinen des Heiligen aus dem Jahr 1397 mit in Silber gestanzten rautenförmigen Wappenfeldern befinden sich zwei schuhkartongroße Holzladen, jeweils mit Schloss und zusätzlich durch gesiegelte Kordeln gesichert. In einer von ihnen sind die Schädeldecke und längere Knochenstücke aufbewahrt, die dem 1425 heiliggesprochenen Sebaldus gehören sollen. In der weiteren Lade befinden sich weitere Knochenpartikel in purpurfarbenen Seidensäckchen.

Es sollen auch Reliquienteile an Kaiser Karl IV übergeben worden sein, die heute noch in Prag verwahrt sein müssten. "Wenn der Kaiser die Reichsstadt Nürnberg besucht hat, wurde die Schädelreliquie an das Stadttor getragen, damit sich der Herrscher dessen Gunst erweist", hat Martin Brons in alten Aufzeichnungen gelesen.