Der Historiker und Theologe Björn Mensing befürwortet, dass möglichst viele Menschen eine KZ-Gedenkstätte besuchen. «Allerdings setzt das voraus, dass in den Gedenkstätten ausreichend pädagogisch und historisch geschultes Personal zur Verfügung steht», sagte der Pfarrer der evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau am Montag dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Ein Besuch ohne qualifizierte Führung sei vor allem mit Blick auf Jugendliche, die nicht aus eigener Motivation die Gedenkstätte besuchen, wenig ertragreich. Mensing, der seit 2005 Gruppen durch die KZ-Gedenkstätte führt, warnte zugleich vor einer Instrumentalisierung solcher Besuche als Gegenmittel für antisemitische Einstellungen von deutschen Jugendlichen oder von Flüchtlingen, vor allem aus muslimischen Kulturkreisen.

Sawsan Chebli (SPD) spricht sich für Pflichtbesuche aus

Hintergrund sind Äußerungen der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD) vom Wochenende. Sie sprach sich für Pflichtbesuche in ehemaligen Konzentrationslagern aus. »Ich fände es sinnvoll, wenn jeder, der in diesem Land lebt, verpflichtet würde, mindestens einmal in seinem Leben eine KZ-Gedenkstätte besucht zu haben«, sagte sie der »Bild am Sonntag«. Das gelte auch für Zuwanderer. Gedenkstättenbesuche sollten zum Bestandteil von Integrationskursen werden, sagte Chebli, die Tochter palästinensischer Flüchtlinge ist.

Diakon Klaus Schultz mit einer von ihm geführten Gruppe im Kirchenraum der evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau.
Diakon Klaus Schultz mit einer von ihm geführten Gruppe im Kirchenraum der evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Die Erfahrungen mit den nationalen Mahn- und Gedenkstätten in der früheren DDR hätten gezeigt, dass diese extrem ideologisch instrumentalisierten Besuche eher kontraproduktiv gewesen seien, fügte Mensing hinzu. Der realexistierende Sozialismus sei damals als Fortsetzung des kommunistischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus vermittelt worden. Viele, die in der Kindheit und Jugend »solche Zwangsbesuche machen mussten, wollten niemals wieder eine solche Stätte betreten«. Vielleicht sei daraus auch ein Resonanzboden für rechtsextremistische Strömungen vor allem in Ostdeutschland entstanden.

Eine Instrumentalisierung werde weder dem pädagogischen Ziel gerecht, Antisemitismus abzubauen, noch der Würde der Gedenkorte und der Opfer, an die dort erinnert werden soll, fügte Mensing hinzu, der auch Kirchenrat und Beauftragter der bayerischen Landeskirche für Gedenkstättenarbeit ist.

In der Pädagogik ist eine Verpflichtung zum Besuch umstritten

Verpflichtende Besuche in KZ-Gedenkstätten für Schüler gebe es nur in wenigen Bundesländern, sagte der promovierte Historiker. In Bayern müssen alle Schülerinnen oder Schüler während ihrer Schulzeit eine der beiden Gedenkstätten in Dachau oder Flossenbürg besuchen. Auch in der Gedenkstättenpädagogik selbst sei eine Verpflichtung zu einem Besuch umstritten.

Versöhnungskirche Dachau außen Panorama

Allerdings biete der Besuch am historisch authentischen Ort eine große Chance. Die Erfahrungen aus dem »Tiefpunkt der Zivilisationsgeschichte sind ja die Grundlage für die Grundrechte, wie sie in unserem Grundgesetz formuliert sind«, sagte Mensing. Das gelte auch für das Grundrecht auf Asyl, das daraus resultiere, dass Menschen, die aus Nazi-Deutschland fliehen wollten, oft keine Aufnahme gefunden hätten.

Gerade Schüler mit türkischem Migrationshintergrund seien oft verblüfft, wenn sie erfahren, dass in Dachau türkische Staatsbürger inhaftiert waren sowie Menschen aus weiteren rund 30 Nationen. Neu sei vielen zudem, dass auch viele Muslime verfolgte Juden gerettet haben. Beispiel sei unter anderem das muslimisch geprägte Albanien, in dem 1945 als einzigem von Hitler-Deutschland besetzten Land mehr Juden lebten als vor dem Krieg. 71 Albaner seien von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt worden. Solche Fakten könnten antisemitische Ressentiments infrage stellen und Empathie auch für Holocaust-Opfer ermöglichen.