"Weißt du noch…?" So beginnt die Geschichte, die sich die beiden alten Damen erzählen. "Weißt du noch… die Nacht, als wir die Pferde aus dem Stall holten und sie vor den großen schweren Planwagen spannten." "Ja, der war schon seit Tagen beladen worden mit Hausrat, Federbetten und….." "…..Spielzeug?"  "Nein, Spielzeug ging nicht. Nur meine kleine Puppe, Sigridchen, die schon ganz abgeliebt war. "Ja, die wolltest Du nicht zurücklassen. Die musste mit." "Und dann sind wir aufgestiegen, Mutter und wir vier Kinder. Ich, die Älteste, unser kleiner Bruder noch im Kinderwagen." "Wir mussten übers zugefrorene Haff, das Eis knirschte unter den eisenbeschlagenen Rädern, erst stundenlang durch die Nacht, später tagelang durch die verschneite Landschaft..."  "Ich habe schreckliche Angst gehabt. Wir waren ja alt genug, um zu ahnen, wie gefährlich das alles ist, auch, wenn Mutter es sich nicht anmerken ließ." 

"Und erinnerst du dich noch: die toten Kinder am Straßenrand – ich werde das niemals vergessen…" "Aber wir hatten auch immer wieder Glück; Menschen, die uns aufgenommen haben: eine Mutter mit vier kleinen Kindern. Oft hatten sie selbst nicht viel – und trotzdem durften wir ausruhen, uns aufwärmen." "Es hat Wochen gedauert bis wir zu den Verwandten nach Hessen kamen. Und dann endlich wieder eigene Betten… wir haben darauf bestanden, dass wir uns zu zweit zusammenkuscheln durften in einem Bett, unter diesen riesigen Daunendecken, blaukariert bezogen waren die…. Zwei Jahre lang sind wir geblieben…"

Ich habe diese Geschichte von den beiden alten Damen schon oft gehört. Sie fasziniert mich immer wieder. "Weißt du noch...?" So beginnen Geschichten aus der Kindheit, Geschichten von "früher", aus der eigenen Vergangenheit.

Krippengeschichten um Weihnachten

Gerade in der Zeit um Weihnachten herum fallen sie uns ein, solche "Weißt-du-noch...?"-Geschichten. Ich zum Beispiel erinnere mich an einen schmalen, sandigen Weg. Er führte durch zierlich umzäunte Schafweiden und über eine wackelige Brücke, durchs feuchte Moos und einen felsengezackten Berg hinauf. Ich bin diesen Weg oft gegangen. Nicht mit meinen Füßen, sondern mit meinen Augen. Mit den Augen eines Kindes, das vor der Weihnachtskrippe steht. In Kinderaugenhöhe hatte meine Mutter diese Krippe aufgestellt für mich und meinen jüngeren Bruder. Wir beide hatten das Gefühl: Wir sind mitten drin im Weihnachtsgeschehen. Maria, Joseph und das neugeborene Jesuskind kamen in dieser Krippenlandschaft gleich zweimal vor. Das war das Besondere an dieser Krippe, die meine Mutter jedes Jahr baute. Unten links die vertraute weihnachtliche Szene: Eine schön geformte Wurzel bildete den Stall, die Zuflucht für Maria, Josef und das Kind. Davor versammelt Dorfleute, Hirten und Könige, um das Kind anzubeten.


Und rechts oben, am steilen Rand der Krippenlandschaft, führte Josef den Esel, der Maria mit ihrem Kind trägt, vorsichtig am Abgrund entlang. Sie haben sich aufgemacht über die Grenze nach Ägypten. Sie fliehen vor den Soldaten des Herodes. Ich spüre, wie gefährlich diese Flucht ist. Der steile, enge Weg, den die drei von Bethlehem bereits zurückgelegt haben, der tiefe Abgrund, an dem er sich entlangschlängelt. Und dort, hinter der nächsten Biegung, lauert sogar ein Tiger…. Sie hat mir selbst Angst gemacht, diese Fluchtszene in unserer Krippe. Weißt Du das noch? Und ging es Dir ähnlich?" würde ich jetzt am  liebsten  meinen Bruder fragen, heute, mehr als fünfzig Jahre später. Aber er wohnt weit weg und wir haben schon lange nicht mehr über unsere Kindheit geredet.


Weißt Du noch...? Warum erzählen wir gerne Geschichten aus unserer Kindheit? Ich denke, wir versuchen darin einen Raum aufzuspannen, in den alles hineinpasst, was Kinder und Erwachsenen erleben: Tröstliches und Beunruhigendes, das, was Angst macht – und das, was einem hilft, trotzdem weiterzuleben. Viele Kindheitsgeschichten, die wir uns als Erwachsene weitererzählen, sind in ihrem tiefsten Kern Rettungsgeschichten. Wir vergewissern uns, dass das Leben weitergeht, obwohl es manchmal so scheint, als gäbe es keine Hoffnung und keine Zukunft mehr, als würde sich rechts und links vom Weg das Unheil wie steile Berge auftürmen und hinter der nächsten Wegbiegung ein Tiger lauert. Trotzdem – oder gerade deswegen – darf das Erzählen nicht aufhören. Immer wieder "Weißt Du noch…"?

Eine Geschichte aus der frühesten Kindheit Jesu erzählt der Evangelist Matthäus:

Als die Sterndeuter fortgezogen waren, erschien Joseph im Traum ein Engel des Herrn und sagte zu ihm: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten. Dort bleibe so lange, bis ich dir sage, dass du heimkehren darfst. Denn Herodes wird dein Kind suchen, um es zu töten. Da stand Joseph auf, und floh, noch in der Nacht, mit dem Kind und der Mutter nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des Herodes, damit das Wort in Erfüllung ging, das der Herr durch seinen Propheten gesagt hat: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.
Als Herodes merkte, dass die Sterndeuter ihn hintergangen hatten, wurde er zornig und ließ in Bethlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren ermorden: Das entsprach dem Zeitpunkt, den er bei der Befragung der Sterndeuter ausgemacht hatte. So ging das Wort in Erfüllung, das der Prophet Jeremias gesagt hat:
Sie hörten eine Stimme in Rama.
Sie hörten Klage, überall, Jammern und Geschrei.
Rachel weint um ihre Kinder und ließ sich nicht trösten.
Tot waren sie.
Als Herodes gestorben war, erschien Josef in Ägypten ein Engel im Traum und sagte zu ihm: Steh auf und zieh mit dem Kind und seiner Mutter in das Land Israel. Denn die Feinde, die das Kind töten wollten, leben nicht mehr.  
Da stand Joseph auf und zog mit dem Kind und der Mutter heim nach Israel. Als er aber hörte, dass Archelaos anstelle seines Vaters Herodes in Judäa regierte, fürchtete er sich, dorthin zu gehen und zog auf eine Weisung im Traum hin nach Galiläa. Dort ließ er sich in der Stadt Nazareth nieder. So wurde das Wort des Propheten erfüllt: Nazarener wird man ihn nennen.  (Mt 2, 13-18.19-23)

Eine aufregende, aufwühlende Geschichte. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen und hinhören soll: auf die Traumszenen des Josef, in denen ein Engel ihn anrührt, damit er das Richtige, Rettende tut – oder auf das Gemetzel in Bethlehem und das Weinen der Mütter, deren Kinder getötet werden….
Und womöglich spürt der eine oder die andere als allererstes den inneren Protest gegen diese Geschichte: wie kann es sein, dass schon bei der Geburt Jesu, der doch als Retter kommen soll, unschuldige Kinder sterben müssen?

Es gibt natürlich Erklärungen, die das eine oder andere, was von den Grausamkeiten des Herodes erzählt wird, ein wenig abmildern. Trotzdem ist der Schrecken des Kindermordes fester Bestandteil der Bibel und der Weihnachtsgeschichten und wird wieder und wieder erzählt. Warum müssen die, die es hören, immer wieder diesen Gefühlsstrudel durchmachen von Rettung und Grauen? Warum mutet uns Matthäus diese Geschichte zu, als könne es das eine nicht ohne das andere geben?

Einen Faden vom Hier und Jetzt zum Dort und Damals

Wenn wir so in der Rückschau unsere Lebensgeschichten erzählen, dann wiederholen wir keine nüchternen Geschichtsbuch-Fakten. Wir malen in den Farben, die unserem Leben Sinn geben und es unverwechselbar machen. Im Erzählen holen wir Momente aus der Vergangenheit in die Gegenwart und vergewissern uns, dass das Leben eine Kontinuität hat, in einem Zusammenhang steht, dass es einen "Faden vom Hier und Jetzt zum Dort und Damals gibt" (Brigitte Boothe). Die alten Damen, die immer wieder von der Flucht im Pferdewagen über das krachende Eis des Stettiner Haffs erzählen, sind in diesem Moment wieder Kinder. Kleine Mädchen, die die Angst und die Unsicherheit spüren – und zugleich gerettete Kinder, die durch die dunkle Nacht hindurch bewahrt worden sind. Das Mädchen vor der Krippe – das bin ich als Sechsjährige mit großen Augen und bangem Herzen und zugleich jetzt und heute die, für die die liebevoll gestalteten Krippenlandschaften meiner Mutter trotz all meiner Zweifel und all dem, was dagegenspricht, immer noch eine Quelle sind, aus der sich mein Glaube nährt.

Und das Kind, von dem Matthäus erzählt? Es ist ein verletzliches Kind. Aber es gäbe diese Geschichten nicht, wenn es nicht auch schon der auferstandene Jesus wäre, der, den Gott für uns nicht nur einmal vor den Verfolgern, sondern ganz endgültig aus dem Tod gerettet hat…
Solches Immer-wieder-erzählen hat aber noch eine weitere Funktion: es stabilisiert. Es gibt dem, was eigentlich unerträglich ist, eine Struktur, die uns hilft, nicht vom bloßen Entsetzen weggerissen zu werden. Das Erzählen selbst gibt Halt. Ich kann meine Worte wählen, kann dem Entsetzlichen einen Rahmen geben. Warum spielen in den Erinnerungen alter Menschen, in ihren Kriegs- und Fluchtgeschichten oft winzige Details eine große Rolle? Wen interessiert, dass Bettzeug auf den Planwagen geladen wurde? Wer muss schon wissen, dass es blaukarierte Überzüge gab, als die Flucht endlich zu Ende war? Ich glaube, dass genau solche Details wichtig sind, wenn es darum geht, sich zu vergewissern, dass der Schrecken der Kälte und die erfrorenen Kinder am Rand des Weges nicht das letzte sind, was in meiner Erinnerung bleibt, dass es dabei nicht enden muss. Und mehr noch: indem ich meine Lebensgeschichte jetzt erzähle, vergewissere ich mich, dass ich – trotz aller Schrecken – überlebt habe, ja, dass ich heute lebe. Und dass ich heute die bin, die ich bin.

Menschen können nicht aufhören, solche Geschichten zu erzählen. Sie deuten ihr Leben und geben ihm dadurch Sinn. Sie entreißen es der Vergangenheit. Sie machen sich dadurch klar, dass sie trotz allem Schrecklichen und durch alle Schreckliche hindurch bewahrt worden sind. Sie spüren, dass ihr kleines Leben, hineingewoben in das große Leben, weitergeht. Sie vergewissern sich im Nachhinein und im Rückblick: Ich bin gerettet.

Aber kann man das so einfach auf die Kindheitsgeschichte Jesu übertragen? Warum müssen nicht nur unsere Kindheitsgeschichten – warum muss gerade diese Kindheitsgeschichte Jesu immer wieder erzählt werden – und zwar genau so wie Matthäus das tut, mit dem Schreien und Klagen und Jammern der untröstlichen Rahel in der Mitte? Wenn ich der Geschichte jener alten Frauen zuhöre, dann entdecke ich in den Mädchen, die durchkommen und wieder eine Heimat finden, auch irgendwie mich selber und die Herausforderungen meines eigenen Lebensweges. Kann ich mein Leben mit all seine Fragen und Ängsten so hineinweben in die Jesusgeschichte?  

Der Engel am Rand des Abgrunds

Ich denke noch mal zurück an die Krippe, bin noch einmal das kleine Mädchen, das auf die Krippe schaut. Und ich frage mich: Wie ist der Weg der Flüchtenden damals weitergegangen? Oben auf den Berg, an den schmalen Weg, der von Bethlehem hinaufführte, gerade an den Rand des Abgrunds, hatte meine Mutter einen Engel gestellt. Mit seinen nach beiden Seiten ausgebreiteten Armen sah er ein bisschen aus wie ein Verkehrspolizist. Aber es war mir wichtig als Kind, dass dieser Engel dort stand. Ich brauchte ihn, damit der Abgrund nicht so bedrohlich, die Raubkatze im Gebüsch nicht so gefährlich erschien. Vielleicht war es ja einer der Engel, der den Joseph auf den Weg geschickt hatte, damit er das verletzliche und kostbare Kind bewahre – trotz aller eigenen Angst?

Heute weiß ich genauer, wie der Weg des Kindes verlaufen ist. Ich weiß, dass die Flucht dieses Kindes Jesus nach Ägypten gelungen ist. Ich weiß, dass der Fluchtweg des Kindes Jesus ein Rettungsweg war. Ich weiß aber auch, dass der Weg dieses Kindes weiterging. Ich weiß heute, was der Dichter Kurt Marti gemeint hat. Er hat sich in einem Gedicht Gedanken gemacht über die Flucht nach Ägypten. "nicht ägypten ist fluchtpunkt der flucht", schreibt er.

"das kind wird gerettet für härtere tage / fluchtpunkt der flucht ist das kreuz"

Der Fluchtpunkt – für den, der auf ein Bild schaut, ist das der Punkt, in dem alle Blickachsen zusammengeführt werden – dieser Fluchtpunkt lenkt meinen Blick in die Tiefe des Bildes, das Matthäus von der Kindheit Jesu und seiner wunderbaren Rettung malt. In der Tiefe des Bildes, ganz hinten, dort, wo alle Linien zusammenlaufen, dort steht das Kreuz. Dort klagt einer, genauso wie Rahel und will und kann sich nicht trösten lassen.
Und auf einmal denke ich: ja, vielleicht muss man diese Geschichte auch deshalb wieder und wieder erzählen, weil dort auch Raum ist für das Klagen der Mütter über den Tod ihrer Kinder. Weil das Weinen  Raum haben muss, das Klagen vor Gott, weil jedes einzelne tote Kind, erfroren auf der Flucht, ertrunken im Mittelmeer, an den Strand einer griechischen Insel geschwemmt, gestorben vor Hunger und Erschöpfung im Jemen oder an einem Bahngleis in Mittelfranken, weil jedes einzelne dieser Kinder in der Klagen ihrer Mütter und Väter vor Gott gebracht und so Gott selbst vor Augen gehalten werden muss – genau so wie dieser sterbende Mensch Jesus am Kreuz sich selbst Gott vor Augen hält. Diese Kindheitsgeschichte Jesu muss genau deswegen immer wieder erzählt werden, weil sie eine Weihnachtsgeschichte ist, in der das Untröstliche nicht ausgespart wird. In der ernst genommen wird, dass es Weinen und Klagen gibt, für das kein Trost an Weihnachten bereit ist.

Der Evangelist Matthäus hat seine Kindheitsgeschichte sorgfältig erzählt. Er hat gewissermaßen Engel an beide Seiten des Fluchtweges gestellt. Er hat die Innigkeit der Familie so erzählt, dass spätere Maler sich nicht sattsehen konnten an den zwei Menschen, die da eng aneinandergefügt einen Schutzraum bilden um das Kind. Aber er hat zugleich Raum gelassen für das untröstliche Leid und die unbeantwortbaren Fragen. Seine Kindheitsgeschichte Jesu ist keine Weihnachtsidylle einer heilen Familie. Er schafft dem Leid unschuldiger Menschen Raum – mitten im Evangelium und er verschweigt die Trauer nicht und nicht das Jammern und das Klagen.

Mit diesem Blick auf diese Kindheitsgeschichte Jesu kann ich hoffen, dass dieses Weinen von Gott selbst gehört und gesehen wird. Dass er es aushält, auch, wenn es uns unaushaltbar erscheint. Und es macht mir Mut, nicht aufzugeben, selber nach dem Engel Ausschau zu halten, der am Rand des Abgrunds steht wie ein Verkehrspolizist.

Eine Bekannte, die im Jobcenter arbeitet, hat mir erzählt, dass sie immer einen kleinen bronzenen Engel in der Schreibtischschublade hat. Manchmal, sagt sie, kommen Menschen, die zittern vor Aufregung. Alles macht ihnen Angst. Von überall her fühlen sie sich bedroht. Jede Begegnung mit Fremden, jeder Ämtergang, jedes Telefongespräch ist eine fast unüberwindliche Hürde. Wenn sie mir dann schildern, was sie schon alles durchgemacht haben, dann sehe ich, wie ihre Hände immer wieder ins Leere greifen. Es ist, als ob sie nirgends Halt finden. Manchmal gebe ich ihnen dann so einen kleinen Bronzeengel. "Den nehmen Sie mit und stecken ihn ein!", sage ich zu ihnen. "Und immer, wenn Ihre Hände wieder zu zittern anfangen, dann halten Sie sich an dem Engel fest! Und wenn Sie ihn nicht mehr brauchen, dann geben Sie ihn einfach weiter…."

Evangelische Morgenfeier vom 30.12.2018 mit Pfarrerin Barbara Hauck, Thema: "Weißt du noch...?"

Das PDF mit dem vollständigen Text kann beim BR heruntergeladen werden unter diesem Link.