Frau Breit-Keßler, was müssen angehende Pfarrer und Pfarrerinnen heutzutage mitbringen?

Breit-Keßler: Sie brauchen ein sehr gutes geistliches Fundament, sollten täglich die Bibel lesen oder die Losungen. Sie dürfen nicht trennen zwischen Beruf und Privatperson - das ist unglaubwürdig und funktioniert nicht. Außerdem brauchen Pfarrerinnen und Pfarrer heute große Weltläufigkeit und ein gehöriges Maß an Bildung: was passiert in der Welt, was bewegt die Leute? Sie müssen parkettsicher sein und sich überall wohlfühlen - egal ob sie zu den Zirkusleute gehen, Obdachlose besuchen oder im Bayerischen Hof zu einem Empfang geladen sind. Menschen sind Menschen, die lieben, die leben, die haben Angst oder Schmerzen. Das ist immer gleich.

Finden sich denn noch viele junge Leute, die das alles leisten wollen?

Breit-Keßler: Viele, die ich ordiniert habe, bringen das mit, und ich finde es toll, wie sie sich engagieren. Ich glaube, wer seinen Beruf mit Leidenschaft macht, schaut nicht auf die Uhr. Dennoch spielt die berühmte Work-Life-Balance für junge Pfarrerinnen und Pfarrer eine Rolle. Deshalb muss Kirche darüber nachdenken - und tut es ja auch schon -, wie sie Pfarrer dazu befreit, für Menschen da zu sein. Dann gäbe es weniger Probleme mit Überlastung. Denn es ist einfach schön, wenn man mit Menschen reden kann, wenn man Trauungen feiert, Angehörige bei Beerdigungen begleitet, Kinder tauft oder Jubiläen feiert. Oder wenn man für eine Predigt sieben oder acht Stunden investieren kann. Das muss man, wenn sie gut sein soll.

Sie brauchen acht Stunden für eine Predigt?

Breit-Keßler: Ja, meistens, weil es jedes Mal wieder neu und anders ist. Sicher, manche Gedanken wiederholt man. Es ist ja auch sinnlos, wichtige Gedanken zu haben, die man nur einmal benennt. Eine gute Predigt braucht Zeit. Wenn es jemand viel schneller schafft, würde ich nachdenklich werden.

Wo ist der beste Ort, um eine Predigt zu schreiben?

Breit-Keßler: Ich empfehle, mal rauszugehen, sich in die Bar zu hocken und zu überlegen, was man den Leuten dort erzählen würde. Durch dieses Feuer sollte man innerlich gehen, damit man nicht vor sich hin schwadroniert. Denn das ist das Schlimmste. Ich lasse auch alle meine Texte gegenlesen. Warum sollte ich als Theologin Menschen mit Tiefsinn überfallen, der nicht reflektiert genug ist? Kritische Rückmeldungen bringen einen weiter.

Welches Verhältnis braucht Kirche zu den Medien?

Breit-Keßler: Kirche muss insgesamt mehr verstehen, wie Medien ticken. Was braucht ein Medium? Sind es 120 Sekunden, dürfen es 5600 Zeichen sein? Da sollte man liefern, und das kann man lernen. Ich glaube auch, dass Kirche sich noch sehr viel intensiver und konzeptuell mit den digitalen Medien befassen muss. Das Motto "Dabeisein ist alles" ist zu wenig. Es gibt Pfarrer, die mir sagen: Meine Facebook-Seite ist Privatsache. Was ich dort veröffentliche, hat nichts mit dem Amt zu tun, das ich bekleide. Ich finde dies eine lustige Einstellung. Wie kann so etwas Öffentliches privat sein?

Sie schreiben auf Ihrer Facebook-Seite aber schon, wenn Sie einen Blumenstrauß zum Hochzeitstag bekommen…

Breit-Keßler: Das ist eher persönlich als privat. Ich sage damit, dass man seine Ehe kultivieren sollte und dass ein Hochzeitstag etwas ist, das man feiert. Wenn ich etwas Persönliches auf Facebook stelle, ist damit eine Botschaft verbunden. Urlaubsbilder von meinem Mann und mir finden Sie nicht.

Sie waren die erste Frau im Amt eines bayerischen Regionalbischofs. Wie steht es heute um Frauen in Leitungspositionen?

Breit-Keßler: Die evangelische Kirche kann stolz darauf sein, dass Frauen alles werden können in dieser Kirche. Wir sind da sehr fortschrittlich. Mir selbst ist nie jemand mit Fragezeichen begegnet. Das war irgendwie selbstverständlich, aber ich halte mich auch nicht lange auf mit sowas.

Sind Sie für Frauen-Quoten in der Wirtschaft?

Breit-Keßler: Ich verstehe das Anliegen, aber ich würde niemals die Frau sein wollen, die aufgrund einer Quote ausgesucht wird. Allerdings muss ich manchmal darum kämpfen, dass sich auch Frauen auf einen Dekans-Posten bewerben. Frauen sind skrupulöser, da wünsche ich mir mehr Mut. Es gibt keinen Bereich, in dem man nicht noch etwas lernen müsste, das ist doch logisch.  

Nach tragischen Ereignissen stehen Sie als Predigerin in einem besonderen Spannungsfeld: Vor Ihnen sitzen unmittelbar betroffene Menschen, gleichzeitig schaut eine große Öffentlichkeit zu. Wie hält man das aus?

Breit-Keßler: Nur mit großem Gottvertrauen und Empathie. Man hat trauernde Menschen vor sich. Da kannst du nicht sagen, dass das wahnsinnig tragisch ist. Das wussten sie auch so schon. Wenn ich so eine Predigt schreibe, fühle ich sehr mit. Da bringen Eltern ein Kind zur Welt, und dann ist es auf einmal tot. Entsetzlich. Ich schreibe und mir laufen die Tränen runter.

Es gibt bei solchen Unglücken keinen Trost, denn der Mensch ist tot, die Kinder sind tot, die kommen nie zurück. Was vielleicht ein Trost sein kann ist, dass da jemand signalisiert: Ich verstehe euch in eurem Leid, und auf dieses Leid gibt es erst einmal gar keine Antwort. Ich kann euch nur von einem Gott erzählen, der sich nicht zu schade war, auch Leid auf sich zu nehmen. Wir sind zuletzt in Gottes Hand geborgen: Das muss man irgendwie versuchen vorsichtig zu sagen, statt mit Gottes Gloria aufzuscheinen. Denn Jesus hängt am Kreuz. Das war auch nicht wirklich glanzvoll.

Zweifeln Sie manchmal am Glauben?

Breit-Keßler: Nein. Ich bin eher immer stabiler geworden im Glauben. Ich habe schon Zweifel gehabt in meinem Leben. Als meine Eltern so schwer krank waren und starben.

Aber nachdem ich da durch war, konnte ich gestärkt auf all das andere losgehen. Natürlich frage ich mich, wenn ich im Gefängnis Kinderschändern begegne, wie das alles möglich ist. Aber zum einen entscheidet am Ende der liebe Gott, wo er vergibt und wo nicht. Und zum anderen haben wir ein funktionierendes Rechtssystem. Menschen bekommen eine Strafe und sind deswegen auch im Gefängnis. Und wenn dann jemand mit mir über Gott und Glauben reden will, muss ich als Seelsorgerin da sein. Ich finde das nicht immer angenehm. Aber auf einmal sitzt man einem Menschen gegenüber, das ist das Verrückte.

Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler
Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler beim Sonntagsblatt-Interview im Sommer 2019.

Zu Ihren jüngeren Engagements gehört der Grüne Punkt für faire Textilproduktion. Was treibt Sie bei dem Thema an?

Breit-Keßler: Gerechtigkeit in der Welt. Und dass wir in unserer Gesellschaft, in der es uns extrem gut geht, nicht auf Kosten anderer leben können. Was passiert in der Textilbranche weltweit, bloß damit irgendjemand sagen kann: Super ich habe für zwei Euro ein T-Shirt gekauft! Das kann ich nicht ertragen.

Haben Sie den Eindruck, dass Entwicklungsminister Gerd Müller mit seinen Ideen vorankommt?

Breit-Keßler: Ich finde seinen Ideenreichtum sensationell und bin immer wieder überrascht, wie er die Jugend begeistert. Ich bin deswegen enttäuscht, dass beispielsweise der Finanzminister den Entwicklungsetat kürzen will. Müller sagt mit Blick auf die Flüchtlingsfrage vollkommen zu Recht: Wenn man den Menschen in ihren Heimatländern schon nicht per se helfen will, muss man es wenigstens aus Eigeninteresse tun, weil man damit Fluchtursachen bekämpft. Wer will denn freiwillig aus seinem Heimatland unbedingt nach Deutschland? Es wird die absolute Minderheit sein. Wir wollen ja auch nicht woanders hin. Also muss man den Menschen helfen, in ihrer Heimat eine Perspektive zu finden. Und dazu müssen wir endlich mal bereit sein, auch einen Preis zu zahlen.

Bei der Bischofswahl im Jahr 2011 waren Sie Favoritin. Doch dann sind Sie mit überraschend wenig Stimmen ausgeschieden. Hat Sie das persönlich getroffen?

Breit-Keßler: Ich war am Tag nach der Wahl wieder in der Synode und habe die Tagung von der ersten bis zur letzten Stunde mitgemacht. Ganz so schlimm kann es also nicht gewesen sein. Eine Wahl ist eine Wahl - und wenn man unterliegt, egal mit wieviel Stimmen, dann muss man das akzeptieren. Natürlich fand ich das Wahrergebnis nicht so schön. Aber deshalb eine Enttäuschung vor mir herzutragen, finde ich nicht angemessen. Und dann dürfen Sie nicht vergessen: Vor bald 36 Jahren war ich schwer krank und hatte eine zweiprozentige Überlebenschance. Alles was danach an Niederlagen kam, ist dagegen nichts.

Als Regionalbischöfin für München und Oberbayern kennen Sie Stadt und Land. Wo liegen die Unterschiede für Kirche?

Breit-Keßler: Kirche auf dem Land hat es leichter, weil es dort mehr persönliche Bindungen gibt. In der Stadt brauchen wir andere Konzepte. In der Stadt brauchen wir Themengottesdienste, vielleicht auch mal bekannte Prediger, Vernissagen und besondere geistliche Momente wie beim Weihnachtsoratorium. Weil wir kurze Entfernungen haben, sollten wir ähnliche Veranstaltungen und Aufgaben zusammenlegen. Das geschieht noch zu wenig.

Sie haben den Forschungsreaktor in Garching eingeweiht, die Allianz Arena und das Fünf-Sterne-Hotel Charles und dafür manche Kritik einstecken müssen. Können Sie das nachvollziehen?

Breit-Keßler: Es kommt darauf an, was ich bei einer solchen Eröffnung sage. Jesus hat mit allen gesprochen. Mit den Schriftgelehrten und dem reichen Jüngling und den Armen. Er ist nicht auf den Stufen der Synagoge gehockt und hat gewartet, bis einer vorbeikommt, dem er vielleicht mal predigen konnte. Kürzlich hat das Hotel Charles Jubiläum gefeiert. Da hat mich der Direktor gebeten, beim Tag der Offenen Tür einen Gottesdienst im Ballsaal abzuhalten. Wer hatte denn da recht mit der Einweihung? So etwas bleibt wirksam. Meine Rede hängt eingerahmt in der Küche des Hotels, weil das Personal die so schön fand. So schaut Mission aus. Nicht, indem wir sagen, da gehe ich nicht hin.

Wie pflegen Sie Ihre Spiritualität?  

Breit-Keßler: Noch bevor ich morgens mein Handy anschalte, setze ich mich im Schlafanzug aufs Sofa im Wohnzimmer und lese die Losungen und das Rummelsburger Brevier, das ich sehr liebe. Erst wenn ich das verinnerlicht habe, beginnt für mich der Alltag.

Welche Haltung haben Sie gegenüber dem Tod?

Breit-Keßler: Im Moment bin ich relativ gelassen. Wenn es dann ernst wird, muss man mal schauen. Ich bin unfassbar dankbar, dass ich vor 36 Jahren dieses Leben noch einmal geschenkt bekommen habe. Also: Wer bin ich, dass ich mich beschweren könnte, wenn es irgendwann zu Ende geht, nachdem ich so eine Packung tolles, volles Leben geschenkt bekommen habe.

Was werden Sie nach Ihrem Abschied als Regionalbischöfin vermissen – und worauf freuen Sie sich?

Breit-Keßler: Mein Team im Büro, das ist für mich wie Familie. Es wird sehr schwer, "meine Leute" zu verlassen. Ich werde das Herumfahren im Land vermissen, predigen, wo andere Urlaub machen, Ereignisse, wo sich Kirche und Welt und Kunst begegnen. Nicht vermissen werde ich stundenlange Gremiensitzungen. Und Konflikte auch nicht. Ich liebe Konflikte nicht – auch wenn ich Ihnen nicht ausweiche.

Ich freue mich, künftig intensiver mit Bundesminister Müller arbeiten zu dürfen. Und ich bin sehr gespannt auf die Arbeit in der Hanns-Seidel-Stiftung. Als Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung der Stadtsparkasse bleibe ich der Stadt München verbunden. Und schließlich habe ich die Kolumne im Münchner Merkur und den Blog auf evangelisch.de. Worauf ich mich privat freue, ist mehr Zeit, um Freunde einzuladen und sie zu bekochen. Und dann wird es endlich mal ein Weihnachtsfest geben, bei dem ich nicht am Abend vorher einen Christbaum besorge und noch schnell die Kartons mit Weihnachtsschmuck in die Wohnung schleppe.

Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler im exklusiven Interview im Sonntagsblatt.