Befangener als Werbemacher gehen die Kirchen mit dem Thema um. Davon zeugen die Schlagzeilen, die über Schlimmes berichten. Sex und Glaube? Unwillkürlich denkt man da heutzutage an den sexuellen Missbrauch, den Geistliche Kindern und anderen Schutzbefohlenen angetan haben. Unter dem Deckmantel göttlicher Autorität wird Sex da zum Mittel der Unterdrückung und Selbsterhöhung. Sex hat da nichts mehr mit Lust oder Liebe zu tun, sondern mit Macht. Statt zu himmlischen Freuden führt der Sex die Opfer in die Hölle.

Die Situation ist bedauerlich: Sex und Lust haben in den Kirchen aller Konfessionen bis heute keine starke Lobby. Ein Lebensbereich, der Menschen im Innern bewegt und zur Glückseligkeit beitragen kann, wird bestenfalls ignoriert, meist aber mit dem moralischen Zeigefinger kommentiert und bewertet.

Sexualität hat in der Bibel mit gegenseitigem Erkennen zu tun

Dass die Lust in den Kirchen so ins Hintertreffen geriet, ist erstaunlich. Denn das heilige Buch der Christenheit, die Bibel, geht ziemlich unbefangen mit dem Sex um. Sexualität hat dort mit gegenseitigem Erkennen zu tun. Das macht schon die Schöpfungsgeschichte deutlich: "Adam erkannte seine Frau Eva" heißt es da – in der hebräischen Sprache ist "erkennen" ein Synonym für den Geschlechtsakt. Liebevoller Sex und Gewalt, Vielehe und sexuelle Abhängigkeiten, Prostitution und romantische Begegnungen, Haremsgeschichten und Verführungen: Die Bibel schildert den Sex bemerkenswert lebensnah.

Wie ein Manifest der Lust wirkt das biblische Hohelied, das voller erotischer Bilder ist. Das offensichtlich über beide Ohren verliebte Paar Salomo und Sulamith gibt sich ganz dem Liebesspiel hin. Sie verzehren sich geradezu vor Begierde und Lust. "Er küsse mich mit seinem Munde", haucht Sulamith ihrem Gespielen ins Ohr. "Von deinen Lippen, meine Braut, träufelt Honigseim", entgegnet der, "rund sind deine Schenkel wie zwei Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat." In poetischen Bildern beschreiben die beiden ihre begierigen Körper: vom "Myrrhenberge" ist die Rede und vom "Weihrauchhügel", vom "Lustgarten" und von "Knospen". Und vom "Schoß, der wie ein runder Becher sei, dem es nimmer an Getränk mangelt".

"Adam erkannte seine Frau Eva", Gemälde von Julius Paulsen, 1893, Kopenhagen.
"Adam erkannte seine Frau Eva" – in der hebräischen Sprache ist "erkennen" ein Synonym für den Geschlechtsakt. Gemälde von Julius Paulsen, 1893, Kopenhagen.

Das Wort "Gott" kommt im ganzen Hohelied nicht vor. Jedoch ist offenbar, dass die Lust, die sich die beiden bereiten, von Gott gewollt ist. Unerwähnt scheint Gott so etwas wie der Schöpfer der Lust des Paares zu sein. Kein Wunder, dass ein Vers aus dem erotischen Bibelbuch bis heute zu den beliebtesten kirchlichen Trausprüchen gehört: Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme.

Viele Stimmen gab es, die dieses Buch aus der Bibel verbannen wollten. Einige Kirchenväter – also die ersten Theologen der Kirche – versuchten, es zu entfleischlichen, und deuteten es als Sinnbild der Beziehung zwischen Christus und Maria oder der Kirche. Ungezügelte Lust zwischen Menschen? Das durfte nicht sein.

Ihre sexuelle Lust stand den Kirchenvätern ziemlich im Weg. Glaubt man der Überlieferung, hat sich einer von ihnen im dritten Jahrhundert sogar entmannt: Origenes wollte unbelastet von seinen Trieben über Gott nachdenken. Kirchenvater Augustinus hatte vor seiner Bekehrung ein ausschweifendes Leben geführt. Mit dem christlichen Glauben verstärkte er jedoch die leibfeindlichen Ansichten des jungen Christentums, wetterte gegen Ausschweifungen und Begierden. Und entwickelte die Lehre der Erbsünde: Seit Adam und Eva wird demnach durch jede Zeugung Sünde auf körperlichem Wege weitergegeben. Jeder Geschlechtsverkehr ist demnach sündig. Lustfördernd ist diese Vorstellung nicht.

Ventil für das Verbotene

Sehr fantasievoll suchten sich im Mittelalter die Mystikerinnen ein Ventil für das Verbotene. Als "Bräute Christi" vereinten sich ehelos lebende fromme Frauen in einer geheimnisvollen, nicht körperlichen Weise mit Christus. Das schildern Visionen, die sich bisweilen wie echte erotische Begegnungen lesen. Zum Beispiel die der Mystikerin Mechthild von Magdeburg, die im 13. Jahrhundert lebte:

O du brennender Gott in deiner Begierde!

O du fließender Gott in deiner Liebe!

O du schmelzender Gott in der Vereinigung mit deiner Geliebten!

O du ruhender Gott an meinen Brüsten, ohne den ich nicht sein kann.

O Herr, minne mich gewaltig und liebe mich oft und lang.

Von Lustlosigkeit ist bei den Mystikerinnen keine Rede. Wohl aber von Leibfeindlichkeit. Denn die erotischen Visionen der keuschen Frauen spielen sich im Kopf ab.

Mit dem Körper machen es sich viele Christen in der Tat oft schwer. Ihnen wird Leibfeindlichkeit nachgesagt – leider zu Recht. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine antike Liaison von Theologie und Philosophie. Die Seele sei gefangen im Körper, behauptete der Philosoph Platon und stellte sich den Geist als eine Art Kommandozentrale vor, die den Körper gefälligst im Griff haben sollte. Viele fromme Menschen, auch Martin Luther, kasteiten den eigenen Körper, um ihm unerwünschte Regungen und Begierden auszutreiben. Ohne Erfolg. Der Körper war stets stärker. Bei Martin Luther führte die übermäßige Angst vor körperlicher Freiheit letztendlich dazu, die Sexualität wieder ganz neu und positiv zu sehen. Sex diene nicht nur der Kinderzeugung, nein, Eheleute sollten zärtlich und freundlich im Bett miteinander umgehen. Als Richtschnur empfahl er Eheleuten, zweimal in der Woche miteinander die Wonnen der Lust zu teilen. Während für die damalige katholische Kirche beim Sex der Teufel im Spiel war, genossen Martin Luther und seine Frau Katharina die körperliche Liebe, schließlich sei sie "Gottes Schöpferwille".

Sinn und Geschmack für die Unendlichkeit

Sex und Gott – scheint sich das im neuzeitlichen Christentum besser zu vertragen? Die Schriftsteller der Romantik trieben die Gedanken der Mystikerinnen und Martin Luthers auf die Spitze. In einem Liebesgedicht etwa verbindet der fromme Dichter Novalis erotische Gedanken mit dem Glauben an Gott. Er meinte, beim Sexualakt würden die Menschen sich "auf geheime Weise […] tief in Gott hinein" ergießen. Novalis war in sinnlich-pietistischem Geist aufgewachsen. Fasziniert studierte er die Schriften mittelalterliche Mystiker und verband sie mit seinem eigenen Liebes-Erleben.

Der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher nahm die Gedanken der Romantiker auf. Sie trafen sich mit seiner Ansicht, dass Religion weniger mit Dogmatik als mit "Sinn und Geschmack für die Unendlichkeit" zu tun habe. So ermöglichte er, auch die Lust als gottgegeben anzuerkennen. "Der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit hat auch sein Heiliges und fordert gleich Achtung!", schrieb Schleiermacher seinen prüden protestantischen Zeitgenossen ins Stammbuch.

Der Pfarrerssohn und Philosoph Friedrich Nietzsche schließlich spitzte den Zusammenhang zwischen Sex und Gott nochmals zu. Einer seiner Sätze schaffte es ins Herz vieler Menschen:

"Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit."

Das hört sich romantisch an. Aber stimmt das denn – will Lust Ewigkeit? Wäre es wünschenswert, ständig lustvoll himmlische Freuden zu erleben? Klaas Huizing ist einer der wenigen Theologieprofessoren, die sich mit solchen Fragen beschäftigen. An der Würzburger Universität lehrt er "Systematische Theologie und Gegenwartsfragen". "Die extreme Verbundenheit in einem intimen Akt kann schon ein Vorgeschmack auf die Ewigkeit sein", sagt Huizing. "Himmlische Lust" bedeutet für ihn, "wenn sie gewissermaßen so lange nachlebt im Alltag, dass man da ein Stück weit fröhlich und im wahrsten Sinne des Wortes befriedigt und entspannt in den Tag und durch den Tag kommt".

Klaas Huizing, evangelischer Theologe und Autor.
Klaas Huizing, evangelischer Theologieprofessor und Romanautor.

An der Würzburger Universität, an der Huizing lehrt, wirkt alles sehr entspannt. Studentinnen und Studenten stehen plaudernd auf den Fluren des altehrwürdigen Gebäudes. Im Professorenzimmer hängen abstrakte Bilder an den Wänden, daneben ein Einladungsplakat für einen Vortrag des Theologen Ruben Zimmermann: "Guter Sex nach dem Neuen Testament – geht das?"

Mit dem Thema Sexualität scheint hier am Institut für Evangelische Theologie jenseits von überkommener Moral und zudem humorvoll umgegangen zu werden. Auf die herkömmliche Theologie wird hier aus mitunter ungewöhnlichen Blickwinkeln geschaut. So erforschte Huizing auch die Biografien mancher Theologen. Dabei kommt gelegentlich bislang nur Erahntes zum Vorschein. Etwa dass der hoch angesehene Theologe Karl Barth 35 Jahre lang mit seiner Ehefrau und seiner Geliebten zusammenlebte – auch sexuell. Der Roman, den Huizing über diese Dreiecksbeziehung schrieb, stößt auf lebhaftes Interesse auch in der protestantischen Kirchenszene, wo sexuelle Themen noch immer mit einer gewissen Verklemmtheit und lieber nicht offen angesprochen werden.

Gott ist in unseren Küssen

Ob Gott und Sex zusammenpassen? Aber sicher. Sogar auf eine tiefe Weise. Gott bewertet nicht, auf welche Weise wir Menschen uns körperlich näherkommen. "Gott ist in unseren Küssen", meinte Heinrich Heine – und wahrscheinlich ist er auch in unseren Betten und intimsten Momenten.

Schade, dass diese Art, sich Gott zu nähern, von den Kirchen so wenig anerkannt oder verkündigt wird. Befreiter Sex könnte Menschen helfen, Gott neu zu entdecken. Und der Glaube könnte Menschen helfen, Sexualität neu zu entdecken. "Wenn Glaube einen versklavt, ängstlich macht, bedrückt, ist es ein sicher falsches Angebot", meint Klaas Huizing – "Glaube macht nur Sinn, wenn er eine Entlastung ist für den Alltag. Glaube sollte entstressend wirken – auch in der Sexualität!"