Das halbe Land scheint gerade das Glück zu jagen - viele Menschen besuchen Yoga-Kurse und Selbsterfahrungsgruppen, fahren in die Wildnis oder in Wellnesshotels. Sie ändern ihre Schlaf- und Essgewohnheiten, quälen sich durch neue Sportarten, suchen neue Jobs, weil sie die alten nicht mehr erfüllen, neue Bett- und Lebenspartner - immer in der Sorge, dass es nicht reichen könnte zum Glück. Matthias Drobinski, bei der Süddeutschen Zeitung für Religionen und Kirchen zuständig, hat den weiten Markt der Glücksanbieter sondiert, von seriöser Lebensberatung bis Scharlatanerie, von der Optimismus-Industrie bis zur Motivationsbranche.

Es sind allesamt Bereiche mit Gewinngarantie, doch es ist nicht die Geschäftemacherei, die ihn ärgert, sondern ihr Anspruch. "Letztlich ist es eine totalitäre Ideologie, weil sie den ganzen Menschen will - sein Inneres und Äußeres, sein Sozialleben und seine innere Einstellung", schreibt er. Das Ziel sei der neue Mensch: fehlerbereinigt, uneingeschränkt und ohne Reibungsverluste funktionstüchtig. "Wer sich nicht optimieren will, wer zweifelt, wird zum negativen Element und zum Feind. Wer sich nicht optimieren kann, weil da eine Krankheit ist oder sonst eine Schwäche, weil gar Kinder zu versorgen oder Eltern zu pflegen sind, der bleibt defizitär, eingeschränkt verwendbar und begrenzt wertvoll."

Drobinski demaskiert den Egoismus hinter der gnadenlosen Selbstoptimierungsideologie und warnt vor einer "Gesellschaft voller Ichlinge, effizient, funktionsfähig, leistungsstark". Er bricht eine Lanze für den Fatalismus als Gegenprogramm. Zum Menschsein, sagt er, gehört das Unvollständige, Eigentümliche und das Abgründige.

Und er erinnert an die christliche Vorstellung von Barmherzigkeit und Gnade. Dabei gelingt ihm eine Neuformulierung der lutherischen Rechtfertigungslehre: Gottes Barmherzigkeit als Inkonsequenz um der Menschen willen, aus souveräner Liebe, aus Mitleiden mit seiner Unvollständigkeit. Gnade ist, was dem Menschen zuteilwird, egal, was er zu leisten imstande ist und was er geleistet hat, egal, welche Macken und Fehler er hat. "Es ist die Unvollständigkeitszusage Gottes an den Menschen. Du musst nicht werden wie Gott. Das Gottsein kannst du getrost Gott überlassen."

Der Katholik Drobinski würdigt Luthers "wirklich große Erkenntnis", dass Gott den Sünder, den unvollkommenen Menschen in seiner Menschlichkeit annimmt und rechtfertigt - ohne dass er sich selber erlösen muss. "Deshalb hat im Christentum das Unvollkommene seinen Platz, das Gebrochene, Leidende, Abgründige und Zweifelnde." Um lebens- und liebesfähig sein zu können, muss der Mensch, folgert Drobinski, unvollkommen bleiben.

Drobinski sieht im Fatalismus die "Gegenmacht gegen alle, die die Welt im Griff haben wollen und jede Unsicherheit im Keim ersticken wollen. Der Fatalismus steht gegen alle steilen Weltverbesserungsfantasien, gegen das Pathos, dass das Paradies auf Erden machbar ist. Der Autor beschreibt den Fatalismus phänomenologisch von den antiken Denkern Platon, Aristoteles und den Stoikern über Luther, Erasmus und Calvin und die Aufklärung mit Spinoza, Kant, Schelling und Fichte bis zu Schopenhauer und Nietzsche.

Dabei wird deutlich, warum der Fatalismus einen schlechten Ruf hat - und warum es Zeit ist, ihn neu zu entdecken - als Tugend, als Haltung und als Möglichkeit, das Leben zu meistern.

Buchtipp

Matthias Drobinski: Lob des Fatalismus

Drobinski Lob des FatalismusMatthias Drobinski: Lob des Fatalismus

132 S., Claudius Verlag, München

ISBN 978-3-532-62811-9

14,00 €