Der Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt, Ulf Poschardt, hat seine Kritik an politisierten Predigten bekräftigt. Eine Kanzel sei kein "Talkshowsessel", sagte er im Interview mit der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Der Journalist hatte im Kurznachrichtendienst Twitter nach einer Weihnachtspredigt des Berliner Pfarrers Steffen Reiche geschrieben: "Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht." Das hatte sowohl Zustimmung als auch Kritik hervorgerufen.

Wie Poschardt sagte, kippte die Predigt "nach einer klugen Exegese des Weihnachtsevangeliums und viel Gesang und Besinnung in eine Art Parteitagsrede". Aufgabe einer Predigt sei es nicht, das neueste aus den Kommentarspalten der Tageszeitungen zusammenzufassen. Poschardt: "Die Kulturgeschichte der Predigt beginnt mit brillanten Rhetorikern und Intellektuellen, die irgendwann in Verbindung mit beeindruckender Architektur und wegweisender Musik den Gottesdienst zu einer Attraktion auch jener machten, denen es vorrangig nicht um den Glauben ging." Heute wirkten sie "oft abgestanden, wenig erhellend und auch nicht von jener authentischen Gottesliebe getragen, die auch Ungläubige und Wankende in eine christliche Schwingung zu bringen vermag". Das Christentum sei eine Ermutigungs- und Gestaltungsreligion, deren Wirkmacht dann am größten sei, wenn sie sich nicht mit einer weltlichen Macht verwechsle, sondern Menschen die Botschaft der heiligen Schrift näherbringe. Sich selbst bezeichnete Poschardt als "eher zufälligen Kirchgänger".

Reiche: "AfD-Krippe" und Islamkritik

Pfarrer Reiche wies die Kritik an seiner Predigt gegenüber idea zurück. Wer glaube, das Evangelium verkünden zu können, ohne damit Wellen zu verursachen, die auch die Stadt und den Staat erreichten, der stehe nicht in der Nachfolge Jesu. Dieser habe keine Politik gemacht und sei dennoch als politischer Verbrecher von Juden und Römern gekreuzigt worden. Reiche: "Ich spreche deutlich an, was gesellschaftlich schiefläuft, ohne aber politische Vorschläge zu machen."

Allerdings müssten auch die Kirchen Klartext reden. Sie seien "leergepredigt worden, weil die Menschen merkten und merken, das berührt mich nicht". Kernaufgabe der Kirchen sei es, Menschen durch die Predigt des Evangeliums die Tür zur Ewigkeit aufzuschließen: "Aber vor der Ewigkeit ist eben noch ein ganzes Stück Leben und dafür wollen Menschen in der Kirche Antworten finden." Reiche ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Nikolassee in Berlin. Er gehörte zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der DDR noch vor dem Fall der Mauer. Von 1994 bis 2004 war er Minister der SPD im Bundesland Brandenburg.

Dem Onlineportal bento sagte Reiche: "Vielleicht hat sich Herr Poschardt an etwas gestört, das ich noch vor der Predigt gesagt habe – und dann gar nicht weiter zugehört. Anders kann ich es mir nicht erklären." Reiche hatte unter anderem von der "AfD-Krippe" gesprochen, einer Krippe garantiert ohne Araber, Afrikaner oder Flüchtlinge, in der sich dann nur noch Ochs und Esel befänden. In seiner Predigt hatte sich Reiche dann auch als scharfer Islamismuskritiker gezeigt. In einem Interview mit der Tageszeitung taz zeigte sich Reiche deshalb erstaunt über die Poschardt-Kritik, "weil ich in dem Punkt der Welt sicher näher stehe als der taz."

Reiche hatte in der Predigt sinngemäß gesagt, sein Vertrauen in den Islam und zu den Muslimen weltweit sei "stärkstens gestört", weil wegen Mohammed-Karikaturen oder der US-amerikanischen Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels Fahnen brannten, man es andererseits aber nicht ein einziges Mal erlebt habe, dass angesichts von millionenfachen Gräueln "die Umma weltweit aufstand und die schwarzen Fahnen des IS verbrannte und den Islamischen Staat als unislamisch geißelte".

Es könne und dürfe auch nicht sein, dass "ein Imam, der ansonsten als Hassprediger bekannt ist in Berlin und beim Verfassungsschutz mit seiner Moschee beobachtet wird, mit Erlaubnis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche beim Gedenken für die Opfer islamistischen Terrors reden durfte".

Breitscheidplatz-Pfarrer Germer verteidigt Imam Matar

In einem weiteren taz-Interview verteidigte daraufhin an Neujahr der Pfarrer der evangelischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, Martin Germer, den von Reiche angesprochenen Auftritt des Imams Mohamed Matar von der Neuköllner Dar-as-Salam-Moschee bei der Gedenkfeier zu Ehren der Opfer des Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz.

Auf seinem Facebook-Account hatte Matar mit einer Geste fotografieren lassen, die als Zeichen der islamistischen Muslimbruderschaft gilt. In einem Facebook-Kommentar schrieb Matar außerdem zum Foto einer 16-jährigen Palästinenserin, die in Jerusalem erschossen am Boden liegt, nachdem sie versuchte, Sicherheitskräfte zu erstechen: "So friedlich, wie du da zu liegen scheinst, bin ich mir sicher, dass deine Seele gerade jeden Frieden und jede Barmherzigkeit erfährt."

Pfarrer Germer sagte zu den im Raum stehenden Zweifeln um Matar im taz-Interview: "Engagierte Muslime aus arabischen Kontexten leben in einer komplizierten Welt. Dass da jemand auch mal etwas sagt oder tut, was er hinterher als Fehler bezeichnet oder hinter das man ein Fragezeichen setzen kann, wird kaum zu vermeiden sein."