Die (inoffizielle) Uraufführung am 17. Dezember 1927 fand nicht zufällig in Nürnberg statt, Heimat deutscher Helden wie Hans Sachs und Albrecht Dürer: Beide Gestalten treten in dem Stummfilm "Luther" auf. Großes, vielleicht sogar eine Renaissance des Luthertums in Deutschland erhofften sich damals viele deutsche Protestanten von dem aufwendig produzierten Film. Stattdessen löste "Luther" einen Eklat aus und wurde zensiert.

 

Die Nürnberger Fränkische Tagespost, als sozialdemokratische Zeitung katholisch-klerikaler Sympathien unverdächtig, urteilte nach der Premiere: "Der naive Zuschauer wird zu einem fanatischen Hasse gegen die Katholiken verleitet."

Nach wütenden Eingaben des Erzbischöflichen Kommissariats Nürnberg-Fürth und des Zentral-Komitees der Münchner Katholiken stellte die Bayerische Staatsregierung bei der "Film-Oberprüfstelle" im Berliner Innenministerium den Antrag, den Film mindestens für ganz Bayern zu verbieten, besser noch im ganzen Reich: "Da der Film eine derart agressive [sic], von rein geschichtlicher Darstellung weit abweichende antikatholische Tendenz" zeige, würde "seine Aufführung das katholische Empfinden aufs Schwerste verletzen und den religiösen Frieden stören". Münchens Katholiken drohten gar mit "unabsehbaren Unzuträglichkeiten", was immer das heißen mochte.

Nicht nur der Film ist heute von gestern

Erst nach 20 Umschnitten und Kürzungen konnte der Film im Februar 1928 im damaligen Ufa-Palast am Zoo in Berlin "offiziell" uraufgeführt werden. Im Kino gab es Ovationen, draußen hielten die Proteste an. Weitere erhebliche Veränderungen folgten. Bald begann mit den 1930er-Jahren das Tonfilm-Zeitalter. Der verstümmelte Film geriet in Vergessenheit.

Vor diesem Hintergrund ist es eine kleine cineastisch-kirchengeschichtliche Sensation, dass es Filmarchivaren im Berliner Bundesarchiv pünktlich zu Beginn des Reformationsjubiläumsjahrs gelungen ist, die Originalfassung in mühevoller Arbeit an den Zensurprotokollen entlang wiederherzustellen.

Unterschiedliche Fassungen, divergierende Szenenfolgen und unterschiedliche Kameraperspektiven (damals wurde aus kopiertechnischen Gründen immer mit zwei Kameras nebeneinander aufgenommen) forderten Können und Wissen der Restauratoren heraus. Ein kostspieliges Unterfangen im knapp sechsstelligen Bereich. Für die Rekonstruktion des Films standen im Bundesarchiv aufbewahrte Kopien aus dem Landeskirchlichen Archiv der bayerischen Landeskirche und aus dem ehemaligen Staatlichen Filmarchiv der DDR sowie des Deutschen Filminstituts Frankfurt und des Nationalen Filmarchivs der Niederlande zur Verfügung.

Jede Zeit schafft sich ihre Lutherbilder

Ziemlich genau 90 Jahre nach der ersten Berliner Premiere wurde nun die restaurierte Rekonstruktion der Originalfassung in der Berliner Passionskirche erneut "uraufgeführt" – mit Livebegleitung am Klavier durch den Stummfilm-Musiker Stephan Graf von Bothmer.

Und in ökumenischer Eintracht waren sich der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen und der katholische Filmexperte Professor Reinhold Zwick bei einem Filmgespräch zur Premiere darüber einig, dass nicht nur der Film heute von gestern ist, sondern auch der konfessionelle Streit darüber.

Jede Zeit konstruiert sich ihre eigenen Lutherbilder, weiß der evangelische Theologe ­Claussen – ob nun "Luther als Wittenbergische Nachtigall, als Eislebener christlicher Ritter oder eben als die mächtige Eiche deutschen Stammes". Man müsse den Stummfilm als "protestantisch-nationalkonservatives Zeitdokument der Weimarer Republik" verstehen, so Claussen. Heute betonen Theologie und Kirche vor allem den europäischen Kontext von Luther und der Reformation.

"Das Leben in und um Luther wird in einer religiösen Revue sichtbar gemacht (...). Im Vordergrund steht die Filmfigur Luther, die Idee der Reformation wird fast mit Willkür verdrängt", schrieb nach der Premiere 1928 der Kritiker Leo Hirsch im Berliner Tagblatt. Hirsch: "Während der Ablasshandel nur Anstoß, höchstens Anlass der Revolte Luthers war, erscheint er hier als Ursache, und das ist selbst (...) für eine Revue eine nicht stichhaltige Motivierung."

Die Reduzierung der Reformation auf das Ablassthema kritisierten schon damals auch evangelische Stimmen. Doch in der karikierend-diffamierenden Darstellung der katholischen Kirche, an der sich damals der Streit entzündete, hat der Film auch seine stärkste Szene.

Von "Luther" zu "Jud Süß"

Kaum in Rom angekommen, werden dem Augustiner-Eremitenmönch Martinus die Augen geöffnet über den wahren Zustand der angeblich heiligen katholischen Kirche. Auf der großen Treppe der Ewigen Stadt rutschen die Wallfahrer auf Knien die Stufen hinauf. Päpstliche Soldaten drängen sie rücksichtslos zur Seite. Von oben ergießt sich eine Flut von kirchlichen Würdenträgern in Begleitung junger Mädchen, von Nonnen und feisten Mönchen die Treppe herab. Dann erscheint der Papst – auf einem Thron mit Pfauenfedern.

"Das ist rhetorisch eine Glanzleistung, so antikatholisch die Propaganda auch ist, aber visuell ist es toll", sagt der evangelische Filmexperte Karsten Visarius (Frankfurt). Für ihn ist es ein Highlight des Stummfilms von 1927. Eine Szene mit großem Statisten-Aufwand, die an die berühmte Treppe von Odessa aus Sergej Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" (1925) erinnert.

Luthers 95 Thesen verbreiten sich in Windeseile im deutschen Land. Zwischentext im Film: Dem römischen Gänsekiel werde Luther schon die deutsche Adlerfeder entgegenhalten! Und später: "So gibt es doch etwas, das stärker ist als Rom und alle Päpste: das deutsche Gewissen!"

Der deutsch-nationale Zungenschlag ist kein Zufall. Nach der Niederlage des protestantisch dominierten Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg litten die Protestanten unter ihrem Bedeutungsverlust. Nicht wenige sahen in der Weimarer Republik, in der die katholische Zentrumspartei eine tragende Rolle spielte, eine finstere Verschwörung am Werk – mit dem Ziel, die Heimat des Refomators Luther zu rekatholisieren.

"Luther hätte den Film abgelehnt"

Auftraggeber des Films war damals die "Luther-Filmdenkmal. Zentralstelle für die Schaffung eines Lutherfilms", ein privater Verein im Dunstkreis des "Evangelischen Bunds". Der Verein sammelte in Gemeinden, warb mit Flugblättern beim evangelischen Frauenbund und wohlhabenden protestantischen Adeligen um Spenden: "Sie wissen, dass Rom die größten Anstrengungen macht, um Deutschland, das Land der Reformation, wieder zu erobern", hieß es da beispielsweise.

Gedreht wurde in den UFA Studios, Berlin. Die Produktionsgesellschaft Cob-Film übernahm auch den Verleih des Films. Für den Schriftsteller Hans Kyser (1882-1940) war es die erste Regiearbeit. Es sollte seine einzige bleiben. Seine Reputation als Drehbuchautor erlangte Kyser unter anderem durch die Drehbuchvorlage zur weltberühmten "Faust"-Verfilmung in der Regie von Friedrich Wilhelm Murnau (1926).

Kyser setzte auf große Posen für großes Kino: Der Reformator zieht zum Ende des Films von der Wartburg kommend sogar eine hell glänzende Ritterrüstung an, um die religiösen Eiferer um Andreas Rudolf Bodenstein, genannt Karlstadt, von Kirchenplünderungen und Bilderstürmerei abzuhalten.

Traurige historische Pointe: Eugen Klöpfer (1886-1950 ), Hauptdarsteller und seit 1937 ­NSDAP-Mitglied, stand im Krieg auf Hitlers "Gottbegnadeten"-Liste. Als privilegierter Künstler spielte er auch im Hetzfilm "Jud Süß" (1940) mit. Den Karlstadt spielte im Lutherfilm von 1927 der jüdische Schauspieler Hermann Vallentin (1872-1945). Seine Film- und Bühnenkarriere endete jäh mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Er konnte zwar über die Tschechoslowakei und die Schweiz nach Palästina fliehen, doch Engagements fand er als deutscher Schauspieler, der nicht hebräisch sprach, nie wieder.

Luther selbst hätte wohl keinen Gefallen an dem Luther-Epos von 1927 gefunden, meint der evangelische Filmexperte Visarius: "Der Film verklärt die Hauptfigur zu einem Helden und Heiligen. Luther hat diese Art der Verehrung abgelehnt."

Was also anfangen mit dem neuen alten Luther-Stummfilm? Der kirchliche Kulturbeauftragte Claussen empfiehlt aufgeklärte Gelassenheit. Mit der lasse sich das Werk vergnüglich betrachten. Man müsse nur danach die Bilder wieder aus den Kopf kriegen, "das diskutieren und nicht einfach konsumieren"

Im Reformationsjahr 2017 ist der Luther-Stummfilm nun in deutschen Kinos und Kirchen zu sehen. Um Bayern, von wo einst der Konfessionszoff um den Film seinen Ausgang nahm, macht die Lutherfilm-Tournee des Stummfilmmusikers Stephan Graf von Bothmer derzeit noch weitgehend einen Bogen. Bothmer signalisiert allerdings, dass er "bei Interesse und Anfrage" durchaus bereit wäre, seinen Tourneeplan mit bayrischen Kirchengemeinden und Kinos zu verlängern. Oder man lässt sich den neuen alten Luther-Film ganz einfach als DVD direkt vom Berliner Bundesfilmarchiv zuschicken.

 

TERMINE unter stummfilmkonzerte.de (Veranstaltungen / Luther)
INFO beim Berliner Filmarchiv des deutschen Bundesarchivs

Film- und DVD-Verleihbedingungen des Bundesarchivs : Bei einer Filmlaufzeit von 112 Minuten und Kosten von 0,20 Euro pro Minute bei Videomaterial ist inklusive Versandkosten mit gut 30 Euro für die Ausleihe zu rechnen. Ein DVD-Kauf ist nicht möglich.

Luther zum Lesen: Unsere Sonderausgabe des THEMA-Magazins "Martin Luther" beleuchtet den Reformator und seine Wegbegleiter. Hier geht es zum THEMA-Magazin.