Wie man ein Theater leerpredigt

Das ist eine Reisewarnung: Sie brauchen nicht nach Stuttgart zu fahren, um im dortigen Schauspiel "Das 1. Evangelium" zu sehen. Das Stück lehnt sich an die gleichnamige Bibelverfilmung des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1964 an und drehte diese gewaltig durch den Fleischwolf. Die Idee: Für den Kinofilm "I want to believe" ("Ich möchte glauben") begleitet ein Kamerateam das Leben Jesu von der Geburt bis zur Kreuzigung.

Die gedrehten Szenen werden auf drei Leinwänden gezeigt. Die Bühne dreht sich wie ein Karussell, so kommen ständig neue Szenen ins Bild: ein Wohnwagen, ein Psychiatriezimmer und eine "Paradies"-Bar. Doch die Aufführung schmeckt wie ein Cocktail, in den der Barmixer einfach mal alles reingeworfen hat, was gerade da war: Klamauk und Wirrsal, ein Cowboy, ein Superman, ein Priester, eine Gottesmutter und Männer in Ku-Klux-Klan-Kutte, dazu Weihrauch und Bachs Matthäus-Passion.

Jesus steht im Bademantel und schreit

Eine Handlung ist kaum auszumachen, stattdessen gibt es lose miteinander verbundene Ideen. Manchmal werden Sinnsprüche eingeblendet ("Religion ist Kopfkino") oder Fragen ("Was glaubst du?"). Die Bühne dreht sich, der Blick findet keine Ruhe. Glauben möchte hier niemand. Gezeigt wird das Evangelium des Trashs.

Jesus wird von Julischka Eichel gespielt. Sie spricht mit verschrobener Grammatik Texte der Bergpredigt. Die Bibel kommt ausführlich zu Wort, aber die Worte stehen ohne Sinn im Raum. "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist", schreit Jesus im Bademantel, wieder und wieder, wie von Sinnen, untermalt von Rockmusik. Alter Regisseur-Trick: Wenn einem nichts mehr einfällt, zieht man einfach die Regler hoch und schockt die Zuschauer mit Lautstärke. Während man noch nachdenkt, ob man an dem Stück irgendetwas anregend oder es einfach nur bescheuert findet, klappen die Türen: Die ersten Zuschauer verlassen den Saal. Die Sitznachbarin schaut auf die Uhr. Eine Pause würde jetzt guttun, aber es gibt keine. Das Stück soll zwei Stunden und 20 Minuten gehen, doch es dauert eine Ewigkeit. Tür auf, Tür zu, die nächsten Zuschauer gehen.

"Es ist Zeit, Gott beiseitezulegen"

Das Lied "Faith/Void" (Glauben/Leere) des US-Sängers Bill Callahan wird eingespielt: "Es ist Zeit, Gott beiseitezulegen", heißt es darin. "Dies ist das Ende des Glaubens." Der Priester zerfleddert und zerreißt sein Liederbuch, die Bühne dreht sich weiter. Eine Quäl-Vorstellung: nicht witzig, nicht erkenntnisfördernd, nicht einmal originell. Alle paar Minuten klappt die Tür, und wieder sind ein paar frustrierte Zuschauer gegangen.

Paul Grill spielt den Regisseur des Stücks. Der gängelt seine Schauspieler, lobt sie nur, um sie danach umso mehr fertigzumachen. Der Regisseur als Psychopath in Unterhose, der das Kreuz schließlich selbst auf sich nimmt – soll das ein Selbstbildnis sein? Scheint so. In der Ankündigung heißt es, das Stück handle vom "Verlust des Glaubens und vom Leben des Künstlers als Schmerzensmann". Der Priester sitzt inzwischen nackig im Psychiatriezimmer. Wieder haben manche Zuschauer genug gesehen. Links klappt die Tür, rechts klappt die Tür, und man beginnt zu glauben, dass die fliehenden Besucher Teil der Inszenierung sind.

Wer bleibt, erlebt einen Pilatus als Witzfigur ("Ich mach’ drei Kreuze, wenn das vorbei ist") und mit Sprachfehler, ihm verspringen ständig die Silben. Die Sitznachbarin schaut schon wieder auf die Uhr, und wieder klappen die Türen. Regisseur Kay Voges kann mit dem Stoff sichtbar wenig anfangen. So predigt er mit pseudophilosophischen Betrachtungen das Theater leer. Während die einen Zuschauer noch Beifall spenden, sind die anderen schon längst auf dem Weg zum Ausgang.

 

"Das 1. Evangelium", Schauspiel Stuttgart, Regie: Kay Voges. Internet: www.schauspiel-stuttgart.de

Szenenfoto aus »Das 1. Evangelium« in Stuttgart.
Szenenfoto aus »Das 1. Evangelium« in Stuttgart.