Delphi war immer schon heiliger Boden. Bienen bauten aus Wachs und Federn einen der ersten Tempel, erzählt die Sage. Tatsächlich sicherten Archäologen Spuren einer sehr alten Kultstätte; sie fanden die Darstellung einer nackten Seherin, die mit gespreizten Beinen auf einem Dreifuß sitzt. Dass hier vor 3500 Jahren die Erdgöttin Gaia verehrt wurde, erhärten seriöse Überlieferungen aus der Antike.

Die alten Sagen erzählen noch mehr. Von den äußersten Enden der Erde ließ der Göttervater Zeus einmal zwei Adler fliegen. Wo sie sich begegneten, sollte der Mittelpunkt der Erde sein. Die beiden Adler trafen sich über den schroffen Felswänden von Delphi. Seither signalisierte im unterirdischen Allerheiligsten des Apollo-Tempels ein klobiger, zylinderförmiger Stein: Hier ist der Nabel der Welt.

Ziegen und göttliche Inspiration

Dass sich um diesen Platz ein dichtes Geflecht uralter Mythen rankt, wird jeder selbstverständlich finden, der einmal aus den wildzerklüfteten Schluchten des Parnass in das enge Felsental von Delphi hinaufgewandert ist. Der Weg geht durch düstere Eukalyptuswäldchen und silberne Olivenhaine. "In einer Felsenschlucht auf halber Höhe des Berges befindet sich auf einer kleinen Ebene eine tiefe Erdöffnung", notierte der römische Geschichtsschreiber Justin, "deshalb erschallt das Echo von Menschenstimmen oder Posaunen vielfach verstärkt wider, als ob die Felsen einander antworten. Von dort dringt ein kalter Hauch herauf, der die Seele der Seherinnen erfüllt und sie zwingt, den Fragenden gottbegeistert Antworten zu geben."

Doch die Griechen mussten das Orakel erst einmal entdecken, das ihnen der Lichtgott Apollo geschenkt hatte. Dass sie die Gottesgabe überhaupt zu nutzen vermochten, verdankten sie keiner Offenbarung vom Olymp, sondern – ein paar vorwitzigen Ziegen. Sie sollen eine Öffnung im Boden entdeckt haben, dort, wo später das Allerheiligste des Apollo-Tempels stand. "Als sie sich der Öffnung näherten und sich vorbeugten, beobachtete man, dass sie von einem Schwindelgefühl erfasst wurden, eigenartig umhertaumelten und ungewöhnliche Laute ausstießen", notierte der Geschichtsschreiber Diodor. "Schließlich schienen Tiere wie Menschen von der göttlichen Inspiration erfasst zu sein, und der Hirte hatte tatsächlich durch die aus dem Boden steigenden Dämpfe die Fähigkeit erlangt, die Zukunft vorauszusagen."

Informationen aus der Unterwelt

Natürlich strömten die Neugierigen bald in Scharen zu der Stätte des Wunders. Hirten und Landleute bezogen Posten am Rand des Erdspalts und gaben sich gegenseitig die empfangenen Orakel weiter. Als jemand in den Abgrund stürzte und – glaubt man Diodor – nicht wiederkehrte, engagierte man eine Prophetin und baute ihr eine Apparatur mit drei Stützen zusammen; so konnte sie sich gefahrlos über den Erdspalt beugen und die Informationen aus der Unterwelt weitergeben.

Später, als Delphi eine viel besuchte Tempelstadt geworden war und Apollo die Erdgöttin als Herr des Orakels abgelöst hatte, saß die Prophetin im untersten Raum eines prächtig ausgestatteten Heiligtums. Bevor der Ratsuchende die Seherin in Anspruch nehmen konnte, musste er eine Reihe vorbereitender Riten absolvieren – zuallererst das Reinigungsbad an der Quelle der Nymphe Kastalia, Symbol für einen innerseelischen Vorgang. Ein Opfer schloss sich an, unerlässlich, um zu erfahren, ob der Tag günstig gewählt und Apollo auskunftsfreudig war. Ließ man den Ratsuchenden jedoch zum Allerheiligsten vor, dann nur unter der Begleitung von "Propheten" – von der Gottheit inspirierte Männer. Dort saß die Pythia in einer Grube, durch einen Vorhang vor neugierigen Blicken geschützt – und sprach mit Vorliebe in Rätseln, wie eine stolze Dame, die sich nicht in die Karten schauen lässt. Das prominenteste Opfer solch undurchsichtiger Orakelsprüche wurde der steinreiche Lyderkönig Krösus. Er hatte gefragt, ob er gegen die Perser in den Krieg ziehen solle, und die Pythia hatte ihm prophezeit, er werde ein großes Reich zerstören. Krösos wagte den Feldzug – und ruinierte, wie wir wissen, sein eigenes Imperium.

Was steckte hinter dem Orakel von Delphi?

Die Ratschläge des Orakels waren nicht nur häufig dunkel und missverständlich. Auch moralisch waren sie nicht immer einwandfrei, obwohl ein Gott hinter ihnen stand. Thyestes, König von Mykene und Onkel des berühmten Agamemnon, verließ Delphi mit der skandalösen Weisung, mit seiner eigenen Tochter einen Sohn zu zeugen. Es war Nacht, als er ihr Gewalt antat, und sie erkannte ihn nicht. Jahre später gestand er ihr das Verbrechen, und sie beging Selbstmord.

Was steckte hinter dem Orakel von Delphi? Nur eine geschickte Inszenierung erfinderischer Priester? Gewiss bedeutete die Kontrolle über die mit wertvollen Weihegaben angefüllte Tempelstadt wirtschaftliche Macht. Aber Betrug? Ein noch so gekonntes Täuschungsmanöver lässt sich nicht über ein Jahrtausend hinweg durchhalten, ohne dass ein Beteiligter plaudert oder jemand aus dem Publikum etwas merkt.

Entdeckungsreise auf den Spuren griechischer Religiosität

Woher bezog aber dann die Pythia ihre oft genug verblüffende Weisheit? Was war das für ein geheimnisvoller "Hauch", der aus der Unterwelt aufstieg und die Seherin inspirierte? Einen Erdspalt, aus dem ein unterirdisches Gas hätte strömen können, haben die Archäologen im Tempel nicht gefunden. Eine alte Überlieferung will wissen, das Wasser einer Quelle sei unterirdisch in den Apollo-Tempel geflossen und habe durch seine besondere Zusammensetzung die Pythia inspiriert.

Delphi ist immer eine Entdeckungsreise auf den Spuren griechischer Religiosität. Und diese muss entschieden mehr gewesen sein als dumpfer Aberglaube. Die rätselhaften Orakelsprüche bezeugen die Größe dieser Religion: Die Götter sind letztlich nicht verfügbar. Sie lassen sich weder durch großzügige Opfer kaufen noch durch moralische Leistungen beeindrucken. Denn sogar über den Göttern steht ein Schicksal.