Das Spiel vom Oberammergauer Passionsgelöbnis
Der Himmel meint es mal wieder gut, mit dem Wetter, dem Spielleiter, mit Oberammergau als Ganzem und seinem Freilichttheater im Besonderen. Das war nicht immer so. Als der ausgewiesene Theatermensch und Ur-Oberammergauer Christian Stückl 1990 anfing, die Passionsspiele und damit auch deren Ursprungsgeschichte "Die Pest" zu inszenieren, hat er die über dreihundertjährige Vorlage dermaßen entrümpelt und gründlich durchgelüftet, dass ihm damals eine breite Feindesfront Hassbotschaften auf die Hauswand schmierte und ihn zum Teufel jagen wollte.
Der spielt ja bei denen, die die Bibel wörtlich auslegen, sozusagen traditionell schon immer eine große Rolle. Wie im Pestspiel, das jeweils ein Jahr vor dem Passionsspiel aufgeführt wird. Da geht es um den Tagelöhner Kaspar Schisler, der sich schon zwei lange Jahre außerhalb seines Heimatdorfs, "hinter dem Berg", verdingen muss, wo der Dreißigjährige Krieg wütet und mit ihm die Pest grassiert. Als der infizierte Schisler aus Sehnsucht und Liebe zu Frau und Kindern heimkehrt, ist die Hölle los. Bisher war man von der Seuche verschont geblieben. Aber nun brachte der Tagelöhner, so geht die längst nicht verbürgte Geschichte, "die Krankheit ins Dorf und damit über 84 Menschen den Tod". Den bigotten Oberammergauern galt das als "Strafe Gottes" für die, die sich von Gott abgewandt hatten. Bis es in der höchsten Not zum Gelübde am Kreuz kommt, alle zehn Jahre die Passion zu verkünden. Das geschah tatsächlich 1633. Seitdem soll es keine Pesttoten mehr in Oberammergau gegeben haben.
Nur Einheimische dürfen mitmachen
Christian Stückl durfte 1990 weitermachen. Und hat es geschafft. Das Spiel wurde entschlackt, der Antijudaismus so gut es ging ausgedünnt und ganz Oberammergau zum Mitmachen motiviert. Ohne Letztteres würde es auch gar nicht funktionieren, denn die Grundbedingung bei Passions- und Pestspiel ist, dass nur "echte" Einheimische, möglichst mit Oberammergauer Stammbaum, mitmachen dürfen. Wobei selbst diese eiserne Regel wegen der bombastischen Bühnenpräsenz von Stückls Inszenierungen hin und wieder gelockert wird. Jetzt dürfen auch mal Oberammergauer, die wenigstens zwanzig Jahre am Ort beheimatet sind, etwas beitragen. Inzwischen wirkt ja bei den Passionsspielen, inklusive Orchester und Chor, Technik und Werkstätten und was sonst noch alles nötig ist, die halbe Bevölkerung mit, rund zweieinhalbtausend. Bei der "Pest" sind es auf und hinter der Bühne einhundertfünfzig.
Das Pestvorspiel ist natürlich auch gut für Oberammergaus Touristenbilanz, doch eigentlich handelt es sich um eine Art Testlauf. Die Darsteller sollen sich für das Passionsspiel "warm laufen". Rochus Rückel zum Beispiel, der 23-jährige Student der Luft- und Raumfahrttechnik, spielt die Rolle des sozial geächteten Totengräbers dermaßen authentisch und professionell, dass er – sollte es sie je gegeben haben – alle Zweifel ausräumt, ob er nächstes Jahr die Hauptrolle des Jesus stemmen wird.
Sieben Wochen Proben
Bis auf das kongeniale Oberammergauer Theater-Triumvirat aus Spielleiter Christian Stückl, Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier sowie Komponisten-Dirigent Markus Zwink sind ja alle, wirklich alle Beteiligten Laien. Quer durch die Generationen und religionsübergreifend. Spielleiter Stückl hat die Rolle des Tagelöhner-Sohns Vitus mit dem begabten 19-jährigen Schüler Cengiz Görür besetzt. Er ist muslimischer Oberammergauer in der dritten Generation und wird 2020 einen der beiden Judasse geben.
Seine Mutter im Pestspiel ist von Beruf Personalerin, der Bürgermeister eigentlich Anlagenmechaniker, dessen Tochter im wirklichen Leben Bankkauffrau, der Pestvogt Berufsberater, der eitle Geldsack Diplom-Psychologe und der Pfarrer Geologe. Sieben Wochen Probenzeit, das ist für Laien nicht gerade viel. Dafür hat manch einer schon Sonder- oder seinen Jahresurlaub genommen.
Wirtschaftsflüchtlinge, Außenseiter, manipulierbare Kleingeister
Das Ergebnis überzeugt: mit heiligem Ernst und sinnlichem Vergnügen, manchmal fast schon holzschnittartig, aber immer authentisch, nie plump. Und dabei wird es nicht langweilig, weil der hauptberuflich als Intendant und Regisseur des Münchner Volkstheaters ausgelastete Stückl sich in seinem Nebenjob alle zehn Jahre wieder neu mit Gott und der Tradition auseinandersetzt. Schließlich habe sich nicht nur die Welt massiv verändert, sondern auch er verändere sich mit den Jahren, meint der politische Überzeugungstäter.
Stoff zum Nachdenken bietet das frisch inszenierte Pestspiel genug: über Wirtschaftsflüchtlinge, Außenseiter, manipulierbare Kleingeister, männliche Verunsicherung. Und natürlich den lieben Gott. Man muss an diesem Theaterabend nicht berührt sein. Aber beeindruckt sein darf man schon.