Die Spiele sind uralt: Im Jahr 1633 hatten die Oberammergauer gelobt, alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Jesu aufzuführen, damit Gott sie von der Pest verschone.

Die Frage nach der Schicksalshaftigkeit einer Virus-Pandemie, die sogar das alte Pestgelübde der Oberammergauer ins Wanken bringt, nervt Stückl. "Die Passionsspiele haben eine 400-jährige Tradition", ruft der Spielleiter ins Telefon. Vor hundert Jahren seien die Aufführungen wegen des eben erst beendeten Ersten Weltkriegs von 1920 auf 1922 verschoben worden. "Es gehört zur Geschichte des Spiels, dass es unterbrochen wird", sagt Stückl.

Trotzdem beutelt die Absage 2020 auch den Intendanten, der dieses Jahr seine vierte Inszenierung auf die Bühne gebracht hätte. Am 16. Mai wäre Premiere gewesen, 500.000 Gäste wurden bis 4. Oktober erwartet. Vor gut zwei Wochen ordnete der Landrat die Verschiebung an. Es sei schon in der Zeit davor schwierig gewesen weiterzumachen, sagt Stückl.

Oberammergauer stehen vor Herausforderung

"Man hockt zu eng aufeinander im Theater, es gibt Ängste vor Ansteckung, man muss Durchhalteparolen ausgeben an die Darsteller, die selbst schon nicht mehr dran glauben." Als der Landrat schließlich die Reißleine gezogen habe, sei das befreiend gewesen. Nun fange man in knapp zwei Jahren eben von vorne an, denn "die Rollen bleiben nicht so lang im Körper".

Die rund 2.300 Darsteller und Darstellerinnen sind alle in Oberammergau geboren oder leben seit mindestens 20 Jahren dort. Anton Preisinger hätte den Pilatus gespielt - er ist Gastwirt im Ort. Normalerweise geht es bei ihm zu wie im Taubenschlag. 72 Gästebetten hat sein "Hotel zur Alten Post" und 250 Restaurantplätze. "Wir waren für die Passionsspiele ausgebucht, jetzt liegt bis Oktober keine einzige Reservierung vor", sagt er.

"Es gibt gerade nicht viel zu tun"

Wie Hunderttausende andere Unternehmen in Deutschland hat er Kurzarbeit für seine 44 Mitarbeiter angemeldet. Jene, die seit Januar das Team zusätzlich verstärkten, musste er entlassen. Er empfindet es als grotesk, dass die Spiele, die auf ein Pestgelübde zurückgehen, ausgerechnet wegen eines Virus ausfallen müssen. Zugleich begreife er beim Blick auf die Zustände in Italien plötzlich, "mit welcher Verzweiflung unsere Vorväter ihr Gelübde geleistet haben".

Auch für Eva Reiser sind die nächsten Monate unklar. Die Flugbegleiterin hatte sich - wie viele andere Dorfbewohner - sechs Monate unbezahlten Urlaub genommen, damit sie als Maria bei der Hälfte der 103 geplanten Aufführungen hätte spielen können. Jetzt verhandelt Reiser mit ihrem Arbeitgeber, ob sie früher zurückkommen kann. "Aber die Luftfahrt ist ja selbst sehr von der Krise betroffen. Es gibt gerade nicht viel zu tun", sagt sie.

Ein Dorf im Winterschlaf

Das Schlimmste an der Absage der Spiele sei gewesen, "dass wir uns nicht in den Arm nehmen konnten", erinnert sich die junge Frau. Jetzt liege das Dorf wie im Winterschlaf. Der Ausnahmezustand treffe jeden Einzelnen "radikal". Diese Erfahrung werde sich auf die Passionsspiele 2022 auswirken, glaubt Eva Reiser: "Jeder von uns erlebt eine Zeit, die er noch nie erlebt hat."

Wer eine Portion Optimismus nötig hat, bekommt sie bei Walter Rutz. Viel Zeit für Enttäuschung hatte der Geschäftsführer des Oberammergauer Eigenbetriebs Kultur auch nicht. Bis Ende Mai muss Rutz mit seinem Team 450.000 verkaufte Arrangements und Einzeltickets rückabwickeln. Gleichzeitig bringt er den Vorverkauf für 2022 in Schwung. "Die Passionsspiele in zwei Jahren werden ausverkauft sein", ist er überzeugt. Die meisten großen Partner wollten 40 Prozent ihrer Kontingente behalten. Selbst US-Reiseveranstalter, deren Land die meisten Corona-Infizierten weltweit verzeichnet, sagen laut Rutz: "Wir sind dabei!"

"Wird uns bei kommenden Spielen nützen"

Mit Aufräumarbeiten ist derzeit Carsten Lück beschäftigt. Der technische Leiter des Passionstheaters nutzt die virusbedingte Vollbremsung dafür, bis Mitte Juni Restarbeiten an der Kulisse zu erledigen und seinen Bestand zu katalogisieren.

"Das wird uns bei den kommenden Spielen nützen", sagt Lück, der sich dieses Jahr mit Gastwirt Preisinger die Rolle des Pilatus geteilt hätte. Zur Jahreswende 2021/22 will Lück die Werkstätten wieder aufsperren. "Eigentlich ist es nur ein kurzer Break, der uns vielleicht sogar ganz gut tut", sagt der Technikchef. Licht, Ton, Bühne, Kulisse: Die Ausstattung der Spiele sei im Laufe der Zeit immer aufwendiger geworden. "Es wäre dieses Mal enger geworden denn je." 

Ein historischer Vorgang bleibt die Verschiebung der Spiele in jedem Fall. Erst zweimal konnten die Oberammergauer ihr Gelübde wegen äußerer Umstände nicht einlösen, und erst dreimal wurden Aufführungen verschoben. Wie das ist, wenn man als Spielleiter auf diese Weise in die Dorfgeschichte eingeht? Christian Stückl schweigt einen Moment. "Ich hätte", sagt er dann mit leisem Grimm, "auf diese historische Erfahrung gern verzichtet."