Gabriele Zander hat im Augenblick viel Zeit, den spektakulären Blick aus ihrer Wohnung zu genießen: auf der einen Seite die Altstadt von Jerusalem mit der goldenen Kuppel des Felsendoms und auf der anderen Seite der Blick hinunter ins Jordantal und in die Judäische Wüste. An klaren Tagen kann man bis nach Amman in Jordanien und zum Toten Meer sehen.

Gabriele Zander ist Pfarrerin der evangelischen Himmelfahrtkirche in Jerusalem und als solche für Pilger und Touristen zuständig. Die Kirche und das zu ihr gehörige Auguste-Viktoria-Hospital stehen auf dem Ölberg auf einem der höchsten Punkte der Heiligen Stadt, 850 Meter über dem Meeresspiegel und fast 1300 Meter über dem Toten Meer. Sehr wuchtig und sehr wilhelminisch-deutsch sieht der 1910 eingeweihte Komplex aus.

Pilger und Touristen gibt es dieses Jahr keine. Schon Anfang März musste das Begegnungscafé des Pilgerzentrums schließen. Es wird auch von Mitarbeitern des Krankenhauses genutzt. Viele Patienten sind gefährdet: Das vom Lutherischen Weltbund getragene Auguste-Viktoria-Hospital hat Abteilungen für Krebs und Diabetes sowie eine Kinderabteilung. Vor allem palästinensische Patienten aus der Westbank werden hier versorgt.

Jerusalem lebt von Pilgern und Touristen

Auch viele Mitarbeiter der deutschen evangelischen Kirchen sind Palästinenser, die normalerweise nach Jerusalem pendeln. Nun sitzt Pfarrerin Zander alleine auf dem Ölberg fest. Ihr Ehemann ist Professor in Halle, er unterrichtet an der Martin-Luther-Universität Judaistik. Sie sei den Zustand einer Fernbeziehung gewohnt, sagt die Pfarrerin. In den Semesterferien ist ihr Mann immer in Jerusalem. Zu Beginn der Corona-Krise hat er Israel verlassen. Keiner weiß, wie lange der Zustand der Reisebeschränkungen noch andauern wird. Videotelefonieren hilft dabei, die Distanz zu überbrücken.

Jerusalem, Ölberg: Pfarrerin Gabriele Zander vor dem Komplex von Himmelfahrtkirche und Auguste-Viktoria-Hospital.
Der Ölberg hat bis heute eine ländliche Seite. Das Foto zeigt Pfarrerin Gabriele Zander vor dem Komplex von Himmelfahrtkirche und Auguste-Viktoria-Hospital.

Seit 2015 ist Zander (55) auf ihrer "Traumstelle" an der Himmelfahrtkirche in Jerusalem. Geboren wurde die hessen-nassauische Pfarrerin im bayerischen Kaufbeuren. Israel und der christlich-jüdische Dialog sind Lebensthemen für sie. Zander, die fließend Hebräisch spricht, hat unter anderem in Israel studiert und sich in Amsterdam am Juda Palache Institut mit rabbinischer Schriftauslegung beschäftigt.

Noch stehen nicht alle Details fest, aber wie in vielen anderen Gemeinden weltweit soll es auch am Karfreitag und an Ostern Video-Gottesdienste über Facebook und YouTube geben (www.evangelisch-in-jerusalem.org). Die Osternacht im benachbarten Garten der Villa des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft ist Tradition an der Himmelfahrtkirche.

Inzwischen ist auch das "Minyan"-Quorum verboten

Relativ lange hat die israelische Regierung öffentliche Gebete und Gottesdienste von bis zu zehn Menschen erlaubt. Das ist das Minimum ("Minyan"), das es braucht, um einen "gültigen" jüdischen Gottesdienst zu feiern. Nun ist auch das verboten.

Propst Rainer Stuhlmann wird daher zum Karfreitagsgottesdienst aus der evangelischen Erlöserkirche allein sein – vielleicht noch mit einer musikalischen Begleitung. Die Erlöserkirche liegt unten in der Altstadt, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Grabeskirche. Auch die ist geschlossen, was zuletzt im Februar 2018 der Fall war. Damals aber aus Protest gegen Pläne der Regierung Netanjahu, Grundstücke im Besitz christlicher Gemeinden mit einer neuen Steuer zu belegen und von den Kirchen verkauftes Land zu konfiszieren. Die Schließung des Pilger-Hotspots Grabeskirche schlug international Wellen, und die Pläne waren schnell wieder vom Tisch.

Einzige Ausnahme der Minyan-Aussetzung ist die Klagemauer, die die jüdischen Jerusalemer "Kotel" nennen. Dort, und nur dort dürfen sich für die vorgeschriebenen drei jüdischen Tagesgebete jeweils zehn Menschen versammeln, jeweils im Abstand von zehn Metern zueinander.

Viele Menschen haben keine Arbeit und kein Einkommen mehr

Aber nicht nur die Grabeskirche und alle anderen Kirchen sind in der Karzeit geschlossen – auch die Altstadt, die sonst nicht zuletzt von Pilgern und Touristen lebt, ist verödet.

Wie hart die Corona-Krise Israel bereits getroffen hat, beschreibt eine Zahl: Über eine Million der knapp neun Millionen Israelis seien arbeitslos, meldete die Tageszeitung Ha­Aretz schon Ende März. Zu einem früheren Zeitpunkt als Deutschland hat sich das Land in einen entschlossenen Shutdown begeben.

Fleur Hassan-Nahoum (46) ist eine von sieben stellvertretenden Bürgermeistern von Jerusalem. Die gebürtige Londonerin ist eine Art Außenministerin der Stadtverwaltung. "Jerusalems Wirtschaft hängt stark am Tourismus", sagt sie. Nun haben die Hotels Tausende Mitarbeiter heimgeschickt, die Andenkenläden in der Altstadt verkaufen nichts mehr, die Restaurants sind geschlossen. Die Stadt will mit einem Digitalisierungsprogramm helfen, mehr dieser Kleinbetriebe ins Internet zu bekommen, damit diese am Online-Geschäft teilnehmen. Überhaupt gehe es darum, die Wirtschaft der Stadt künftig weniger abhängig vom Tourismus zu machen. Jerusalem sei die ärmste Stadt Israels, sagt Hassan-Nahoum – und überaltert dazu. Besonders hart treffe es arme Familien mit behinderten Kindern, die nun keine Entlastung durch Schulen und Einrichtungen mehr hätten. Stadt und Staat haben mehrere Hilfsfonds aufgelegt. Und die Bürgermeisterin verzeichnet eine Welle der Nachbarschaftshilfe und der Solidarität.

Probleme machen die Frommen

Der israelische Gesundheitsminister ist ein Ultraorthodoxer. Man ist versucht zu sagen: ausgerechnet. Yaakov Litzman von der Partei Vereintes Torah-Judentum hat sich spätestens in dem Moment als groteske Fehlbesetzung erwiesen, als er auf eine Journalistenfrage zu den Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung in der Pessachzeit sagte: "Wir beten und hoffen, dass der Messias vor Pessach kommen wird, und damit die Zeit unserer Erlösung. Bald werden wir in Freiheit ausziehen. Der Messias wird kommen und uns von allen Problemen dieser Welt erlösen." Litzman meinte das nicht als frommen Witz.

In den Vierteln, wo Rabbi Litzmans ultraorthodoxe Klientel und Wählerschaft lebt, in Mea Shearim in Jerusalem beispielsweise, aber auch in Bnei Brak im Osten von Tel Aviv, verbreitet sich das Virus explosionsartig. Das liegt zum einen daran, dass die Menschen hier arm sind und eng aufeinander wohnen. Vor allem aber liegt es daran, dass sich viele "Haredim" (Fromme) den staatlich auferlegten Restriktionen verweigern.

Israelische Polizisten als Nazis beschimpft

Die Statistiken zeigen, dass sich rund ein Drittel aller israelischen Infizierten, bei denen die Gesundheitsbehörden die Übertragungswege nachvollziehen konnten, den Virus in einer Synagoge oder bei einer religiösen Veranstaltung eingefangen haben. Rund 9500 Infektionen zählt man in Israel inzwischen (Stand 8.4.), 72 Menschen sind an Covid-19 gestorben. Israelische Polizisten, die Gottesdienste, Hochzeiten und andere Großversammlungen in Synagogen und religiösen Schulen auflösten, wurden von wütenden Orthodoxen als Nazis beschimpft.

Während in der säkularen Bevölkerung die Wut über die uneinsichtigen Haredim wächst, verhängte die Regierung am Donnerstagabend vor Palmsonntag (2.4.) schließlich eine völlige Ausgangssperre für das ultra-orthodoxe Problemviertel Bnei Brak. Eine weitere Meldung dieses Tages: Litzman und seine Frau wurden positiv auf das Virus getestet. Seinem Gesundheitsminister hat das Land es zu verdanken, dass die Regierung daraufhin in Quarantäne musste – auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu oder der Chef des Geheimdiensts Mossad.

Digitaler Sederabend per Videokonferenz

Auch die Strengreligiösen ereilt in der Krise so etwas wie ein Digitalisierungsschub. Der Sederabend zum Auftakt der Feiertage (in diesem Jahr am 8. April) ist das jüdische Familienfest, zu dem man sich normalerweise gerne auch Freunde oder sogar Fremde einlädt. Für Verblüffung sorgte ein religiöses Gutachten prominenter sephardischer Rabbiner. Unter den besonderen Umständen, urteilten sie, sei es zulässig, sich per Videokonferenz zum Sederabend zu versammeln – wenn die Geräte vor Beginn der Feiertage angeschaltet und eingerichtet wurden. Unterzeichnet haben das Gutachten 14 orthodoxe Rabbiner – allesamt mit marokkanisch-jüdischem Hintergrund. Der prominenteste von ihnen ist Eliyahu Abergel, ehemals Vorsitzender des Jerusalemer Rabbinergerichts.

Die Corona-Krise bedeutet auch einen Shutdown zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Die Checkpoints sind zu. Doch Ramallah und Jerusalem kooperieren, weitgehend geräuschlos.

Viele Palästinenser verdienen ihr Geld in Israel – als Bauarbeiter, in der Landwirtschaft oder in Fabriken. Trotz schwerer Sicherheitsbedenken des israelischen Geheimdiensts dürfen für zunächst zwei Monate 70 000 von ihnen dauerhaft im Land bleiben, vermeldete ­HaAretz. Sie werden von ihren Arbeitgebern untergebracht und schicken weiter Geld nach Hause.

Lob vom UN-Sicherheitsrat

Der UN-Sicherheitsrat hat Israel und die palästinensische Autonomiebehörde für ihre Zusammenarbeit beim Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus gelobt. In der Westbank und im Gazastreifen sind – wie in der muslimischen Welt überhaupt – viele Menschen aber sehr fest davon überzeugt, dass Israel immer und an allem schuld ist. Nachrichten von friedlicher Koexistenz oder gar nachbarschaftlicher Kooperation bedrohen dieses Weltbild. Zu den üblichen Reflexen gehört es daher, dass sich auf das UN-Lob umgehend der palästinensische Premier Mohammed Shtayyeh auf Twitter meldete. Das wirklich Schlimme am Coronavirus, beeilte sich Shtayyeh zu betonen, seien die israelischen Besatzer, die zu verhindern versuchten, Palästinenser vor Corona zu schützen.

Aus dem eh abgeriegelten Gazastreifen fliegen weiterhin Raketen auf Israel. Eine starke Covid-Ausbreitung in dem überbevölkerten und verelendeten Gaza-Küstenstreifen gilt als Horrorszenario. Bislang weiß man nur von zwei Infektionsfällen, die sich in Pakistan angesteckt hatten.

Keine Krise für Witze und schwarzen Humor

Krisenzeiten sind aber auch Boomzeiten für Witze – gerade in Israel, wie der Theologe und Journalist Johannes Gerloff beobachtet, der seit 30 Jahren dort lebt.

Einer der Witze, die nun umgehen, geht so: "Ein Paar mit Atemschutzmasken kommt in die Postbank. Alle sind in Panik. Da rufen die beiden: ›Beruhigt euch. Ist nur ein Bankraub!‹" Ein anderer: "An einer der typischen Falafelbuden hängt ein Schild: ›An alle, die sich über den neuen Geschmack des Schwarmas und der Falafeln in der letzten Zeit beklagt haben: Macht euch keine Sorgen! Der Grund dafür ist, dass unsere Mitarbeiter sich die Hände waschen. Mit Gottes Hilfe wird der ursprüngliche Geschmack bald wieder zurückkehren.‹"

Auch über das Hochzeitsverbot wird gewitzelt: "Gibt es eine Möglichkeit, dass das Gesundheitsministerium Hochzeiten auch rückwirkend absagt?", fragt einer per Facebook, und schiebt nach: "Ich frage für einen Freund." Ein anderer meldet diese Beobachtung aus der häuslichen Isolierhaft: "Meine Frau und ich sind in Quarantäne. Nach zwei Tagen haben wir angefangen, miteinander zu reden. Sie ist eigentlich eine sehr nette Frau."