Zwischen fünf Minuten und einen Tag benötigt Susanne Talabardon, die meist mit ihrer "rechten Hand" Rebekka Denz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut, auf dem Friedhof unterwegs ist, um einen Grabstein zu entschlüsseln. "Jeder Friedhof hat seine eigene Grammatik", weiß die Wissenschaftlerin, die seit elf Jahren den Lehrstuhl in Bamberg innehat. Da wird aus einem jüdischen Vornamen "Jontov" schon mal ein fränkischer "Jondolf". Die hebräischen und deutschen Inschriften weisen zudem so manche Tücken auf – da ist zum einen die teils fehlerhafte Rechtschreibung, die den Sprachwissenschaftler zum Ratespielenden macht, zum anderen die besagte dialektale Färbung.

Doch die Judaistik-Fachleute haben schon einiges herausgefunden über die Menschen und die Familien, deren Mitglieder hier begraben liegen, manche sind extra zum Sterben aus dem Exil wieder in die alte Heimat gekommen. Da liegt beispielsweise Benjamin Kohn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Stadtrat, Feuerwehrkommandant und Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Baiersdorf, das zum Oberrabbinat des Markgrafentums Bayreuth gehörte.

"Seine Nachkommen sind in Theresienstadt gestorben", erklärt Horst Gemeinhardt, der den Friedhof wie seine Westentasche kennt. Der Heimatforscher zeigt auf das Symbol der segnenden Hände (Männer) neben dem der Krone (Frauen) auf den Grabsteinen einer Reihe, in der die Familie begraben wurde. Darunter auch Wolf Kohn, letzter Baiersdorfer Rabbiner. Ein anderer Stein ist durch eine Kanne gekrönt – das Zeichen der Leviten, die im Jerusalemer Tempel für die kultische Reinheit verantwortlich waren. Das Grab gehört Philipp Hirschkind, dem letzten koscheren Metzger der mittelfränkischen Kleinstadt.

Akribische Archivarbeit

Die Grabinschriften sind eine reichhaltige Quelle für biografische Informationen über die dort Bestatteten. Wo Leute wie Gemeinhardt nicht mehr weiter wissen, geht die Forschungsarbeit der Wissenschaftler los: "Wir wälzen Kirchenbücher, recherchieren in Ahnengalerien, übersetzen, fotografieren und vermessen die Steine", meint Rebecca Denz. Für eine fachgerechte Analyse und Instandhaltung reiche es aber nicht, wenn die Fachleute rangehen: Dazu müssen politisch Verantwortliche sowie Lokalhistoriker ebenso mit eingebunden werden. "Die Dokumentation des jüdischen Friedhofs Baiersdorf ist ein Paradebeispiel, wie eine solche Zusammenarbeit funktionieren kann", sagt Talabardon.

Der Baiersdorfer jüdische Friedhof sei jedenfalls etwas Besonderes: Er liegt nicht außerhalb, sondern mitten im Ort – weit und breit einzigartig. Und er beherbergt nicht nur die Gräber von Menschen aus Baiersdorf, sondern auch aus den nahen jüdischen Gemeinden von Bruck bis Forchheim. Und er ist ein Verbundfriedhof, der unterschiedliche Baustile und Biografien besitzt, wie dies auf christlichen Friedhöfen kaum der Fall ist: "Die werden in der Regel ja aufgelassen. Insofern besitzt der Freistaat Bayern mit seinen jüdischen Friedhöfen einen einzigartigen Kulturschatz", sagt Talabardon.

Maulbeeren statt Grabsteine

Dieser Friedhof wäre während der Nazi-Diktatur fast vernichtet worden. Einige Grabsteine wurden geplündert und als Baumaterialien für Häuser und Scheunen verwendet. Die Nazis wollten den Friedhof sogar auflösen und eine Maulbeerplantage darauf errichten. Ein paar wiedergefundene Steine liegen noch auf einem Haufen an der Friedhofsmauer. Ein anderer Grabstein, der von Rösla Lederer, wurde 2010 nach einem Hausabbruch wiederentdeckt und hat jetzt einen Ehrenplatz.

Gerne würden die Mitarbeiter der Bamberger Universität noch mehr Geschichten "heben" und erzählen – es fehlt allein an der Zeit und am Geld. Daher wollen sie vorerst die bald verwitterten Inschriften für die Nachwelt dokumentieren und das Areal weitgehend kartieren. Am Ende werden die Ergebnisse komplett der Kommune zur Verfügung gestellt und auch online zugänglich gemacht. Ob die Gemeinde Baiersdorf dann Infostelen gestaltet, Führungen anbietet oder Schülerinnen und Schülern sowie Studierenden aus der Region die Fakten zu weiteren Recherchen bereithält, das sei komplett deren Sache. "Uns ist wichtig, dass diese Arbeit einfach mal gemacht wurde", sagt Talabardon. Auch wenn sie und ihre Mitarbeiter letztlich von staatlicher Stelle bezahlt werden – die aufwendige Dokumentation des Baiersdorfer Friedhofs geht nicht ohne ein großes Quantum Idealismus.