Der große Platz vor dem Palais des Nations ist heute schwarz vor Menschen. Sie sitzen auf dem Boden unter einem hölzernen Riesenstuhl, einem Werk des Schweizer Künstlers Daniel Berset, manche haben gelb-blaue Fahnen dabei oder historische Tracht. Kinder im Sonntagsstaat sind unter ihnen und Steinalte, aus deren tief zerfurchtem Gesicht nur noch zwei kleine Äuglein hervorspitzen. 2000 Menschen warten auf »His Holiness«, den 14. Dalai Lama, der in der Stadt ein Tibet Bureau unterhält und nach einem Treffen mit UNO-Vertretern hier vor seinen Landsleuten sprechen wird.

Aus der Trambahn steigen und eben mal den Dalai Lama treffen: Allzu viele Städte machen solche Alltagserlebnisse nicht möglich. Seit hier anno 1863 die Geschichte des Internationalen Roten Kreuzes begann, ist der Ort zu einer kleinen Welthauptstadt geworden. Ein Jahr später wurde hier die »Genfer Konvention« unterzeichnet, hier nahm nach dem Ende des Ersten Weltkrieges der Völkerbund seinen Sitz, die Vorgängerorganisation der UNO. Der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge residiert ebenso am Genfer See wie die Welthandelsorganisation (WTO). Im Forschungszentrum der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) wurde das Internet erfunden. Die Atmosphäre ist international und das Preisniveau galaktisch, Genf ist nach Zürich die teuerste Stadt der Welt.

Doch die Wurzeln aller Genfer Glorie liegen tiefer. Zum ersten Mal nämlich hatte die Stadt schon im späteren 16. Jahrhundert die Rolle einer Welthauptstadt - der Welthauptstadt der Reformation, übernommen vom Wittenberg Martin Luthers, weil der klügste und konsequenteste Kopf der zweiten Reformatorengeneration, Jean Calvin, hier seinen Lebensmittelpunkt gefunden hatte. Die direkte Kausalkette von Calvin zum Dalai Lama muss man sich erdenken, denn im umtriebigen Alltag dieser Stadt ist ihre reformierte Vergangenheit nur noch ein kaum spürbares Grundrauschen.

Das Gebäude der Vereinten Nationen in Genf.
Das Gebäude der Vereinten Nationen in Genf.

Im Juli 1538 übernahm Calvin in Genf das theologische Ruder. Zunächst warfen die Stadt-oberen den jungen Hitzkopf wieder hochkant hinaus. Aber drei Jahre später konnte er seine Vorstellungen von einer reformierten Musterstadt rigoros verwirklichen: Calvin sorgte für die Trennung von geistlicher Gewalt und bürgerlicher Gerichtsbarkeit und führte das Prinzip der vier kirchlichen Ämter ein - Pastoren, Lehrer, Älteste und Diakone. Kirchen und Gottesdienstliturgie wurden von allem entschlackt, was man als zu äußerlich empfand: Bilder und Altäre, Messgesänge und Orgelmusik. Ein Konsistorium, das sich aus Laien und Pfarrern zusammensetzte, wurde zu einer Art Moralpolizei, die Woche für Woche Stadtbürger für ihre Verfehlungen hochnahm. Welches Kleinklima hier herrschte, erweist nicht zuletzt die Tatsache, dass hier allein zwischen 1542 und 1546 58 vermeintliche Hexen hingerichtet wurden. 1553 ereilte dieses Schicksal auch einen von Calvins ärgsten Kritikern, den spanischen Mediziner Michel Servet.

1559 gründete Calvin die Genfer Akademie, eine Hochschule für protestantische Lehrer und Pfarrer, die bald Studenten aus ganz Europa anzog. Das Haus heißt inzwischen »Collège Calvin« und besteht, frisch saniert, bis heute als Bildungsanstalt.

Das Kollegium wurde zur reformierten Kaderschmiede für den französischen Sprachraum. Aber auch die Protestanten in Schottland, den Niederlanden und Ungarn bezogen sich auf Genf. Dabei exportierte die Stadt nicht nur theologische Ideen, sondern Moral und Mentalität, etwa den sprichwörtlichen protestantischen Unternehmergeist, modernen Individualismus, Menschenrechte oder gesellschaftliche Transparenz - allesamt Werte, auf denen das westliche Staatensystem errichtet ist.

Das Reformationsdenkmal in Genf.
Das Reformationsdenkmal in Genf.

Genf ist reich, die Leuchtreklamen über den grauen Fassaden am Seeufer lassen keine materiellen Fantasien offen: Cartier, Rolex und Tissot prangen neben den Namen nobler Privatbanken oder denen von 5-Sterne-Hotels wie dem »Beau Rivage«. Eine schlichte Dreizimmerwohnung kann in dieser Stadt schon schnell mal 3000 Franken Miete pro Monat kosten. Kein Wunder, dass das Wahrzeichen der Stadt kein historisches Bauwerk, sondern eine 146 Meter hohe Wasserfontäne mit dem einzigen Zweck ist, an einem dekorativen Ort Energie in Ästhetik zu verplempern.

Eglise Protestante de Genève

Emmanuel Fuchs setzt einen erstaunlichen Kontrapunkt: »Wir sind arm!«. Fuchs spricht für die Eglise Protestante de Genève (Protestantische Kirche von Genf), deren gewählter Präsident der Stadtpfarrer zugleich ist. Anders als in den Kantonen der Deutschschweiz gilt im frankofonen Kanton Genève das laizistische Prinzip der strikten Trennung von Staat und Kirche. Gefängnisseelsorge, Krankenhäuser, Kulturpflege: Der Staat zahlt keinen müden Franken. Die Kirche finanziert sich nur aus eigenen Einnahmen und aus Spenden. »Es ist jedes Jahr eine Art Glaubensakt, einen Haushalt aufzustellen«, klagt Fuchs.

Dass es dennoch immer wieder irgendwie klappt - zuletzt mit einem Umfang von elf Millionen Franken - ist vor allem einem harten Kern von rund 10 000 Haushalten im ganzen Kanton zu verdanken, etwas weniger als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung, die auf freiwilliger Basis zuschießen. Dass darunter einige zahlungskräftige Geschäftsleute sind, etwa alteingesessene private Bankhäuser, ermöglicht der kleinen Kirche mit ihren gut 60 Pfarrern und Diakonen überhaupt nur das Überleben.

Protestant zu sein definiert sich hier nicht über eine amtliche Kirchenmitgliedschaft

Verlässliche Zahlen gibt es keine, außer der Gewissheit, dass die Calvinisten in Calvins Hochburg zu einer immer kleineren Minderheit schrumpfen. Das führt zu einem Abbruch an Kultur und Identität, über den sich auswärtige Besucher nur wundern können. Als die EKD anfragte, ob nicht ihr »Reformationstruck« von Genf aus die Reise durch Europa antreten könne, lehnte die Stadtverwaltung zunächst ab - kein Interesse. »Die verstehen nicht die Bedeutung Genfs für die Welt«, ärgert sich Fuchs: »Dabei müsste das Teil der Identität sein.« Nun haben Calvins Erben eine »Vision 2020« entwickelt, um der Abwärtsspirale zu entkommen. »Wir dürfen nicht schlafen, sonst sterben wir«, formuliert Fuchs drastisch. Kernpunkte könnten aus Calvins Zettelkasten stammen: Kinder- und Jugendarbeit, Glaubenskurse, Öffentlichkeit. Es höre sich vielleicht bitter an, sagt Fuchs, aber die Mutterstadt der Reformation sei heute Missionsgebiet.

Die Kathedrale St. Peter (französisch: Cathédrale Saint-Pierre) Genf.
Die Kathedrale St. Peter (französisch: Cathédrale Saint-Pierre) ist die nach dem Apostel Petrus benannte ehemalige Kathedrale des Bischofs von Genf und heutige reformierte Hauptkirche der Stadt Genf. Im 18. Jahrhundert wurde vor die Hauptfassade der gotischen Kirche dieser klassizistische Säulenportikus gesetzt.

Um eine Anmutung kirchlicher Relevanz zu bekommen, bedarf es in Genf einer Busfahrt in die Peripherie. Ein freudloser Betonklotz an der Route de Fernay aus den 1970ern war lange Zeit so etwas wie das Weltzentrum der Christenheit: Hier hatten, im Windschatten der UNO-Repräsentanz, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖKR) Quartier genommen, die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), der Reformierte Weltbund und der Lutherische Weltbund (LWB).

Der Betonklotz steht noch immer, doch die KEK zog nach Brüssel, um dort zu sein, wo in Europa die Musik spielt; die Reformierten dagegen gingen nach Hannover, um Geld zu sparen. Noch am Platz ist der Lutherische Weltbund mit seinen gut 70 Mitarbeitern, und in Büro Nummer 368 sitzt nun Anne Burghardt, Referentin für Ökumene und für das Reformationsjubiläum.

Die estnische Pfarrerin arbeitet seit 2013 hier, wohnt aber wie die meisten ihrer Kollegen nicht in Genf, sondern, nur wenige Kilometer westwärts, in Frankreich. Genf ist zu teuer. Überhaupt haben sie hier draußen wenig mit der Stadt zu tun: Alle internationalen Organisationen haben ihren Sitz am rive droite, rechts der Rhône, selbst der Flugplatz und der Bahnhof liegen in diesem Teil der Stadt.

Was ist protestantisch? »Zuallererst Zeuge Jesu zu sein - wie alle Christen. An die bedingungslose Liebe Gottes zu glauben, in der Freiheit Gottes zu leben, aber auch Verantwortung zu übernehmen.«

Emmanuel Fuchs, Präsident der Protestantischen Kirche von Genf

Die kirchliche Basis hat von weit abgelegenen kirchlichen Funktionsstellen oft eine schlechte Meinung, weil man darin Systeme zu sehen glaubt, die sich vor allem um sich selbst drehen. Doch tatsächlich tut es gerade den protestantischen Kirchen mit ihrer Gemeinde- und Landeskirchenfixiertheit sehr gut, über den Tellerrand zu schauen. Der deutsche Frust über den Abbruch der Volkskirchlichkeit, sagt Burghardt zum Beispiel, relativiere sich, wenn man das rasante Wachstum der Kirchen des Südens ansehe: Die lutherische Kirche im afrikanischen Malawi zum Beispiel wurde erst 1982 gegründet und hat heute schon über 100.000 Mitglieder. Auch in Tansania oder Äthiopien boomen die lutherischen Kirchen.

Dass alle wahrnehmen, dass sie irgendwie zusammengehören, von Malawi bis Norwegen, dafür sorgt der Lutherische Weltbund mit seiner Genfer Zentrale. Gegründet wurde er 1947 in Lund, und im Schlepptau des ÖRK landete der LWB in Genf, jener Stadt, die seit dem späten 19. Jahrhundert zum Zentrum von Diplomatie und Konfliktregelung geworden war. Die Gründer des Roten Kreuzes um Henry Dunant waren Genfer Protestanten, und US-Präsident Woodrow Wilson machte sich für Genf ausdrücklich wegen dessen calvinistischer Vergangenheit als Sitz des Völkerbunds stark. Genf hatte da seine einstige Funktion als »Zitadelle des Protestantismus« längst verloren, doch der mentale Nährboden aus Demokratie, Sozialfürsorge und Verantwortungsbewusstsein auf neutralem Boden wirkte nach.

Mythos Calvinismus

Den Mythos des längst verlorenen »calvinistischen Rom« pflegt das über 100 Meter lange Reformationsdenkmal im Parc des Bastions, dessen Grundstein am 400. Geburtstag Calvins anno 1909 gelegt wurde. Eine Hommage an Genfs reformatorische Geschichte ist auch das »Musée international de la Réforme« von 2005, das umfassendste und modernste Protestantismus-Museum in Europa.

In dem Museumspalais neben der Kathedrale Saint Pierre sprechen Luther und Calvin als Hologramme aus einem barocken Spiegel, die Gegenwart eines protestantischen Gottesdiensts ist mit einer Collage mehrerer gleichzeitig ablaufender Filme dargestellt. Zu den wunderbaren Kuriositäten gehört eine Luther-Statue des Bildhauers Paul Schoeni. Die Hand- und Fingerhaltung Luthers, spottet Museumsgründer Olivier Fatio, müsse man fast als Bestellung in einem italienischen Café ansehen: »Due Cappuccini!«

Der Etat des Museums liegt bei 4,1 Millionen Franken, was ungefähr 37 Prozent dessen entspricht, was die ganze protestantische Kirche Genfs zur Verfügung hat, die übrigens im gleichen Maison Mallet residiert. Ohne die üppige Unterstützung aus der Genfer Privatbankenwelt könnte das Museum keinen einzigen Tag lang betrieben werden.

Da schließt sich ein historischer Kreis: Denn Calvin hielt, anders als die Wittenberger Reformatoren um Martin Luther, verzinsliche Darlehen für den Aufbau eines Unternehmens für gerechtfertigt und schlug damit der Aufhebung des bis dato geltenden Zinsverbots eine Bresche. Eine kleine Verbeugung des großen Geldes vor dem Erbe der Reformation ist da nur angemessen.