Am Mainknie vor den Südtoren Schweinfurts liegen zwei Gemeinden mit einer großen Geschichte: Sennfeld und Gochsheim. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zählten sie seit dem frühen Mittelalter zu den "Kaiserlich unmittelbaren und Freien Reichsdörfern". Aus dieser Unabhängigkeit von Fürsten und Leibherren gewannen die Bewohner im Lauf der Jahrhunderte eine für die damaligen Zeiten ungewöhnliche Selbständigkeit und ein unerschütterliches Bewusstsein für Freiheit und politische Verantwortung. Selbst von Rückschlägen und Repressionen in ihrer Geschichte ließen sie sich nicht entmutigen. Vor diesem Hintergrund feiern sie seit 1649 jährlich wiederkehrend das "Große Friedensfest". Heute engagieren sich historisch interessierte Sennfelder dafür, den Gedenktag mit neuem Leben zu füllen. Richard Riess ist einer von ihnen und Herausgeber eines historischen Portraits und Sammelbandes über Sennfeld.

 

Herr Riess, seit 2016 sind die Friedensfeste in Sennfeld und Gochsheim Teil des Bundesweiten UNESCO-Verzeichnisses "Immaterielles Kulturerbe". Dafür hat sich eine Gruppe historisch begeisterter Sennfelder stark gemacht, zu der auch Sie gehören.

Richard Riess: Im Laufe der Jahre ist das "Große Friedensfest" von 1649 mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Sennfeld feierte stattdessen in der ersten Septemberwoche seine zweifellos weithin beliebte Kirchweih. Zu seinem 370. Jubiläum möchten wir nun die Bedeutung des "Großen Friedensfestes" neu ins Bewusstsein rücken und seine historische Einmaligkeit betonen. Durch das Gedenken dieses herausragenden Ereignisses halten wir die Erinnerung an die besondere Geschichte unserer Vorfahren, ihren Mut, ihre schicksalhaften Entscheidungen auch für künftige Generationen wach.

 

Auf welches Ereignis geht das Friedensfest zurück?

Riess: Genau genommen auf den sogenannten Westfälischen Frieden von Münster und Osnabrück, der in den Jahren 1648 und 1649 zwischen den Armeen der Protestanten und der Katholiken, Schweden, Frankreich und anderen europäischen Mächten in Münster und Osnabrück nach Jahren intensiver diplomatischer Verhandlungen geschlossen worden ist.

Dieser Friedensschluss gilt nach Meinung vieler Historiker heute als ein Modellfall von Friedensschlüssen überhaupt. Denn er wurde durch Verhandlungen erzielt und nicht durch Sieg und Niederlage.

Das ehemals Freie Reichsdorf Sennfeld seinerseits hatte Grund genug, den Frieden dankbar zu begrüßen. Es war bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs mehrmals zerstört worden. Am Ende standen nur noch drei Häuser, viele Menschen waren geflohen, ganze Familien ausgerottet. Kaiser Ferdinand II., dem Sennfeld und Gochsheim rechtlich unterstanden, hatte die beiden Dörfer 1635 aus finanziellen Nöten an den Fürstbischof von Würzburg verpfändet. So sind sie - zusätzlich zu den Kriegsfolgen - noch 14 Jahre lang durch Steuern ausgenommen, geplündert und in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt worden. Nach dem Westfälischen Frieden haben sich die Sennfelder und die Nachbarn in Gochsheim durch beharrliche Diplomatie die Unabhängigkeit zurückerkämpft. So konnten sie 1649 zum ersten Mal das Große Friedensfest begehen und den Wiederaufbau beginnen.

Höchst anschaulich lautete denn auch die Anweisung von Hans Jörg Nass, Reichsschultheiß der Reichsdorfschaft Sennfeld Anno Domini 1649 für dieses Fest:

"Fortan sollen der ewige Friede und gleichermaßen die Erstreitung und Einsetzung unserer vorzeitigen Rechte daselbst dankbar und gebührlich begangen werden mit Singen, Musizieren, Predigt und Tanz."

Mit der Einrichtung und alljährlichen Feier des Großen Friedensfestes von 1649 rücken die ehemals Freien Reichsdörfer Sennfeld und Gochsheim im Übrigen auch an die Seite von illustren großen Reichsstädten wie Augsburg, Nürnberg, Memmingen, aber auch von Provinzstädten wie Lyon, Reims und anderen mehr.

 

Warum ist diese Erinnerung so wichtig für die Menschen in Sennfeld?

Riess: Wenn wir den Begriff "Freies Reichsdorf" Sennfeld wie ein Paket öffnen, finden wir darin eine ganze Reihe lebenswichtiger Errungenschaften: Frieden zuallererst, aber auch Freiheit, Glauben, Treue, Gerechtigkeit und nicht zuletzt Engagement und Zivilcourage. Zudem wissen wir aus den Kirchenbüchern, dass es soziale Solidarität und Fürsorge für Schwächere und Notleidende in Sennfeld bereits weit vor Bismarcks Sozialgesetzen gab. Diese tief verwurzelten Werte, die im Grunde dem protestantischen Glauben unserer Vorfahren entstammten, sollten in der Tat in unserem Bewusstsein lebendig bleiben und nicht der Geschichtsvergessenheit anheimfallen, die in den Gesellschaften von heute weitverbreitet ist und offenbar unaufhaltsam zunimmt.

 

Aus welchem Grund setzen Sie sich persönlich dafür ein, dass die Geschichte des "Freien Reichsdorfs" auch noch Jahrhunderte später in Sennfeld erzählt wird?

Riess: Wer wir sind, hängt doch auch davon ab, woher wir kommen. Es ist gut zu wissen, was unsere Wurzeln sind und was uns von Kind an Halt gibt.

Angesichts der Entwicklungen, die die Gesellschaften in der globalen Welt heute in politischer und wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Hinsicht nehmen, ist es geradezu lebenswichtig und klug, die kommenden Generationen ins laufende Gespräch einzubeziehen und sie, wo immer es geht, daran zu erinnern, was unter ihre Herkunft, ihre innere Heimat, ihren biographischen Halt ausmacht.

Zukunft und Herkunft hängen eng zusammen. Denn Geschichte ist ja nicht tot. Sie lebt weiter in Überlieferung und Sprache, Glaube und Kultur.

 

Was bedeutete es im Mittelalter, ein Freies Reichsdorf zu sein? Und was können die Sennfelder heute noch von ihren Vorfahren lernen?

Riess: Schon im hohen Mittelalter, als die Dorfschaft Sennfeld aufgrund ihrer Verdienste in den Rang des "Kaiserlich unabhängigen und Freien Reichsdorfs" erhoben worden ist, bildeten die Sennfelder ein Gemeinwesen von aufgeschlossenen Bürgern und Bürgerinnen. So hörten sie bereits in den frühen 1520er Jahren von der reformatorischen Bewegung Martin Luthers in Wittenberg und ließen sich von ihr überzeugen, inspirieren und begeistern.

1540 schließlich, bereits zehn Jahre nach dem Augsburger Reichstag 1530 und der Verabschiedung des Augsburger Bekenntnisses "Confessio Augustana" durch die Protestantischen Stände, entschied die Dorfschaft einhellig, die Reformation einzuführen – allen Risiken und Gefahren für Hab und Gut, Leib und Leben zum Trotz.

Mit der Entscheidung für den Protestantismus entschieden sich die Sennfelder sozusagen auch für eine "protestantische Lebensform": den Mut, sich zur eigenen Geschichte als einer Quelle innerer und äußerer Kraft zu bekennen, die Herausforderungen der Gegenwart wachsam und weltoffen wahrzunehmen und mit Gottvertrauen, Zuversicht und Verantwortung der Zukunft entgegenzugehen.