Für den evangelischen Ortspfarrer Peter Sachi ist diese Passion eine Doppelpremiere: Obwohl er ein "Zuagroaster" ist, darf er im Chor mitsingen – "eine große Ehre", sagt der 63-Jährige. Dafür lässt sich der Theologe seit Aschermittwoch 2019 auch den ersten Bart seines Lebens wachsen. Für rund 70 Aufführungen ist Sachi im "hohen Bass" eingeteilt. Dazu kommt das kirchliche Begleitprogramm, das die evangelische Kreuzkirche und die Pfarrkirche St. Peter und Paul gemeinsam stemmen.

Die Passion ist nicht irgendein Theaterstück.

Sie ist ein monumentales Epos um die letzten Tage Jesu, die reine Spielzeit beträgt knapp fünfeinhalb Stunden. Das ist für Darsteller wie Zuschauer ein körperlicher und emotionaler Marathon. Wenn das Volk aus 900 Kehlen "Ans Kreuz mit ihm!" brüllt, wenn der Jesus-Darsteller 20 Minuten lang am vier Meter hohen Kreuz hängt, sorge das bei vielen Besucherinnen und Besucher für seelische Erschütterung, weiß Pfarrer Sachi.

"Wir öffnen deshalb in der Pause von 17 bis 20 Uhr unsere Gemeinderäume für Gespräche und Begegnungen", sagt der Seelsorger. Vor jeder Aufführung gibt es eine theologische Einführung vor und einen geistlichen Impuls hinter der Bühne. 16 Pfarrerinnen und Pfarrer und zehn Kantoren aus ganz Deutschland bereitet allein die evangelische Kirche mit einem zweitägigen Seminar Ende Januar auf ihren Passions-Einsatz vor.

"Wir haben aus allen Erdteilen Menschen mit ihren geistlichen Traditionen zu Besuch, die reformierte Ökumene der Welt", erklärt Sachi die akribische Vorbereitung.

Peter Sachi Pfarrer Oberammergau
Peter Sachi, Evangelischer Pfarrer in Oberammergau

Im Passionstheater wird derweil gesägt, gehämmert, genäht, geklebt: Das Bühnenbild wird komplett erneuert, eine strenge Tempelanlage ist Schauplatz des Geschehens. An den Wänden vor der Schneiderei hängen schon die 63 Schilde der künftigen Römer. Drinnen entstehen mithilfe von 500 Metern Schnittpapier über 2.000 Kostüme. 400 Quadratmeter türkischer Kelim, 1.200 Meter handbedruckter Stoff und sechs Kilometer Textil allein für die Gewänder des Volks verarbeiten die 14 Schneiderinnen mit flinken Fingern.

In der Flügelei nebenan wachsen aus Truthahnfedern mächtige Engelsschwingen für die biblischen Standbilder zwischen den Spielszenen. Viel Zeit ist nicht mehr: "Ende Februar muss alles fertig sein, denn ab 9. März werden drei Wochen lang die Fotos für den Bildband zum Spiel gemacht", erklärt Pressesprecher Frederik Mayet, der zum zweiten Mal die Rolle des Jesus spielt.

Seit Aschermittwoch wachsen die Haare, seit Oktober übt der 100-köpfige Chor, seit 7. Dezember proben die Schauspieler.

Der Tanker "Passion" ist längst auf Kurs, doch die Motoren stampfen in immer schnellerem Takt. Mitte Februar gibt es die ersten "Volksproben" auf der winterkalten Freiluftbühne. "Dann stehen plötzlich 900 Leute auf der Bühne", sagt Mayet, und man hört ihm an, dass dieser Moment eindrucksvoll ist. Ab April sind die ersten Durchlaufproben angesetzt, Mitte April kommen Chor und Orchester dazu. "Dann wird das Spiel zusammengebaut", erklärt der Jesus-Darsteller.

Am letzten April- und ersten Maiwochenende werde Tag und Nacht geprobt, denn am 8. und 9. Mai finden – erstmals in der Geschichte der Passion – Jugendtage statt. 8.000 junge Leute, vor allem aus Deutschland, aber auch aus Frankreich, Kanada und Südafrika, dürfen sich dann für kleines Geld die Probespiele der Passion ansehen. Denn der Traditionsabbruch der Kirchen trifft auch Oberammergau: Wer kommt in 20 oder 30 Jahren noch zur Passion?

Oberammergau Passionsspiele Kostüme Flügel
Bei der Arbeit in der "Flügelei" der Oberammergauer Passionsspiele

Mit den Jugendtagen will Spielleiter Christian Stückl eine neue Generation an die Spiele heranführen. "Für uns ist das schon die Premiere", sagt Frederik Mayet. Am 15. Mai schließlich folgt die eigentliche Generalprobe, bevor die Spiele am 16. Mai mit einem ökumenischen Gottesdienst von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx eröffnet werden.

Der Ernst, mit dem die Oberammergauer Laiendarsteller ihre Rollen studieren, begreifen, übersetzen und die Zeit, die sie dafür opfern, ist die faszinierende Seite der Passion. Die profane Seite ist der Wirtschaftsmotor, der Oberammergau und der ganzen Region fünf Monate lang gute Einnahmen beschert.

Wie bei anderen Großereignissen ziehen die Zimmerpreise auf das Kräftigste an, und jeder Imbiss rüstet sich, um an den Aufführungstagen rund 2.000 Besucher in der dreistündigen Pause zu verköstigen, die ihr Abendessen nicht gleich mit dem Übernachtungspaket gebucht haben.

5.200 Einwohner hat Oberammergau, 4.600 Zuschauer passen ins Passionstheater, die Hälfte davon kommt aus den USA, aus Großbritannien, Skandinavien und anderen Ländern. Um den Ausnahmezustand im Dorf zu bewältigen, sind zahlreiche Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter im Einsatz. Und weil sich seit den letzten Spielen 2010 die Weltlage drastisch verändert hat, ist dieses Mal ein ausgefeiltes Sicherheitskonzept in Kraft. Der Veranstaltungsbereich rund ums Theater ist für Fahrzeuge gesperrt, es wird Einlasskontrollen und Security geben. Das System funktioniere dank Shuttle-Bussen und Sonderfahrplan der Bahn reibungslos, sagt Mayet:

"20 Minuten nach Spielende sind alle weg."

Doch wenn die Besucher nachts um elf verschwinden, haben die Oberammergauer nur eine kurze Verschnaufpause: Lediglich Montag und Mittwoch sind spielfreie Tage. Die Doppelbesetzung der Hauptrollen und die verschiedenen Gruppen beim "Volk" entzerren die Einsätze. Dennoch ist es ein langer Spannungsbogen bis zum letzten Spieltag am 4. Oktober. Da gebe es auch mal Ärger und Stimmungstiefs, sagt Pfarrer Peter Sachi.

Trotzdem seien die Passionsspiele "ein Sammelort für die Menschen im Dorf". Vom Baby bis zum Greis spielen alle mit, in den Garderoben kämen die Generationen zusammen. "Die Integrationskraft des Spiels erstaunt mich immer wieder", sagt Sachi, der seine zweite Passion als Oberammergauer Ortspfarrer begleitet. Und wenn sich dann am 4. Oktober der Vorhang für die nächsten zehn Jahre schließt, "dann fließen Tränen". Seit 1634 ist das der Rhythmus von Oberammergau. Für Pfarrer Sachi ist es: ein Wunder.

Denn für die Darsteller des Passionsspiels gelten strenge Regeln: Nur wer in Oberammergau geboren oder seit mindestens 20 Jahren ansässig ist, bekommt das Spielrecht. Und wer davon Gebrauch macht, muss sich vom Zeitpunkt des "Barterlasses" die Haare wachsen lassen – bei den Männern auch den Bart.