Die Corona-Einschränkungen des öffentlichen Lebens im November treffen auch wieder Kinder und Jugendliche - auch wenn diesmal die Schulen und Kitas nach Möglichkeit offen bleiben sollen. Doch Freunde treffen, zusammen ins Kino gehen, herumhängen im Jugendtreff oder einfach gemeinsam spielen, all das geht im November nicht oder kaum.

Was das für Kinder und Jugendliche bedeutet, was das womöglich für langfristige Folgen haben kann und was Eltern dagegen tun können, erläutert Professor Marcel Romanos, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg.

Herr Romanos, belasten die aktuellen Corona-Einschränkungen Kinder und Jugendliche mehr als Erwachsene, oder einfach anders?

Romanos: Das kommt ganz darauf an. Es gibt Kinder, die sind durch die Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen belastet, keine Frage. Aber wir haben bei der ersten Welle im Frühjahr auch etwas anderes beobachtet, nämlich dass etliche Kinder Zeichen von Entlastung gezeigt haben.

Sie hatten deutlich weniger Schuldruck, weniger Verpflichtungen, weniger Freizeitstress. Das oft durchgetaktete Leben vieler Kinder ist für sie normalerweise durchaus belastend.

Jetzt bleiben Kitas und Schulen aber erst einmal geöffnet. Ist die jetzige Situation für Kinder also belastender als die Lage im Frühjahr?

Romanos: Was man sicher sagen kann: Wenn Kinder jetzt weiter zur Schule gehen und dort Leistungen erbringen müssen, der Schulalltag aber durch starke Regularien wie Maskenpflicht und weniger soziale Interaktionen geprägt ist, wird das für manche zur Belastung. Gerade für Kinder, die auch ohne Corona eher Probleme in der Schule haben.

Für Kinder mit vielen Ängsten, Depressionen oder sozialen Problemen sind solche Veränderungen des Alltags eine zusätzliche Hürde.

Welche Rolle spielt dabei das Alter? Also: Kommen kleine Kinder besser mit der Situation klar als etwa Jugendliche?

Romanos: Insgesamt kann man sagen, dass die Kinder den ersten Lockdown gut verkraftet haben - und wohl auch die aktuelle Situation gut durchhalten werden. Bei den Jugendlichen bin ich skeptischer.

Für Heranwachsende sind soziale Beziehungen außerhalb der Familie viel wichtiger als für Kinder bis ins Grundschulalter.

Im Sommer konnten die Jugendlichen sich nach den ersten Lockerungen draußen wieder treffen, das ist im Winter sicher anders und wird für sie belastender.

Wir sprechen gerade über Belastungen - sind damit handfeste psychische Probleme gemeint, die behandelt werden müssen?

Romanos: Nein. Das ist auch etwas, das mich in den vergangenen Wochen in der Berichterstattung gestört hat. Wenn Kinder und auch Jugendliche mal ein paar Wochen oder Monate mehr über WhatsApp, Skype oder Telefon mit ihren Freunden Kontakt haben, statt sie in echt zu treffen, heißt das noch lange nicht, dass wir jetzt eine "verlorene Generation" haben.

Kinder und Jugendliche empfinden die Situation teilweise zwar als belastend, aber deshalb haben sie nicht zwangsläufig bleibende psychische Schäden oder Probleme. Zwei Monate Lockdown bedeuten kein lebenslang erhöhtes Depressions-Risiko.

Eltern berichten aber, dass selbst bislang unauffällige Kinder regelrechte Zukunftsängste entwickeln. Warum?

Romanos: Ängste sind in bestimmten Entwicklungsphasen normal und nicht krankhaft - das gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu. Zum Beispiel haben die allermeisten Kleinkinder bei der Kita-Eingewöhnung Trennungsangst.

Wenn sie die Angst überwinden, weil sie merken, sie kommen auch ein paar Stunden ohne Mama oder Papa klar, profitieren sie ihr ganzes Leben lang davon. Wenn größere Kinder dann von einem Vulkanausbruch, Terrorangriff oder eben der Corona-Pandemie hören, ist es ganz normal, dass die Ängste haben und dazu Fragen stellen.

Und wie geht man dann gut damit um, wenn Kinder solche Ängste äußern und Fragen stellen?

Romanos: Der vermutlich häufigste Fehler, den Eltern oder aber auch Lehrer und Erzieher machen, ist, die Sorgen der Kinder nicht ernst zu nehmen oder abzutun. Es ist niemals der richtige Weg zu sagen: "Ach Quatsch, da musst Du dir keine Sorgen machen!"

Eltern sollten ihren Kindern vielmehr sagen, dass Ängste und Sorgen in Ordnung sind. Und sie sollten sie zu verstehen versuchen - also: woher kommen die Sorgen und Ängste? Oft sind es nur Missverständnisse, Informationen, die sie nicht richtig bewerten können - das muss man als Eltern "auflösen".

Ab wann werden solche Sorgen und Ängste pathologisch? Wann brauchen Kinder und Jugendliche professionelle Hilfe?

Romanos: Da gibt es verschiedene Anzeichen. Eines ist, wenn Ängste und Sorgen das "normale" Leben beeinflussen oder verhindern. Also, wenn sich Kinder etwa aus Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 gar nicht mehr aus dem Haus trauen - oder auch Angst davor haben, dass sich die Eltern beim Einkaufen anstecken und daher nicht wollen, wenn Mama oder Papa weggehen.

Ein anderes Anzeichen sind Änderungen des Verhaltens, der Gedanken oder Gefühle. Wenn mein Kind keinen Spaß mehr an Dingen hat, die ihm vorher viel Freude bereitet haben, wenn es aggressiver, ungeduldiger oder auch schweigsamer wird, sind das Signale, über die man sich als Eltern Gedanken machen sollte.

Was raten Sie Kindern und Jugendlichen, die sich seelisch aktuell nicht so wohlfühlen? Wo sollen sie sich Hilfe suchen?

Romanos: Mir ist in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass der Hygieneauflagen die stationäre und ambulante Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie - und übrigens auch im Erwachsenen-Bereich - jederzeit gesichert war und ist.

Wir haben teilweise auch auf digitale Verfahren umgestellt, da ist sehr viel möglich und wird gerade auch von Jugendlichen sehr gut angenommen.

Kurzum: Jeder, der für sich oder sein Kind Hilfe sucht, kann sich an die niedergelassenen oder Klinik-Kollegen wenden.

Jeder, der Hilfe braucht, bekommt sie auch.

Wird die Zahl der Heranwachsenden, die künftig psychologische oder psychiatrische Hilfe benötigt, wegen Corona steigen?

Romanos: Ich bin bei solchen Prognosen sehr vorsichtig. Ich habe etliche Berichte gelesen, in denen Kollegen gesagt haben, die Kliniken würden jetzt voller - ja, das stimmt, aber das ist jedes Jahr so und hat mit Corona eher nichts zu tun.

Vor Weihnachten werden die Plätze in den Kliniken in den Kinder- und Jugendpsychiatrien immer knapp, genauso wie die Zahlen der Patientinnen und Patienten kurz nach Beginn eines neuen Schuljahres zunimmt.

Also gibt es gar keinen Corona-Faktor?

Romanos: Das wissen wir bislang schlichtweg nicht. Und deshalb erforschen wir es. Zusammen mit dem Robert Koch-Institut haben wir die "Corona Health"-App entwickelt. Die ist kostenlos - und jeder, der mitmacht, kann dort angeben, wie es ihm im Verlauf der Pandemie geht.

Dabei werden keine Standortdaten oder ähnliches erfasst, es geht rein um die eigene Einschätzung des persönlichen Befindens. So wollen wir herausfinden, wie die aktuellen Anti-Corona-Maßnahmen als Belastung empfunden werden und ob sich mittel- und langfristig aus der Belastung psychische Probleme entwickeln.

Teenager empfinden die Beschränkungen beim Thema "Verlieben" - Stichwort: Abstandhalten - sicher als Belastung...

Romanos: Ja, das mag im Einzelfall so sein. Aber die Pubertät ist doch bei allen und schon immer eine Zeit gewesen, die mit Verwirrungen und Frustrationserlebnissen verbunden ist. Und das gehört auch dazu, weil man vieles ausprobiert und Erfahrungen sammeln muss.

Die erste enttäuschte große Liebe ist immer die schlimmste, daran kann sich wohl fast jeder noch selbst erinnern. Ich bin mir außerdem sehr sicher: Die, die sich treffen wollen, finden auch jetzt Mittel und Wege. Kontakte sind ja auch nicht komplett verboten - da geht schon was...

Ihr abschließender Tipp: Wie kommen wir alle seelisch gut durch diese zweite Welle mit ihren sozialen Einschränkungen?

Romanos: Raus an die frische Luft und ans Tageslicht! Es ist wichtig, sich nicht sozial einzugraben oder im Bett liegenzubleiben. Aufstehen, bestehende Kontakte auf digitalem Weg aufrecht erhalten, dem Leben trotz veränderter Rahmenbedingungen eine Struktur geben.

Corona ist aber, das muss man auch sagen, nicht immer nur ein "Problem" fürs Miteinander. Ich weiß von vielen Familien, die ihre schon jahrelang nicht mehr verwendeten Brettspiele wieder auspacken. Viele haben heute dank Videokonferenzen und Co. sogar wieder mehr Kontakt zu Oma und Opa. Auch das muss man sehen.