Wer nach sieben Corona-Monaten längst lässig mit I(-nzidenz) - und R(eproduktions)-Werten jongliert und angesichts der neuen Infektionskurve in den letzten Tagen endgültig begriffen hat, was exponentielles Wachstum bedeutet, darf sich gern mal an einem anderen politischen Rechenkunststück versuchen: dem Existenzminimum.

Diesen Herbst ist es wieder soweit: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) rechnet aus, was ein Mensch in Deutschland ab 1. Januar 2021 mindestens zum (Über-)Leben braucht.

Vermischung von zwei Rechenmodellen

Die Rechenmethode sieht vereinfacht so aus: Man ermittelt die monatlichen Ausgaben der 15 einkommensschwächsten Prozent aller Haushalte und bildet aus dieser Summe einen Durchschnittswert: Das wäre dann nach dem Statistikmodell das Existenzminimum.

Doch bei diesem Betrag bleibt es nicht: Ans Statistik- wird nun noch das Warenkorbmodell drangeflanscht – ein Vorgehen, das Ökonomen als unzulässige Vermischung zweier gegensätzlicher Berechnungsmethoden kritisieren. Einzelne Posten, die nach Überfluss riechen, zieht das Bundesministerium also vom Mittelwert ab: Adventskranz, Geburtstagssekt, Blumenstrauß, etc.p.p.

Was dann noch übrig bleibt, das ist das Existenzminimum. Bei seiner Sitzung 2018 in Genf hatte der UN-Sozialausschuss seinen deutschen Vertragspartner ermahnt, dass eine gesellschaftliche Teilhabe der Leistungsbezieher damit kaum möglich sei, Armut zementiert und Bildungschancen geraubt werden.

Corona vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich

Viele Studien und, ganz konkret, die letzten Monate haben gezeigt, dass das stimmt: Während des ersten Corona-Lockdowns wurden arme Haushalte stärker durch Kündigungen, Kurzarbeit und gestiegene Lebenskosten belastet; Kinder aus diesen Haushalten hatten weniger Möglichkeiten, im Distanzunterricht Schritt zu halten. Corona, so viel scheint jetzt schon klar, vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich im Land.

Leider schrumpfen in der Pandemie aber die Einnahmen der Kommunen. Trotzdem geben Bund, Länder und Gemeinden Milliarden aus, um die Folgen der Krise zu dämpfen.

Wie lange unter diesen Umständen der Sozialstaat noch wie gewohnt agieren könne, fragte sich der Präsident des bayerischen Gemeindetags anlässlich seiner Wiederwahl am 14. Oktober. "Es ist höchste Zeit, die Fülle an sozialen Wohltaten zu durchforsten", befand Uwe Brandl (CSU), erster Bürgermeister von Abensberg in Niederbayern.

Uff. So berechtigt die Feststellung ist, dass man nicht mehr ausgeben kann, als man einnimmt, so fatal ist Brandls Aussage in ihrer Konsequenz, siehe oben.

Mehr Geld für die Helden des Alltags?

Denn statt nun bei jenen noch mehr zu kürzen, die ohnehin schon nicht genug haben, müsste man das untere Ende der Einkommensskala anheben: Regelsätze, Mindestlöhne, Existenzminimum und dazu Beratungs- und Fortbildungsangebote – alles rauf, damit sich Motivation, Einsatz und Arbeit lohnen und auch einfache Tätigkeiten honoriert und respektiert werden.

Pflegekräfte, Supermarktkassiererinnen, LKW-Fahrer, die Helden des Alltags? Lang, lang ist´s her. Längst werden Extra-Zahlungen und Tarifforderungen wieder genauso hart um- und bekämpft, wie vor der Viruskrise.

Angeblich bietet Corona die Möglichkeiten zur Zäsur: mehr Solidarität in der Gesellschaft, mehr umweltfreundliche Technik, mehr Gerechtigkeit im Wirtschaftssystem. Es scheint allerdings so, als hätte gerade niemand Zeit, diese Kehrtwenden einzuläuten.

Vielleicht müssten die Rathauschefs der Nation Druck machen in ihren Parteien und in Berlin, damit sich etwas an Steuergesetzen und Berechnungsmethoden ändert. Damit das viele Geld, das es ja gibt in Deutschland, endlich gerechter verteilt wird. Nicht von unten nach oben. Sondern andersrum.